Frouzan und der Priester

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1959 eröffnete in Teheran das erste Kaufhaus nach westlichem Vorbild. Ein Jahr später wurde eine deutsche Industrieausstellung in Teheran abgehalten. In jüdischen und armenischen Läden konnten »Ungläubige« und etwas vorsichtiger »Gläubige« iranisches Bier deutscher Braumeister, heimischen Wodka aus Gouchan und ausländische Alkoholika zu teuren Preisen kaufen. Mit Beginn des Düsenzeitalters ersetzte man den alten Flughafen durch einen hochmodernen Neubau, Mehrabad. Man sprach von der »Weißen Revolution«, mit der unter anderem eine Landreform und das Frauenwahlrecht eingeführt worden waren.

Mehr und mehr beherrschte westlicher Konsumgeist das Leben in den Großstädten und sogenannte westliche Freiheit uferte in Wohlleben und Rücksichtslosigkeit aus. Der alte Iran geriet immer mehr in das Abseits. Die Basaris, die Betreiber der riesigen Basare im Land, verloren Einkünfte und jahrhundertealte Rechte. Sie waren es, die einmal vor nicht zu langer Zeit die Pahlavis beim Machterhalt unterstützt hatten. Jetzt misstrauten sie dem Regime und schlugen sich auf die Seite einer wachsenden Opposition in der Bevölkerung.

In Ghom, dem Sitz der höchsten Geistlichkeit, machte man sich ernsthaft Gedanken über die ungute Entwicklung. Schon sehr früh schimpfte der Ayatollah Khomeini gegen den Einfluss der gottlosen Amerikaner und auf den hörigen Shahinshah und rief nach dem Gottesstaat. Genau wie einst Mossadegh wurde auch der Störenfried Khomeini vertrieben.

Simas Vaters Denken und Handeln und das seiner Familie wurde vom Koran bestimmt. Besuchten die Eltern Sima in Teheran, waren sie nicht mit deren freizügigem Leben einverstanden. Der Vater kritisierte es vorwurfsvoll und sagte voller Überzeugung, dass Allah ein solches Leben nicht wolle und er hoffe, dass Sima ein Leben in seinem Sinn und in Befolgung des Korans führen werde.

Der große Kreis der Freunde und Geschäftspartner von Darius und Sima war eine neue Generation, aufgeschlossen und, wenn man so will, modern. Die jungen Frauen kleideten sich entsprechend und liebten die tonangebende Haute Couture aus Paris, trugen Schuhe mit hohen Absätzen aus Italien und schminkten sich gekonnt. Ihren Tschador hatten sie in den Schrank gehängt. Er wurde nur hervorgeholt und angelegt, wenn es bei öffentlichen Anlässen notwendig war. Tatsächlich vergaßen viele ihren Glauben oder nahmen ihn nicht mehr so ernst.

Während der Besuche ihrer Eltern in Teheran kleidete sich Sima selbstverständlich sehr zurückhaltend und verzichtete auf das Make-up. So konnten sich die alte und die neue Generation problemlos begegnen.

»Darius, du bist doch mein kluger Ehemann«, stellte Sima einmal eher fragend fest.

Darius kannte seine Frau schon recht gut und ahnte, dass sich hinter einer solchen Einführung etwas verbarg. Vorsichtig und dankbar bestätigte er ihre anerkennende Annahme und fragte: »Mein Schatz, was kann ich denn für dich tun? Möchtest du mit einer Freundin verreisen? Oder besser, sag es mir doch ganz einfach.«

»Was ist der Unterschied zwischen uns und den Christen?«

Darius war überrascht.

Sie ergänzte derweil ihre Frage und präzisierte sie: »Warum hat dein Vater drei Frauen und du nur mich?«, und fragte weiter: »Warum müssen wir fünfmal am Tag beten?«

Zunächst lachte er über ihre Frage, es war ein verlegenes Lachen und er lachte nur, um Zeit für eine gute Antwort zu finden, denn die war wirklich nicht einfach. Schließlich sagte er: »Den Unterschied zwischen Christen und uns kennst du genau. Du weißt, dass Allah unser einziger Gott ist und Mohammed sein Prophet. Der hat für uns die Lebensregeln aufgestellt, an die wir uns halten müssen, und er wird uns in das Paradies führen.«

»Natürlich weiß ich das. Selbst wenn ich die uralten Gesetze hinterfrage, bin ich doch eine gläubige Muslima! Du hast aber meine Frage noch nicht richtig beantwortet.«

»Ich weiß schon, worauf du hinauswillst. Du willst doch nur von mir wissen, wann und wen ich mir als zweite und dritte Frau nehmen werde. Du hast Angst davor, dass ich neben dir noch andere lieben und mit ihnen schlafen könnte.«

»Du bist ein abscheulicher Mensch. Deine Mutter würde sich schämen, wenn sie wüsste, was sie für einen Sohn geboren hat!«

»Und du bist ein hinterhältiges Biest, mit dem zu leben ich verdammt bin!«

»Und ich werde dir zeigen, mit wem du verheiratet bist!«

Als er sie ergreifen wollte, hob sie ihre Hände und hielt ihn zurück. »Warte!«

Sie sah ihrem Mann tief in die Augen; einige Momente sah sie ihn an, so, als wollte sie ihn hypnotisieren. Ohne sich abzuwenden, schaltete sie mit der Fernbedienung ein Tonbandgerät ein, aus dem eine rhythmische, erregende Musik kam. Sie sah ihrem Ehemann noch immer in die Augen und begann ganz langsam, wiegend und hüftenschwingend, die Arme erhoben und die Hände kreisend und mit den Fingern spielend und lockend, einen Bauchtanz. So umkreiste sie ihren staunenden und überraschten Mann. Mehr und mehr erregte ihn seine wunderschöne, hinreißende Frau mit ihrem nackten Bauch und ihren Brüsten, die durch ihre leichte Bluse mehr zu sehen als verborgen waren. Sima bemerkte es und kam ihrem Mann dabei immer näher. Auch in ihren Bewegungen zeigte sich jetzt ihr eigenes, sich steigerndes Verlangen. Darius konnte sich schließlich nicht mehr beherrschen, fast stockte sein Atem. Beide konnten und wollten sich nicht mehr beherrschen und genossen voller Leidenschaft ihre Lust.

Als sie sich später beruhigt hatten, sagte er seiner Frau: »Das war so unglaublich wunderbar, Liebes, ich möchte gar nicht mehr aufstehen und nur noch bei dir liegen bleiben.«

Sima drückte sich ganz fest an ihren Mann und küsste ihn voller Liebe und Dankbarkeit, konnte sich aber trotzdem die Frage nicht verkneifen, wie denn unter diesen Umständen ihre Wünsche bezüglich Mode, Schönheitspflege, Schmuck und Reisen befriedigt würden. Er lachte und sagte ihr, wie goldig sie sei. Er kam dann aber auf ihre ursprüngliche Frage zurück.

»Jetzt möchte ich deine Frage beantworten.«

»Was denn für eine Frage? Habe ich dich etwas gefragt?«

»Ja, das hast du. Ich habe aber gespürt, dass in ihr eine gewisse Ängstlichkeit versteckt war.«

»Du meinst doch nicht etwa meine Frage nach deinen beiden anderen Ehefrauen?«

»Doch. Die meine ich, und deshalb möchte ich dir etwas erzählen. Du weißt, dass ich in Deutschland studiert habe. Nicht nur Volks- und Betriebswirtschaft habe ich studiert, sondern auch die Menschen. Menschen wie du und ich. Sie sind arbeitsam und fleißig und haben aus der Niederlage des letzten großen Krieges mit all den Zerstörungen ein neues und starkes Deutschland geschaffen. Sie haben aber noch etwas viel Wichtigeres gemacht, sie nennen es das Grundgesetz. Das löste viele diktatorische Gesetze aus der Hitlerzeit ab und ist demokratisch. Danach müssen sie jetzt leben und handeln. Es ist so etwas wie der Koran, nur ein weltliches Gesetzbuch. Für das Religiöse haben sie die Bibel, die später Mohammed studierte, der abschließend, ergänzt mit Erfahrungen, den Koran zu unserem religiösen Gesetzbuch machte.«

Sima sah ihren Mann an, der so viel wusste, und küsste ihn dankbar.

»Dieses Grundgesetz, von dem ich sprach, hat später noch einen Artikel erhalten, nach dem Mann und Frau gleichberechtigt sind. Menschlich, sozial und kulturell sind ihre Frauen also dem Mann gleichgestellt. Auch in der Ehe! Man darf nur einen Mann oder eine Frau haben. Das hat mir gefallen und danach möchte ich auch leben, mit dir, meiner einzigen Frau.«

Sima weinte. Sie weinte, weil sie von dieser Liebeserklärung überwältigt war. Sie war so unglaublich glücklich.

Später, als sie den Abend auf der Terrasse genossen, kam Sima noch einmal auf die Religion zu sprechen.

»Warum«, fragte sie, »warum darf denn dein Vater drei Ehefrauen haben und die Christen nur eine?«

Darius antwortete lachend, dass Mohammed wohl seine Geschlechtsgenossen gut gekannt und gewusst habe, wo sie viel Zeit verbrachten. »Um sie also zu Hause zu halten, erlaubte er ihnen drei Frauen und wollte so das Fremdgehen und die Prostitution unterbinden.«

»Du hast doch mit mir auch drei Frauen – oder nicht? Ich bin Ehefrau, Geliebte und sogar Animierdame. Du musst also deine Zeit nicht mit anderen Frauen verbringen. Das Geld können wir uns sparen. Abgesehen davon würde dich deine Untreue sehr viel Geld kosten. Vergiss es besser. Übrigens haben wir bei deinen drei Frauen noch die Mutter vergessen.« Sie dachte kurz nach. Dann ergriff sie Darius und zog ihn in das Schlafzimmer. »Schnell, komm, ich fühle, dass wir dafür sofort etwas tun sollten.«

Sie taten es und im Frühjahr 1958 erblickte ihre Tochter Frouzan schreiend den wolkenlosen Himmel über Teheran, befreit, hungrig und neugierig.

Hermann Gütlich und seine Frau Christine hatten 1949 geheiratet und waren im gleichen Jahr in ihr eigenes Haus gezogen. Im »Alten Land« in der Nähe Hamburgs hatten sie ein Grundstück günstig kaufen können und gebaut. Beide arbeiteten, um möglichst bald schuldenfrei zu sein, denn der Bau hatte neben der staatlichen Aufbauhilfe nur mit Bankkrediten finanziert werden können.

1951 war Thomas Gütlich zur Welt gekommen. Der Junge war ihr Wunschkind und ihr ganz großes Glück. Er wurde katholisch getauft, weil die ganze Familie, Eltern, Großeltern und Verwandte, dem katholischen Glauben anhingen.

Die Mutter war gläubig, ging aber nur an ganz wichtigen Feiertagen in die Kirche. »Beten und Glauben kann ich auch zu Hause«, meinte sie und ergänzte: »Und sonntags zum Morgengottesdienst muss ich für uns kochen, sonst verhungert ihr mir ja und ich käme deswegen nicht in den Himmel und müsste in der Hölle schmoren.«

Sie hatte ihren eigenen Humor, den nicht jeder mochte. Auch ihr Hermann meinte, sie solle doch derartige Sprüche besser sein lassen.

 

Nach der Geburt ihres Sohnes und nachdem sie abgestillt hatte, arbeitete Christine jetzt halbtags in der Gemeindeverwaltung. Arbeit, Haushalt und Versorgung ihres Buben waren für die junge Mutter keine Belastung.

Ihr Mann war Entwicklungsingenieur. In Glaubensangelegenheiten dachte und handelte er ernsthafter als seine Frau. Er war konsequenter, indem er beispielsweise die vorösterliche Fastenzeit mit der Familie ganz genau befolgte. Ein wenig entschuldigend meinte er, man müsse damit noch mehr als nur etwas für die Entschlackung des Körpers tun. Natürlich wollte er auch abnehmen, denn es schmeckte ihm bei seiner Frau und ein oder zwei Glas Wein am Abend taten ein Übriges für ein paar Kilos zu viel auf der Waage. Er war, rücksichtsvoll beschrieben, »gut beieinander«.

Die Jahre vergingen. Auf eine vorgesehene Familienerweiterung mussten sie verzichten, weil bei Christine eine notwendige Unterleibsoperation alle Hoffnungen auf weiteren Nachwuchs zerstört hatte. Lange kamen sie nicht darüber hinweg. Sie vermieden es, »warum« zu fragen, und waren nur traurig. Sie mussten sich damit abfinden, weil sie glaubten, dass ihr Schicksal vom »Herrn« bestimmt werde. Christine war trotz ihres Glaubens nicht so recht davon überzeugt, behielt jedoch ihre Gedanken für sich.

So schenkten sie ihrem Thomas all ihre Liebe. Jeden Sonntag musste er in den Kindergottesdienst. Obwohl sich der Priester bemühte, den Kindern Gott, Maria mit dem Jesuskind und den Heiligen Geist nahezubringen, verursachte er nur ängstliches Staunen. Die Kinder waren einfach noch zu klein und waren immer wieder froh, wenn sie endlich nach draußen in die frische Luft springen durften.

Hermann Gütlich ging später mit seinem Sohn zusätzlich zum schulischen Sportunterricht, häufig auf den Sportplatz, wo sie aktiv und auch beim Zuschauen viel Spaß hatten. Während seines Urlaubs gingen Vater und Sohn ganz früh morgens zum Angeln im nahen Bach. »So früh beißen sie am besten«, belehrte er seinen Sohn. Noch müde brachte der nur ein »Ja, Papa« heraus.

Sein Vater ging gern zum Angeln, am liebsten war er dabei allein. Es war so beruhigend still und er konnte ungestört seinen Gedanken freien Lauf lassen. Ob nun ein Fisch anbiss oder nicht, war ihm egal. Diesmal wollten sie schon etwas fangen, das war eher eine Herausforderung. Sie hofften auf einen befriedigenden Fang, nicht nur, um zum Essen beizusteuern. Jedenfalls stellten sie übereinstimmend fest, dass die Fische ihre Köder nicht mochten, aus welchem Grund auch immer, und dass es gescheiter gewesen wäre, im Bett zu bleiben und richtig auszuschlafen.

»Heute haben sie nicht gebissen, tut uns leid, dass wir den Speiseplan nicht ergänzen konnten.«

»Habe ich mir schon gedacht, dass auf euch kein Verlass ist. Habe es am Himmel gesehen. Deshalb gibt es einen Gemüseeintopf mit Rindfleisch.« Christine war eine kluge und erfahrene Frau, nicht nur im Haushalt.

Thomas liebte auch seine Großeltern, die Eltern seiner Mutter, die in der Nähe wohnten, und freute sich immer, dass er bei ihnen bleiben und auch schlafen durfte, wenn seine Eltern etwas Besonderes vorhatten. Seine Oma liebte er, weil er von ihr alles bekam und machen durfte, worauf er gerade Lust hatte. Sie war sträflich gut, als Oma konnte sie einfach nicht anders.

Als er drei Jahre alt war, hatte er einmal seine Oma gefragt: »Baust du mit mir einen Turm aus LEGOS«?

»Oh, Junge, die Oma kann sich kaum bücken und hat auch in der Küche zu tun, bitte doch den Opa, der kann das, der ist ein geborener Baumeister.«

»Opa, hilfst du mir, einen Turm zu bauen?«

»Na, klar helfe ich dir.«

Dann lagen beide auf dem Boden und bauten den Turm. Als er fast fertig war und beim letzten aufgesetzten Stein schon etwas wackelte, besahen sie ihr Werk. Doch »mit des Geschickes Mächten war kein ewiger Bund zu flechten«. Mit einem Handstreich vernichtete einer der Baumeister das Werk und amüsierte sich sogar noch über das Trümmerfeld auf dem Teppich. Der andere Baumeister suchte nach dem Grund der mutwilligen Zerstörung und fragte sich, welche Gedanken hinter dieser Tat wohl steckten. Er fand heraus, dass sein Enkel sehr viel Gefühl für das Schöne haben müsse und er die Architekturkünste seines Opas absolut unbefriedigend fand.

Mit sechs Jahren kam Thomas in die Schule. Die Oma wollte ihm die traditionelle Schultüte mit Süßigkeiten und ersten Schulutensilien geben, doch ihre Tochter wollte es nicht.

»Mama, das ist lieb von dir, aber es ist doch nicht mehr zeitgemäß. Schau, der Kleine ist schon so weit und selbstständig. Du weißt selbst, wie man sich mit ihm unterhalten kann und wie erstaunlich sein Wissen bereits ist. Schulsachen sind in Ordnung. Schenkt ihm Fußballschuhe oder eine schicke Badehose. Darüber wird er sich bestimmt freuen.«

Im Religionsunterricht hatte Thomas erfahren, dass das Abendmahl in Erinnerung an das letzte Essen von Jesus mit seinen Jüngern gefeiert wird. In der Messe wird Brot und Wein gesegnet und als sein Leib und sein Blut gereicht. Er verstand das nicht. Als er nach Hause kam, erzählte er es seiner Mutter und fragte sie danach.

»Ich verstehe das nicht, kannst du’s mir erklären?«

»Ich verstehe das auch nicht. Frag den Papa, wenn er heimkommt.«

Der deutete es ihm dann so: »Mit Christus’ Tod hat er uns seinen Leib und sein Blut hinterlassen, mit dem wir leben und in seinem lebendigen Sinne handeln sollen.«

»Aber wie kann das sein? Ich verstehe es trotzdem nicht.«

»Man muss es auch nicht verstehen, Thomas, man muss daran glauben und, wie ich schon sagte, der Mensch muss nach Christus’ Vorbild leben und handeln!«

»Aber warum hat Judas ihn verraten? Er hat doch so viele Gutes getan und so viel gewusst, er muss doch gemerkt haben, dass Judas ein Verräter ist. Wenn er es nicht ahnen konnte, dann hätte doch sein Vater, der liebe Gott, ihm bei einer Flucht helfen müssen!«

»Das siehst du nicht richtig, denn nur durch Jesus’ Tod ist uns Menschen der Weg in den Himmel, zu Gott, geebnet worden.«

»Aber als lebendiger Mensch und Gottes Sohn hätte Jesus doch viel mehr Gutes tun können!«

»Mein lieber Sohn. Du bist noch zu jung, um die Zusammenhänge zu verstehen. Jetzt musst du nur daran glauben. Im Religionsunterricht werdet ihr bestimmt darüber sprechen und die Grundlagen christlichen Glaubens erfahren.«

Bald danach durfte Thomas seine Erstkommunion feiern. Bei der Gelegenheit fragte sein Vater den Priester, ob sein Sohn künftig als Ministrant am Gottesdienst teilnehmen dürfe. Thomas wurde nicht gefragt. Weil sein Vater es so wünschte, musste er es gehorsam tun. Seine Mitschüler hatten alle kein Interesse daran, dem Priester die Bibel zu halten, einen Leuchter zu tragen oder das stinkende Rauchfass zu schwenken. In ihrer Freizeit waren Fußballspielen und Mädchenärgern viel lustigere und bessere Beschäftigungen.

Viele seiner Klassenkameraden, evangelische wie katholische, gingen nur selten in die Kirche. Ostern ja, denn da gab es für die Kleinen bunte Schokoladeneier zu suchen. Gläubige Eltern mit ihren Kindern und ältere Menschen gingen zum Beten und Beichten in die Kirche. Nicht regelmäßig, aber immer, wenn es sein musste: an hohen christlichen Feiertagen, wenn eine Messe oder Trauerfeier für ein verstorbenes Familienmitglied, einen Nachbarn oder guten Freund abgehalten wurde oder zu einer Hochzeit, Taufe und Firmung.

Immer aber, wenn Thomas in die Kirche ging, sah er mit Schaudern den fast nackten, gekreuzigten, blassen, blutenden, toten Menschen am Kreuz hängen, der Gottes Sohn sein soll. Er verstand nicht, warum man diesen schrecklichen Toten allen Menschen und auch Kindern öffentlich und überall zur Schau stellt. In einer Ecke des Schlafzimmers seiner Eltern hing auch ein Kruzifix und als sein Vater vor einigen Jahren noch eins in seinem Kinderzimmer aufhängen wollte, protestierte seine Frau: »Lass das sein, das geht doch zu weit! Das Kind ist zu klein dafür und versteht es nicht und fürchtet sich nur!« Knurrend und unzufrieden verzichtete der Vater schließlich.

Bei einem Verkehrsunfall an ihrer Straßenkreuzung hatte Thomas einmal einen Toten gesehen. Der lag unbeweglich da und war mit einem Laken zugedeckt. Das fand er besser.

In dem Zusammenhang erzählte er seinen Eltern von einem Museumsbesuch der Klasse: »Die alten Griechen haben ihre Götter und Göttinnen fast nackend in weißem Marmor dargestellt. Die sehen schön aus, besser als der Gekreuzigte.«

Thomas’ Tätigkeit in der Kirche hielt ihn jedoch keineswegs davon ab, nach Erledigung der Hausaufgaben mit den Freunden zu spielen, herumzutoben und später Sport zu treiben. Er spielte in der A-Jugend als Libero. Das wöchentliche Training nahm er ernst und spielte leidenschaftlich gern. Haute er einen Ball vor dem gegnerischen Tor daneben oder landete ein Pass beim Gegner, ballte er die Faust und schimpfte lauthals mit sich selbst. Finaler Ausdruck seiner Unzufriedenheit konnte dann schon »verdammt« oder sogar »Scheiße« sein. Der liebe Gott hatte bestimmt Verständnis dafür, sein Vater, würde er es hören, ganz bestimmt weniger.

Der Religionsunterricht fesselte ihn anfangs auf ganz eigenartige Weise. Der fast nackte Körper Jesu am Kreuz war bei ihm nicht nur auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen, sondern hatte trotzdem Empfindungen geweckt, Reize, die er nicht deuten konnte: Mitleid, Staunen, Ablehnung und unerklärliche Gefühle. Ähnlich waren Gefühle und körperliche Reize, die er spürte, wenn er beim Sportunterricht in der Halle die dicken Taue hinaufhangeln musste. Das Tau zwischen den Beinen reizte seinen Penis. Es war etwas, das er nicht einmal als unangenehm empfand, weil es so schön kitzelte. Ob es bei den Mädchen zwischen den Beinen auch so war, fragte er sich, denn die waren ja unten herum anders ausgestattet. Er schämte sich etwas und sprach mit niemandem über seine Gedanken und Empfindungen.

Über den Tod Jesu sprach Thomas natürlich mit den Eltern, die ihm die Hintergründe zu erklären versuchten: »Christus ist für uns gestorben und zu seinem Gottvater in den Himmel aufgefahren. Wenn die Zeit gekommen ist, wird er uns erretten und erlösen.«

»Das verstehe ich nicht. Warum und wovon soll er uns denn erlösen?«, fragte er und wieder: »Aber warum musste Jesus denn sterben, wenn der liebe Gott sein Vater war?«

»Durch seinen Tod hat er uns den Weg zu Gott gewiesen, unserem Vater im Himmel.«

Thomas konnte es nicht begreifen. Das »warum« hatte sich aber in seinem jungen Kopf festgesetzt. So fragte er dann einmal: »Gott hat doch Adam und Eva erschaffen und die haben Kain und Abel gekriegt, weil Gott auch das gewollt hat. Als die Brüder dann älter geworden waren, erschlug Kain den Abel aus Neid, denn der war besser als er und er wollte allein den Familienbesitz erben. Wenn Gott nun die Menschen erschaffen und gemacht hat, dass sie Kinder bekommen, warum hat er dann den Mord zugelassen?«

»Ich habe noch in der Küche zu tun«, sagte seine Mutter und ließ die Männer allein.

»Gott hat auch Schlimmes als Strafe in die Herzen der Menschen gepflanzt, die im Garten Eden ungehorsam gewesen waren«, versuchte der Vater zu erklären.

Thomas sah das ein, denn er war selbst schon von seiner Mutter oder schlimmer noch von seinem Vater bestraft worden, weil er zum Beispiel mit Freunden unerlaubt aus dem Garten des Bankdirektors Äpfel und saftige Birnen »geholt« oder aus Wut über die Gemeinheit eines Jungen aus der Nachbarschaft diesen verprügelt hatte. Dessen Eltern hatten sich bei seiner Mutter beschwert. Trotz Schuld und Strafe, das sah er ja ein, fragte er aber auch nach Gerechtigkeit.

Er besuchte jetzt das Gymnasium in der nahen Kreisstadt. Das Lernen fiel ihm leicht. Technik, Physik und Chemie waren nicht so sein Ding. Geschichte, insbesondere Religionsgeschichte, mit Geographie, Sport und Sprachen waren seine Lieblingsfächer. Später wählte er Latein als Wahlfach hinzu. Mit zunehmendem Alter kam der Stimmbruch, er wurde männlicher und auch ansehnlicher. Die anerkennenden, sehnsüchtigen und auch auffordernden Augen der Mädchen und ihre herausfordernden Bewegungen irritierten ihn, stärkten aber auch sein Selbstbewusstsein. Eine gewisse Eitelkeit konnte er nicht verbergen und war damit ganz sicher nicht allein unter Pubertierenden, die erst Männer werden wollten.

Das war auch die Zeit, in der die Mutter ihren Mann aufforderte, Thomas »aufzuklären«. Es gebe da Anzeichen, die es ihrer Meinung nach notwendig machten. Vater Gütlich nahm sich also seinen Sprössling vor: »Was behandelt ihr denn im Biologieunterricht?«, begann er vorsichtig.

 

»Wir sprechen gerade über den Darwinismus, die Abstammungslehre und seine Selektionstheorie.«

»Selektionstheorie, was ist das denn?«

»Na, da geht es um Auslese und Züchtungen bei Tieren, Kreuzen von Arten, um neue zu erschaffen.«

»Das ist sicherlich sehr interessant, aber habt ihr denn auch über die Entstehung und Entwicklung von uns Menschen gesprochen?«

»Nein, das machen wir in der Sexualkunde.«

Sein Vater tastete sich vorsichtig weiter. Er wollte herausfinden, ob und wie weit sein Sohn in dieser Beziehung aufgeklärt war. Es war ihm etwas peinlich, mit seinem Sohn über Sexualität und Erotik zu sprechen. Seine Frau bemerkte seine Verlegenheit, obwohl sie nicht am Gespräch teilgenommen und nur Gesprächsbruchteile im Nebenzimmer mitbekommen hatte. Durch Nicken und mit den Händen forderte sie ihren Mann auf, fortzufahren. Sie war richtig neugierig, wie ihr Hermann seine Aufklärung weiter betreiben würde.

»Habt ihr denn auch darüber gesprochen, wie sich Pflanzen, Tiere, aber auch Menschen fortpflanzen?«

Jetzt lachte sein Sohn geradezu befreiend und brachte seinen Vater erst richtig in Verlegenheit.

»Sag doch gleich, dass du von mir wissen willst, ob ich weiß, wozu wir Jungens einen Penis und die Mädchen eine Vagina haben.« Er sagte das ganz ernst, musste aber innerlich lachen. Es war Schadenfreude, denn sein Vater war vor Verlegenheit rot geworden!

Im Nebenzimmer konnte seine Mutter nur mit sehr viel Mühe das Lachen zurückhalten.

Einige Tage später, als sie gerade mit dem Abendessen fertig waren, erzählte Thomas, dass sie im Religionsunterricht über die Erschaffung des Menschen im Alten Testament gesprochen hätten. Er sei da doch sehr irritiert über die Geschichte. »Im 1. Buch Moses sagt Gott, lasst uns Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich. Nach Gottes Bild schuf er ihn als Mann und als Frau schuf er sie. Ein bisschen weiter in seinem Buch machte er aus Adams Rippe noch einmal eine Frau. Das ist doch komisch! Und dann noch Adams und Evas Versuchung durch die Schlange im Garten Eden! Was ich nicht verstehe, ist, warum Gott Adam und Eva erschaffen und gewünscht hat, dass sie sich mehren, also Kinder kriegen sollen. Was hat das mit Versuchung und der danach folgenden Erkenntnis von Gut und Böse zu tun, und warum hat er sie, nachdem sie den Apfel gegessen hatten, aus dem Paradies geworfen?«

»Nun«, versuchte sein Vater die Frage zu beantworten, »nachdem sie verbotenerweise mit dem Essen des Apfels vom Baum des Lebens Gut und Böse zu erkennen gelernt hatten, musste er unbedingt verhindern, dass sie vom Baum der Erkenntnis essen und damit ein ewiges Leben mit allen Konsequenzen erhalten.«

»Das ist aber reichlich kompliziert und wenn ich jetzt ›warum‹ frage, wie ich das auch schon in der Schule getan habe, ist deine unbefriedigende Antwort bestimmt, dass Gott es in seiner Weisheit und Liebe zu seinen Menschen so gewollt hat.«

Als Thomas dann am späten Abend in seinem Bett lag und ihn noch einmal Fragen und Antworten beschäftigten, wurde ihm klar, dass er sich sehr viel mehr mit der Geschichte der Menschen befassen musste. Vieles Überlieferte glaubte er, fragte aber doch, wie es sein kann, dass ein Mensch wie Adam 930 Jahre und Metuschalad, also unser Methusalem, genau 969 Jahre alt werden konnte. Im Alter von 187 Jahren soll er noch den Lamed gezeugt haben. Er fragte sich, woher sie das auf das Jahr genau wussten! Oder warum Gott von Abraham den Opfertod seines Sohnes Isaak forderte und ohne verständliche Erklärung die Beschneidung aller männlichen Menschen verlangte. Sogar Prostituierte soll es in dieser Zeit schon gegeben haben! Das war alles sehr seltsam und fragwürdig. Damit musste er sich eingehender beschäftigen.

Seine Eltern indes waren verwundert, worüber sich ihr Sohn Gedanken machte und nach Erklärungen suchte. Thomas sprach auch mit dem Priester über seine Probleme. Er schätzte den geistlichen Herrn sehr, ja, er verehrte ihn sogar. Manchmal, wenn es passte, lud der Pater Thomas ein, ihn als Unterstützung bei den Besuchen Kranker und Hilfebedürftiger zu begleiten. Dabei bekam Thomas durch die herzliche Seelsorge des Paters bessere Antworten auf seine Fragen, als er sie bei einem direkten Gespräch bekommen hätte. Er sah es den Patienten an, wie sehr ihnen die hoffnungsvollen Worte des Geistlichen eine Hilfe waren. Thomas war dankbar, dass er diese Selbstlosigkeit erleben durfte.

Dennoch war das Leben nach der täglichen Schulzeit sehr weltlich. Meist war er auf dem Sportplatz oder im Schwimmbad zu finden. Bewegung macht ihm einfach Spaß und Leistung wollte er auch erbringen und nicht als Letzter einlaufen. Mit seinen Freunden in der A-Jugend zu kicken oder die Lebensrettungsscheine im Schwimmbad zu machen, waren spielerische Herausforderungen. Bei einem Spiel gegen ihren Aufstiegskonkurrenten aus der Nachbargemeinde wurde er derart böse mit gestrecktem Bein gefoult, dass eine große Risswunde am Oberschenkel genäht werden musste. Der Übeltäter bekam selbstverständlich die »Gelbe Karte«, hielt es aber nicht für nötig, sich zu entschuldigen oder nach ihm zu sehen. Nur sein Freund und Mannschaftsführer bedauerte den eigentlich kleinen Unfall. Vereinsführer und Trainer erkundigten sich nicht einmal nach seinem Befinden. Für so ein Verhalten hatte er kein Verständnis und kam zu dem Schluss, dass sie völlig ungebildet und dumm sein mussten. Bei dieser Feststellung fragte er sich, warum sie so waren, und ein wenig entschuldigend, aber gar nicht überzeugt dachte er: Gott kann ja nicht für alle Menschen da sein – oder doch?

»Ich habe ja für vieles Verständnis und bin auch bereit, einiges zu vergessen«, sagte er nach einigen Tagen dem Vereinsvorstand. »Euer Verhalten und eure Interessenlosigkeit kann ich aber nicht verstehen und auch nicht akzeptieren. Deswegen werde ich bei euch nicht mehr Fußball spielen und den Verein verlassen! Hier habt ihr meine Austrittserklärung.«

»Das kannst du doch nicht machen! Du weißt doch selbst, wie wir mit Vereins- und Mannschaftsarbeit gefordert sind!«

»Ich weiß das, ja, aber ein paar Worte oder ein kurzer Besuch hätten trotzdem drin sein müssen!«

»Thomas, wir brauchen dich. Du bist der beste Libero, den wir haben. Dir wird doch so eine kleine Verletzung nichts ausmachen!«

»Stimmt, die Verletzung am Bein ist unbedeutend. Aber die andere, eure Interessen- und Instinktlosigkeit ist umso schwerer, und deswegen bleibe ich bei meinem Entschluss.«

Sie versuchten ihn dennoch umzustimmen und entschuldigten sich mit anderem Papperlapapp. Thomas ließ sich jedoch auf keine Diskussion ein und sagte nur: »Hoffentlich lernt ihr etwas für die Zukunft!«

So beendete er seine Kariere als Fußballer, stiftete seine Schuhe dem Verein und wurde Mitglied im neu gegründeten Tennisclub.

Kathi wohnte mit ihren Eltern in der Straße, in der auch die Gütlichs wohnten, nur drei Häuser weiter. Als Kinder hatten sie miteinander gespielt, waren Rollschuh gelaufen, hatten sich die Knie aufgeschlagen und viele kindliche Dummheiten gemacht. Sie waren im gleichen Alter und hatten die gleiche Grundschule besucht. Danach wechselte Kathi auf das Lyzeum und Thomas auf das Gymnasium.

Älter geworden kriegte Thomas seinen Stimmbruch und Kathi eine tolle Figur mit schönen, langen Beinen, einem strammen Po und bereits ansehnlichen Brüsten. Ein fröhlich lachendes Gesicht mit weißen Zähnen und einrahmende, lange blonde Haare ergänzten die Verlockung. Sie war schon eine richtige Frau. Nicht nur er hatte das festgestellt. Beide spielten im gleichen Verein Tennis. Spielte sie, kommentierten seine Vereinskameraden weniger ihr Spiel, vielmehr ihre »Wahnsinnsfigur«, wie sie sich ausdrückten.