Das Abenteuer meiner Jugend

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Zweites Kapitel

Mein El­tern­haus hat­te zwei Da­seins­for­men, die so von­ein­an­der ver­schie­den wa­ren wie voll und leer, Wär­me und Käl­te, Lärm und Stil­le, Le­ben und Tod. Da­mit ist nur das Ge­bäu­de, der Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne ge­meint, der dem Ver­kehr nur im Som­mer ge­öff­net war und im Win­ter ge­schlos­sen blieb.

Ende April be­zog ihn zu­nächst ein recht zahl­rei­ches Per­so­nal: Kö­che, Kü­chen­mäd­chen, Haus­mam­sell, so­ge­nann­te Schleu­ße­rin­nen, Ober­kell­ner, Kell­ner und ei­ni­ge Haus­die­ner. Dann füll­ten sich bald alle Zim­mer mit Kur­gäs­ten.

Für den Gast­hof also war das die le­ben­di­ge, der Win­ter die tote Zeit, für die Fa­mi­lie da­ge­gen war der Som­mer die tote, der Win­ter die le­ben­di­ge. Va­ter und Mut­ter ge­hör­ten som­mers der Öf­fent­lich­keit, sie wa­ren den Win­ter über Pri­vat­leu­te.

Die zwei­te Da­seins­form mei­nes Ge­burts­hau­ses ver­band sich am tiefs­ten mit mei­nem We­sen und präg­te es in frü­hen, ent­schei­den­den Zei­ten aus. In die­ser stil­len, lee­ren Ver­fas­sung ge­hör­te das Haus uns, im Som­mer war es uns gänz­lich ent­zo­gen und uns Kin­dern auch Va­ter und Mut­ter. Sie ge­hör­ten mit al­lem, in al­lem der Öf­fent­lich­keit.

Die Quel­le, der Brun­nen war ei­nes der ewi­gen The­men am win­ter­li­chen Fa­mi­li­en­tisch. In ei­nem Um­kreis, des­sen Ra­di­us un­ge­fähr hun­dert Me­ter be­tra­gen moch­te, tra­ten die Heil­quel­len Ober-Salz­brunns, also die Salz­brun­nen Salz­brunns, ans Ta­ges­licht. Als der ers­te der Ober­brun­nen. Ge­gen­über der Fassa­de uns­res Gast­hofs lag der präch­ti­ge Saal, den man über sei­ner Mün­dung er­rich­tet hat­te. An der Salz­bach ver­bor­gen, zu er­rei­chen auf ei­nem na­hen, schwan­ken­den Bret­ter­steg, lag der Mühl­brun­nen. Er wur­de zu Kur­zwe­cken nicht be­nutzt und war der Be­völ­ke­rung frei­ge­ge­ben. Und, o Wun­der! die drit­te der Quel­len ge­hör­te uns. Ihr um­mau­er­ter Spie­gel lag in­ner­halb der Fun­da­men­te uns­res Gast­hofs. An Heil­kraft dem welt­be­kann­ten Ober­brun­nen gleich, war doch ihr Da­sein da­mals un­be­ach­tet und ruhm­los. Ihr Was­ser wur­de durch eine Pum­pe aus Guß­ei­sen von den gleich­gül­ti­gen Fäus­ten der Kut­scher und Knech­te für den Be­darf der Pfer­de­stäl­le her­auf­ge­holt. Auch wur­de der Ab­wasch da­von be­strit­ten. Noch im Be­reich mei­ner Kna­ben­jah­re ist dann eine vier­te Quel­le auf un­serm Nach­bar­grund­stück ent­deckt wor­den.

*

Ich dan­ke es mei­nem Va­ter, dass er mir, dem Flüg­ge­ge­wor­de­nen, we­der einen Fa­den ans Bein ge­bun­den, noch mich ei­nem Auf­pas­ser, ei­nem Prä­zep­tor, über­ant­wor­tet hat. Un­be­hin­dert durf­te ich aus­schwär­men. Das Ers­te und Nächs­te, etwa im spä­ten Herbst, war ein aus­ge­stor­be­ner tem­pel­ar­ti­ger Bau, der som­mers als Wan­del­hal­le diente. Dort freu­te ich mich an dem Hal­len mei­ner Trit­te, wenn ich aus Freu­de an der Wie­der­ge­burt nach dem Schlaf auf und ab rann­te. Die­se of­fe­ne do­ri­sche Archi­tek­tur, schlecht­hin die Ko­lon­na­de ge­nannt, ge­währ­te mir auch bei schlech­tem Wet­ter freie Be­we­gungs­mög­lich­keit, wie som­mers bei plötz­li­chen Re­gen­güs­sen den Kur­gäs­ten. Ei­nen bes­se­ren, schö­ne­ren und auch ge­sün­de­ren Spiel­platz als die­sen, der mir zu­dem ganz al­lein ge­hör­te, gab es nicht.

Vom Spiel lief ich in den an­sto­ßen­den Brun­nen­saal hin­ab, der im­mer of­fen war, und ließ mir an ei­ner lan­gen Stan­ge von ei­nem der Brun­nen­schöp­fer ein Glas in die kreis­rund um­mau­er­te Tie­fe tau­chen, den pri­ckeln­den Brun­nen schöp­fen und her­auf­ho­len. Sie ta­ten es im­mer mit Freund­lich­keit und Be­reit­wil­lig­keit.

Mit der Zeit erst be­griff ich, dass ich ei­ni­ger­ma­ßen be­vor­zugt war.

Der Va­ter mei­ner Mut­ter war obers­ter Lei­ter des Ba­de­orts. Er führ­te den Ti­tel Brun­nen­in­spek­tor, so­dass auch von die­ser Sei­te der Be­griff des Brun­nens sei­ne schick­sal­haf­te Be­deu­tung in un­serm Hau­se be­haup­te­te. Üb­ri­gens hieß ein herr­schaft­li­ches Ge­bäu­de in den Pro­me­na­den der Brun­nen­hof, ein Haus, das mein Va­ter ge­pach­tet hat­te.

Der Platz zwi­schen dem Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne und der Ko­lon­na­de, ge­nannt Eli­sen­hal­le, war Zen­trum des Orts. Er wur­de au­ßer­dem noch be­grenzt vom Ba­de­ver­wal­tungs­ge­bäu­de, in dem mein Groß­va­ter Fer­di­nand Straeh­ler, eben der Brun­nen­in­spek­tor, am­tier­te. Auf die­sem Plat­ze hat­ten sich einst mei­ne mi­li­tä­ri­schen Ein­drücke we­sent­lich zu­sam­men­ge­drängt: der Ös­ter­rei­cher mit dem blu­ti­gen Tuch um den Hals, Ge­fan­ge­ne, ras­ten­de Trup­pen und ihre zu­sam­men­ge­stell­ten Ge­weh­re. Hier han­del­ten mei­ne Brü­der ge­gen al­ler­lei Tau­sch­ob­jek­te Kom­miss­brot ein, von hier aus führ­te der gra­de Weg bis zu ei­nem Aus­flugs­ort, der Schwei­ze­rei, den mei­ne Brü­der im Jah­re 66 un­zäh­li­ge Male zu­rück­leg­ten, um, wie schon ge­sagt, jene Ge­fan­ge­nen und Ver­wun­de­ten zu be­treu­en, die man dort­hin ge­legt hat­te. Hier, ne­ben der brei­ten Freitrep­pe, vor dem Gie­bel der Eli­sen­hal­le, vor und un­ter den Ba­sen der do­ri­schen Säu­len, saß auch im Win­ter eine alte knus­per­he­xen­ar­ti­ge Ku­chen­frau, die aus vie­len Grün­den, auch dem der un­um­gäng­li­chen kind­li­chen Nä­sche­rei, nicht aus mei­ner Kind­heit hin­weg­zu­den­ken ist. Von die­sem Platz trat man in die Kur­pro­me­na­den und in den Brun­nen­saal, hier mün­de­te der so­ge­nann­te Pap­pel­berg, eine stei­gen­de Pap­pel­al­lee, die nach Wil­helms­höh führ­te, ei­nem ro­man­ti­schen Burg­bau, dem haupt­säch­lichs­ten Aus­flugs­ort.

*

Der durch Jah­re vor­aus­ge­wor­fe­ne Schat­ten des ers­ten Schul­tags ver­dich­te­te sich. Ei­nes Ta­ges nach Weih­nach­ten sag­te mei­ne Mut­ter zu mir: »Wenn das Früh­jahr kommt, musst du in die Schu­le. Ein erns­ter Schritt, der ge­tan wer­den muss. Du musst ein­mal still­sit­zen ler­nen. Und über­haupt musst du ler­nen und ler­nen, weil auf an­de­re Wei­se nur ein Tau­ge­nichts aus dir wer­den kann.«

Also du musst! du musst! du musst!

Ich war sehr be­stürzt, als mir die­se Er­öff­nung ge­macht wur­de. Dass ich erst et­was wer­den sol­le, da ich doch et­was war, be­griff ich nicht. War ich doch völ­lig eins mit mir! Nur im­mer so wei­ter zu sein und zu le­ben war der ein­zi­ge, noch fast un­be­wuss­te Wunsch, in dem ich be­ruh­te. Frei­heit, Stil­le, Freu­de, Selbst­herr­lich­keit: warum soll­te man et­was an­de­res wol­len? Die klei­nen Gän­ge­lun­gen der El­tern stör­ten die­sen Zu­stand nicht. Woll­te man mir die­ses Le­ben weg­neh­men und da­für ein Sol­len und Müs­sen set­zen? Woll­te man mich ver­sto­ßen aus ei­ner so voll­kom­men schö­nen, mir so voll­kom­men an­ge­mes­se­nen Da­seins­form?

Ich be­griff die­se Sa­che im Grun­de nicht.

Et­was auf an­de­re Wei­se zu ler­nen als die, wel­che mir halb be­wusst ge­läu­fig war, hat­te ich we­der Lust, noch fand ich es zweck­mä­ßig. War ich doch durch und durch Ener­gie und Hei­ter­keit. Ich be­herrsch­te den Dia­lekt der Stra­ße, so wie ich das Hoch­deutsch der El­tern be­herrsch­te. Erst heu­te weiß ich, welch eine gi­gan­ti­sche Geis­tes­leis­tung hier­in be­schlos­sen ist und dass sie, ge­schwei­ge von ei­nem Kin­de, nicht zu er­mes­sen ist. Spie­lend und ohne be­wusst ge­lernt zu ha­ben, han­tier­te ich mit al­len Wor­ten und Be­grif­fen ei­nes um­fas­sen­den Le­xi­kons und der da­zu­ge­hö­ri­gen Vor­stel­lungs­welt.

Ob ich mich nicht wirk­lich viel­leicht ohne Schu­le schnel­ler, bes­ser und rei­cher ent­wi­ckelt hät­te?

Vi­el­leicht aber war das Schlimms­te ein See­len­schmerz, den ich emp­fand. Mei­ne El­tern muss­ten doch wis­sen, was sie mir an­ta­ten. Ich hat­te an ihre un­end­li­che, ufer­lo­se Lie­be ge­glaubt, und nun lie­fer­ten sie mich an et­was aus, ein Frem­des, das mir Grau­en er­zeug­te. Glich das nicht ei­nem wirk­li­chen Auss­to­ßen? Sie ga­ben zu, sie be­für­wor­te­ten es, dass man mich in ein Zim­mer sperr­te, mich, der nur in frei­er Luft und frei­er Be­we­gung zu le­ben fä­hig war, – dass man mich ei­nem bö­sen al­ten Mann aus­lie­fer­te, von dem man mir er­zählt hat­te, was ich spä­ter ge­nug­sam er­leb­te: dass er die Kin­der mit der Hand ins Ge­sicht, mit dem Stock auf die Hand­tel­ler oder, so­dass rote Schwie­len zu­rück­b­lie­ben, auf den ent­blö­ßten Hin­tern schlug!

*

Der ers­te Schul­tag kam her­an. Der ers­te Gang zur Schu­le, den ich, an wes­sen Hand weiß ich nicht mehr, un­ter Furcht und Za­gen zu­rück­leg­te. Es schi­en mir da­mals ein un­end­lich lan­ger Weg, und so war ich denn recht er­staunt, als ich ein hal­b­es Jahr­hun­dert spä­ter das alte Schul­haus such­te und nur des­halb nicht fand, weil es aus dem Fens­ter der al­ten Preu­ßi­schen Kro­ne so­zu­sa­gen mit der Hand zu grei­fen war.

Un­ter­wegs gab es Verzweif­lungs­auf­trit­te, die nach vie­lem gu­tem Zu­re­den mei­ner Beglei­te­rin, und nach­dem sie mich an der Schul­tür un­ter den dort ver­sam­mel­ten Kin­dern al­lein ge­las­sen hat­te, dump­fe Er­ge­bung ab­lös­te.

Es gab eine kur­ze War­te­zeit, in der sich die klei­nen Lei­dens­ge­nos­sen tas­tend mit­ein­an­der be­kannt mach­ten. Im Haus­flur der Schu­le zu­sam­men­ge­pfercht, pirsch­te sich ein klei­ner Pix an mich her­an und konn­te sich gar nicht ge­nug tun in Ver­su­chen, die Angst zu stei­gern, die er bei mir mit Recht vor­aus­setz­te. Die­se klei­ne schmut­zi­ge Mil­be und Rotz­na­se hat­te mich zum Op­fer ih­res sa­dis­ti­schen In­stink­tes aus­ge­wählt. Sie schil­der­te mir das Schul­ver­fah­ren, das sie eben­so­we­nig kann­te wie ich, in­dem sie den Leh­rer als einen Fol­ter­knecht dar­stell­te und sich an dem gläu­bi­gen Aus­druck mei­nes angst­voll ver­wein­ten Ge­sichts wei­de­te. »Er haut, wenn du sprichst«, sag­te der klei­ne Lau­se­kerl. »Er haut, wenn du schweigst, wenn du nie­sen musst. Er haut dich, wenn du die Nase wischst. Wenn er dich ruft, so haut er schon. Pass auf, er haut, wenn du in die Stu­be trittst.«

 

So ging es, ich weiß nicht wie lan­ge, fort, mit den Wor­ten und Wen­dun­gen des Volks­dia­lekts, in dem man sich auf der Stra­ße aus­drückt.

Eine Stun­de da­nach war ich wie­der zu Haus, aß mit den El­tern ver­gnügt und re­nom­mis­tisch das Mit­tag­brot und stürz­te mich mit ver­dop­pel­ter Lust ins Freie, in die noch lan­ge nicht ver­lo­re­ne Welt mei­ner kind­li­chen Un­ge­bun­den­heit.

Nein, die Dorf­schu­le mit dem al­ten, im­mer miss­ge­laun­ten Leh­rer Bren­del zer­brach mich nicht. Kaum wur­de mir et­was von mei­nem Le­bens­raum und mei­ner Frei­heit weg­ge­nom­men und gar nichts von mei­ner Le­bens­lust.

Drittes Kapitel

Der Ge­bäu­de­kom­plex des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne war im Lau­fe der Zei­ten durch An­bau­ten ent­stan­den. Schwer zu sa­gen, wel­cher sei­ner Tei­le mir zu­erst zu Be­wusst­sein ge­kom­men ist. Ich hat­te wohl erst ein all­ge­mei­nes Ge­fühl sei­ner Uner­gründ­lich­keit. In­so­weit blieb er mir lan­ge un­heim­lich. Ich den­ke auch hier an die Win­ter­zeit. Da war zu­nächst un­ser Win­ter­quar­tier im ers­ten Stock. Es wa­ren die Säle: der so­ge­nann­te Gro­ße Saal und der so­ge­nann­te Klei­ne Saal und end­lich der so­ge­nann­te Blaue Saal, der in Wahr­heit der kleins­te war. Da war fer­ner das Erd­ge­schoss: ein Schnitt­wa­ren­la­den lag dar­in, eine ver­pach­te­te, dem Stra­ßen­be­trieb of­fe­ne Bier­stu­be, die Woh­nung des Fuhr­werks­be­sit­zers Krau­se und die Kro­nen­quel­le, von der schon ge­spro­chen wur­de. Das Haupt­haus, der Klei­ne Saal, die Stal­lun­gen bil­de­ten und um­fass­ten drei­sei­tig einen Hof, des­sen vier­te Sei­te nach der Stra­ße of­fen war. Der Klei­ne Saal aber wur­de von gra­ni­te­nen Pfei­lern, so­ge­nann­ten »Säu­len«, ge­tra­gen. Den un­ter ihm ver­füg­ba­ren Wirt­schafts­raum be­zeich­ne­te man schlecht­hin als Un­term Saal. Über un­serm Win­ter­quar­tier lag ein zwei­ter Stock, wo wir Kin­der, som­mers vom Frem­den­be­trieb zu­rück­ge­drängt, in klei­nen Schlafräu­men un­ser ver­ges­se­nes Da­sein fris­te­ten. Schließ­lich war das Bo­den­ge­schoss mit den Dach­kam­mern ein be­son­de­res Mys­te­ri­um.

Un­ter die­sen war eine, die so­ge­nann­te Sie­ben­kam­mer, die für uns Kin­der einen un­heim­lich-heim­li­chen Reiz be­saß, ob­gleich sie in Wahr­heit nichts an­de­res als die satt­sam be­kann­te Rum­pel­kam­mer sein woll­te. Wir hät­ten uns schwer­lich im Dun­keln hin­ein­ge­traut. Sonst aber über­traf ihre An­zie­hungs­kraft bei Wei­tem die Furcht, die uns im Ge­dan­ken an sie an­wan­del­te. Auch war die­se Furcht sel­ber an­zie­hend, gleich je­nem Gru­seln, das der Hand­werks­bur­sche im Mär­chen durch­aus ler­nen woll­te.

Al­tes zer­bro­che­nes oder weg­ge­wor­fe­nes Spiel­zeug von Ge­ne­ra­tio­nen war dar­in in un­ent­wirr­ba­rer, ver­staub­ter Men­ge auf­ge­häuft: Gum­mi­bäl­le, Pup­pen, Haus­rat von Pup­pen­stu­ben, Ham­pel­män­ner, Pfer­de und Fracht­wa­gen, Tei­le von Schä­fe­rei­en und Me­na­ge­ri­en, Schau­kel­pfer­de, und so fort und so fort.

Al­le­dem hauch­te der kind­li­che Geist be­son­ders im lan­gen Dun­kel der Win­ter­ta­ge fan­tas­ti­sches Le­ben ein. So war denn die Sie­ben­kam­mer – und ist es mir in ge­wis­sem Sin­ne noch heu­te – der Ort, wo auf ge­heim­nis­vol­le Wei­se Ko­bol­de, Feen, Knus­per­he­xen und Zau­be­rer, Hel­den und Men­schen­fres­ser sich Ren­dez­vous ga­ben und durch die Dach­lu­ke nachts beim Mond­schein aus und ein flo­gen. Ich brauch­te nur an sie zu den­ken, um ih­rem Mär­chen­zau­ber, ih­rer gren­zen­lo­sen Ma­gie mit der un­end­li­chen, bun­ten Viel­falt ih­rer Ge­stal­ten an­heim­zu­fal­len. Gehe ich fehl, wenn ich in ihr eine der wich­tigs­ten Rät­sel­quel­len mei­ner spä­te­ren Fa­bu­lier­lust sehe?

Das Win­ter­quar­tier im ers­ten Stock be­stand aus fünf zu­sam­men­hän­gen­den Stu­ben, wel­che die Num­mern drei bis sie­ben als Tür­schil­der hat­ten. So spra­chen wir Kin­der von der Drei, der Vier, der Fünf, der Sechs und der Sie­ben. Und mit je­der die­ser Zah­len ver­bin­det sich noch heut für mich die Vor­stel­lung ei­nes be­son­ders be­seel­ten Raums. Von al­len strahl­te die Vier viel­leicht die meis­te herz­li­che Wär­me aus, die Fünf und die Sechs wa­ren nicht so trau­lich. Der Cha­rak­ter der klei­nen Sie­ben hat­te sei­ne Be­son­der­heit. Es wa­ren dar­in Rou­le­aus, auf de­nen bun­te Spa­nie­rin­nen mit Frucht­kör­ben auf den Köp­fen zu se­hen wa­ren.

Die See­len die­ser fünf Räu­me tau­chen noch heut ge­le­gent­lich in mei­nen Träu­men auf, mit man­cher­lei an­de­ren Ele­men­ten ver­bun­den.

Die Tür der Sie­ben war der Ab­schluss ei­nes län­ge­ren Gangs, dem Fens­ter nach dem Hofe Licht ga­ben. Da­ge­gen hat­te ein klei­ner Al­ko­ven, in dem win­ters Va­ter, Mut­ter und ich schlie­fen, nur ein Fens­ter nach die­sem Flur hin­aus.

Ein oder zwei Win­ter aus­ge­nom­men, hat sich das Le­ben der Fa­mi­lie haupt­säch­lich in die­sem Teil des Hau­ses ab­ge­spielt.

Ich sag­te schon, dass mein sonst stren­ger Va­ter mir eine au­ßer­ge­wöhn­li­che Be­we­gungs­frei­heit zu­bil­lig­te, was von Ver­wand­ten und Freun­den viel­fach ge­rügt wur­de. Un­ge­bun­den und über­all neu­gie­rig ging ich dem­nach auf Ent­de­ckungs­fahr­ten aus und wuss­te bald über je­den Win­kel des Hau­ses Be­scheid. Fast täg­lich durch­streif­te ich alle Stock­wer­ke, war da­heim in Gar­ten und Hof, kann­te die ent­le­gens­ten Räu­me, von de­nen ei­ni­ge selt­sam ge­nug und hin­rei­chend un­heim­lich wa­ren.

Das lei­den­schaft­li­che Le­ben, dem ich da­mals un­ter­lag und das mei­nen zar­ten Or­ga­nis­mus wie ein über­star­ker elek­tri­scher Strom be­wegt ha­ben muss, er­klärt sich nur durch eine un­ge­dul­di­ge Le­bens­gier, die über­all et­was zu ver­säu­men fürch­te­te. »Ger­hart, ren­ne doch nicht so!« sag­te mei­ne Mut­ter. – »Rase doch nicht im­mer so!« sag­te mein Va­ter. – »Du rennst dir die Schwind­sucht an den Hals!« mahn­te mein On­kel Straeh­ler, der schö­ne, von den Da­men ver­göt­ter­te Ba­de­arzt, wo er im Frei­en mei­ner an­sich­tig wur­de. Frau Krau­se, Frau des Fuhr­werks­be­sit­zers im Erd­ge­schoss, die ro­bus­te Bau­ers­frau, hielt sich wie­der und wie­der die Ohren zu und sag­te da­bei: »Hör auf, hör auf, dein Schrei­en macht mich ver­rückt, Jun­ge!«

Der Wahr­heit ge­mäß wäre viel­leicht zu sa­gen, dass ich um jene Zeit im­mer­hin ein wohl­ge­ar­te­ter, aber kein wohl­er­zo­ge­ner Jun­ge ge­we­sen bin, dazu war ich zu wild und zu frei auf­ge­wach­sen. Wie man­chem mag ich durch lär­mi­ges Ge­ba­ren, Ren­nen, Schrei­en und An­sprü­che al­ler Art läs­tig ge­wor­den sein! Ich bin auch nicht all­zu sau­ber ge­we­sen. Die künst­li­chen Sit­ten der el­ter­li­chen Bür­ger­zim­mer konn­ten den na­tür­li­chen Un­sit­ten der Stra­ße und des so­ge­nann­ten nie­de­ren Vol­kes nicht stand­hal­ten. Ein nor­di­sches Kind ohne Schnup­fen im Win­ter gibt es nicht, und der Stra­ßen­jun­ge, der mein be­wun­der­tes Mus­ter war, wird sich die Nase nur mit dem Är­mel put­zen, wenn er es nicht tech­nisch voll­kom­men mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger nie­send tut. Da­her hat­te ich mei­nen blan­ken Är­mel, zu­nächst den rech­ten, den an­de­ren erst, wenn die­ser nicht aus­reich­te.

Frau Greu­lich hieß eine alte Weiß­näh­te­rin, die win­ters über bei uns ar­bei­te­te. Die gute Frau war ent­setzt und herrsch­te mich manch­mal heim­lich ent­rüs­tet an, wenn ich ohne Är­mel und Ta­schen­tuch den Fluss der Nase durch un­un­ter­bro­che­nes Luf­tein­zie­hen er­folg­los zu hem­men such­te.

Erkner, ein Vo­r­ort von Ber­lin, wo ihr ver­stor­be­ner Mann Bahn­be­am­ter ge­we­sen war, hat­te üb­ri­gens die bes­te Zeit im Le­ben die­ser Frau ge­se­hen. Im­mer, fast täg­lich, sprach sie da­von. Sie ahn­te nicht, und ich ahn­te nicht, wel­che Be­deu­tung die­ser Ort etwa fünf­zehn Jah­re da­nach auch für mein Le­ben er­hal­ten soll­te.

*

Wenn Som­mer und Win­ter zwei ganz ver­schie­de­ne Le­bens­for­men des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne be­deu­te­ten, frei­lich nicht ohne Zu­sam­men­hang, so kann ich noch heu­te wie als Kind völ­lig ge­trenn­te Wel­ten un­ter­schei­den, in­ner­halb sei­ner Mau­ern so­wohl als auf dem da­zu­ge­hö­ri­gen Grund.

Die Bür­ger­zim­mer ers­tens um­schlos­sen win­ters das Fa­mi­li­en­le­ben und da­mit die Wohl­er­zo­gen­heit. Die Säle im glei­chen Stock­werk wie­sen ge­wis­ser­ma­ßen fei­er­lich in eine frem­de Welt hö­he­rer Le­bens­form. Im Blau­en Saal stand das Kla­vier. Gel­be Ma­ha­go­ni­pols­ter­mö­bel schmück­ten die­sen Raum und die le­bens­großen, gold­ge­rahm­ten Öl­bild­nis­se Kö­nig Wil­helms und sei­ner Ge­mah­lin Au­gus­ta in gan­zer Fi­gur. Hier hat­ten die mon­ar­chi­schen Ge­füh­le mei­nes Va­ters ih­ren Aus­druck ge­fun­den. Eine Ko­pie der Six­ti­ni­schen Ma­don­na in Ori­gi­nal­grö­ße be­herrsch­te den an­de­ren, den Gro­ßen Saal, des­sen noch ver­füg­ba­re zwei­te Wand eine Ko­pie der Kreuz­ab­nah­me Rem­brandts trug, den mein Va­ter, nach der Fül­le der Rem­brandt­ko­pi­en im Klei­nen Saal zu schlie­ßen, be­son­ders ge­schätzt ha­ben muss.

Ich be­grei­fe noch heu­te schwer, wie man in der sa­kra­len At­mo­sphä­re des Gro­ßen Saa­l­es spei­sen und harm­los plau­dern konn­te.

Dicht an die Säle stie­ßen dann Kü­che, Wasch­kü­che und Hin­ter­hof, die eine ganz an­de­re Welt dar­stell­ten und die im we­sent­li­chen den un­ab­weis­ba­ren Be­dürf­nis­sen des Ma­gens und des Bau­ches zu die­nen hat­ten. Es kam her­nach die Welt Un­term Saal, die zwar als ein Teil des Ho­fes an­zu­se­hen ist, aber ei­ge­ne Funk­tio­nen hat­te. So lag die Kut­scher­stu­be dort und die Putz­stu­be der Haus­knech­te, be­son­ders aber wirk­te sich hier der Be­trieb des Wein­kel­lers mit Fla­schen­wa­schen, Fäs­ser­rei­ni­gen und der­glei­chen re­gen­si­cher aus.

*

Von den Sä­len zur Kut­scher­stu­be war ein großer Schritt. In ei­nem fens­ter­lo­sen Raum blak­te all­zeit eine Öl­fun­zel, es herrsch­te kei­ne Sau­ber­keit, es roch nach Bier, Fu­sel und Spei­se­res­ten. Die­se Kut­scher­stu­be war eine Dreck­bu­de, wo aber doch viel Be­ha­gen, Ge­läch­ter, der­bes Flu­chen und Kar­ten-auf-den-Tisch-Hau­en in je­nem nie­der­län­di­schen Stil laut wur­de, der sich auf man­chem Osta­de des Klei­nen Saals er­schloss. Im Gie­bel des Hau­ses ebener­dig nach der Stra­ße hin­aus lag noch die Bier­stu­be, die Schwem­me, wie man in Ös­ter­reich sagt, de­ren Tür auf die Gas­se ging und die zeit­wei­lig Schau­spie­ler Erm­ler ge­pach­tet hat­te. Sie war ein ma­nier­lich volks­tüm­li­cher Auf­ent­halt, der ge­le­gent­lich auch wohl von den Ho­no­ra­tio­ren des Orts be­sucht wur­de.

Der Hin­ter­gar­ten war das Ge­biet, wo man sich in der un­ge­bun­dens­ten Wild­heit aus­tob­te. Der große Dün­ger­hau­fen der Pfer­de­stäl­le be­fand sich dort, der Eis­kel­ler, um den her­um es sehr übel nach Schlacht­haus roch, aber auch ein Warm­haus, des­sen Pal­men, Lor­beer- und Fei­gen­bäu­me und sel­te­ne Blu­men mir die ers­te Bot­schaft ei­ner schö­nen süd­li­chen Welt brach­ten.

Der Schnitt­wa­ren­la­den aber von Sand­berg, in der Front des Ho­tels, at­me­te eine vor­neh­me Stil­le. Der grau­be­haar­te Schei­tel des al­ten In­ha­bers, auf dem al­le­zeit ein ge­stick­tes Käpp­chen saß, sein mil­der Ernst, sei­ne selt­sa­me Spra­che und man­ches, was man mir von ihm er­zählt hat­te, da er Vor­ste­her der Salz­brun­ner jü­di­schen Ge­mein­de war, er­füll­ten mich mit ei­nem Re­spekt, in dem sich Be­frem­den und Neu­gier misch­ten.