Grundbegriffe der Ethik

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2.6 Ethik und Moralphilosophie

In der gegenwärtigen philosophischen Diskussion werden die Begriffe Ethik und Moralphilosophie, wie wir gesehen haben, meist synonym gebraucht. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass die beiden in der Geschichte der Philosophie für unterschiedliche Konzepte standen. Von ›Moralphilosophie‹ war dort erst die Rede, seit sich in der Philosophie der Neuzeit der Gedanke entfaltet hatte, dass menschliches Handeln in der Reflexion des Subjekts zu begründen sei. Kant bezeichnete diese Reflexion als Moralphilosophie. Die synonyme Verwendung der Begriffe ›Moralphilosophie‹ und ›Ethik‹ verdeckt mitunter den perspektivischen Unterschied zwischen der älteren Auffassung, für die Ethik eine gemeinschaftliche Sphäre sittlichen Handelns bezeichnet, und der modernen Auffassung, [55]entsprechend der es subjektive Moralität mit den Ansprüchen des Gemeinwesens zu vermitteln gilt.

Es gibt freilich auch Versuche, Ethik und Moralphilosophie terminologisch wieder voneinander abzukoppeln. Jürgen Habermas beispielsweise, der sich dabei an die analytische Philosophie des angelsächsischen Sprachraums anlehnt, meint, es solle nur dann von Ethik gesprochen werden, wenn es um Reflexionen geht, die sich auf existentielle Fragen des guten Lebens beziehen und darauf, »welches Leben man führen möchte« bzw. »welche Person man ist und zugleich sein möchte« (Habermas 1992, 103). Moralphilosophie soll dagegen nur jenes Nachdenken heißen, das es mit Fragen zu tun hat, die notwendigerweise auf den moral point of view zielen. Der moral point of view ist der Standpunkt, den man einnimmt, wenn man beurteilt, ob eine Handlung moralisch gerechtfertigt ist oder nicht – und d. h. in diesem Fall: ob ihre Rechtfertigung einen begründeten Anspruch auf allgemeine Geltung erheben kann. Dieser Gesichtspunkt wird in Konflikten wichtig, in denen die Frage zur Debatte steht, ob eine Handlungsweise mit Gründen gerechtfertigt werden kann. Hinter Handlungen stehen Grundsätze, und die lassen sich auf moralische Normen beziehen. Wenn es zu Konflikten über Handlungen kommt, dann sind Rechtfertigungen erforderlich. In moralischen Diskursen stellt man sich im Grunde immer die Frage, »ob alle wollen können, daß in meiner Lage jedermann nach derselben Maxime verfährt« (Habermas 1992, 105).

Nur diesen Bereich der Reflexion bezeichnet Habermas also als Moralphilosophie. Das kann man machen; die philosophiehistorische Zäsur, die mit Kant gesetzt wurde, spricht dafür. Aber man muss sich nicht an Habermas’ [56]Unterscheidung halten. Denn sie hatte vor allem die Funktion, ein Missverständnis aus der Welt zu schaffen, das Habermas selbst verursacht hatte, als er sein moralphilosophisches Projekt, zusammen mit seinem Frankfurter Kollegen Karl-Otto Apel (dem eigentlichen Erfinder), »Diskursethik« nannte. Die Diskursethik wurde häufig gescholten, weil sie es ausdrücklich ablehnt, Fragen des guten Lebens und Fragen sittlicher Werte zu behandeln. Sie sieht sich nur für Fragen zuständig, die es mit streng allgemeingültigen Letztbegründungen rationaler moralischer Normen zu tun haben. Eine Handlungsnorm soll nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie in einer virtuellen Modelldiskussion Zustimmung finden kann. Alle, die möglicherweise von den Folgen und Nebenfolgen einer Handlung betroffen sein können, die man durch Berufung auf die strittige Norm legitimieren kann, müssten Zugang zur Diskussion haben. Sie müsste so beschaffen sein, dass alle Beteiligten gleiche Kommunikationschancen haben und sich der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« durchsetzen kann, ohne dass Machtinteressen oder Privilegien hinterrücks beeinflussen, was als moralisch legitim gilt und was nicht.

Apel und Habermas setzten kantianisch-transzendental an: Sie wollten die Bedingungen der Möglichkeit von Moralität erkunden und begründen. Von Kant grenzten sie sich dabei insofern ab, als sie in seiner Ethik »das Fehlen der Berücksichtigung der Sprache als Medium der Vernunft« (Lutz-Bachmann 2013, 110) bemängelten. Apel und Habermas nahmen vielmehr – mit John L. Austin und John R. Searle – an, dass Menschen, wann immer sie argumentieren – sei es in der Kommunikation oder im ›einsamen‹ begrifflichen Denken – »vier universale […] [57]Geltungsansprüche der Rede« in Anspruch nehmen würden, nämlich: »Sinn, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und moralisch zu rechtfertigende Richtigkeit der Kommunikationsakte« (Apel 1986, 8 f.). Diese Geltungsansprüche werden als Bedingungen der Möglichkeit dafür angesehen, dass überhaupt Kommunikation stattfinden kann. Zugleich soll ihnen ein normativer Charakter innewohnen. Da Argumentation Sprache voraussetzt, findet sich, so der Ansatz, in der Sprache die moralphilosophische Idee der Universalität und der verbindlichen Gültigkeit von Normen verankert. Andernfalls könnten Menschen sich gar nicht miteinander verständigen. Deshalb sei moralphilosophisch davon auszugehen, dass die »normative Grundlegung« von »Regeln und Handlungsmaximen« bereits »in der kommunikativen Struktur unserer Alltagspraxis angelegt« ist (Lutz-Bachmann 2013, 110).

Die »Universalien des Sprachgebrauchs« (Apel 1986, 7) stellen demnach normative Allgemeinheit und Verbindlichkeit bereit; nun gehe es darum, ihre Realisierung in der Praxis einzufordern. Habermas meinte, es sei überflüssig, in der Moralphilosophie ein ethisches Prinzip einzuführen, denn die Sprache selbst enthalte es ja bereits. Dieses ethische Prinzip bildet in seinen Augen die Zielvorstellung der Verständigung zwischen Sprechenden. Die »Annahme […], daß die Fundamentalnormen des Handelns in der Form der Intersubjektivität möglicher umgangssprachlicher Verständigung begründet sind«, gab ihm Anlass zur »Hoffnung […] auf eine Ethik der Rede« (Habermas 1972, 92). Für ihn erwies sich »die Struktur möglicher Rede, […] die Form der Intersubjektivität möglicher Verständigung als einziges Prinzip der Sittlichkeit« (Habermas 1970, 116).

Während die Diskursethik in Apels Version praktische [58]Normen begründen soll, geht es bei Habermas lediglich um eine Meta-Norm, die den Maßstab für die rationale Prüfung fraglicher Geltungsansprüche von problematisierten Handlungsnormen in praktischen Diskursen abgeben kann. Diese Meta-Norm ist die intersubjektive Verständigung. Legte Habermas zu Beginn noch großen Wert darauf, dass die »Ethik der Rede« die Perspektive einer vorweggenommenen idealen Lebensform impliziere, so verschob sich sein Interesse schon bald auf die konstitutive Funktion moralischer Normen für soziale Gemeinschaften. Zunächst war »Verständigung« noch ein radikal ansetzendes Konzept zur Kritik der konkurrenzgesellschaftlichen Überformung kommunikativ-verständigungsorientierten Handelns durch strategisch-zweckrationales Handeln. In seiner späteren Ausarbeitung der Diskursethik bilden ›praktische Diskurse‹ das Medium, in dem sich individuelle Interessen und die Vergesellschaftungsansprüche des Kollektivs zwanglos aufeinander beziehen lassen würden, weil die Teilnehmer*innen erfahren, dass sie ihren jeweiligen Anspruch auf Selbstbestimmung nur dann zur Geltung bringen können, wenn sie von Voraussetzungen ausgehen, die allen Teilnehmern gemeinsam sind.

Doch freie Selbstbestimmung im Diskurs ist begrenzt, denn wenn gesprochen wird, muss die Einordnung der Einzelnen in das Kollektiv der Sprechenden immer schon stattgefunden haben. In der Sprache gehen die universalistische Perspektive herrschaftsfreier Verständigung und die unterordnende Gewalt dessen, was sich als gesellschaftlich Allgemeines durchsetzt, ineinander über.

Habermas hat gesehen, dass moralische Rationalität allein durch den Nachweis, dass sie ihr Fundament in der [59]Sprache hat und unverzichtbar für Verständigung und Kooperation ist, nicht wirkmächtig wird. Dazu bedarf es historisch-gesellschaftlicher Bewegung. Er hebt hervor, dass moderne westliche Zivilisationen durch Manifestation von Normativität in politischen und gesellschaftlichen Institutionen gekennzeichnet sind. Ohne Verinnerlichung der Gewissensinstanz, ohne Etablierung einer an Menschen- und Grundrechten orientierten Rechtssphäre und ohne demokratische Öffentlichkeit wäre aller moralisch-universalistischen Prinzipienreflexion die Basis entzogen. Denn: »jede universalistische Moral ist auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen« (Habermas 1986, 28).

Als kantianische Moralphilosophie enthält sich die Diskursethik der Stellungnahme zu inhaltlichen Fragen eines guten Lebens. Sie geht vom moralisch Gesollten aus. Sie postuliert, dass das moralisch Gerechtfertigte von allen vernünftigen Wesen gewollt werden muss. Und sie besteht darauf, dass diese Grundannahmen allgemein gelten. Daher ist den Diskursethikern vorgehalten worden, dass sie Fragen ausgrenzen, die für eine zeitgemäße Ethik von großer Bedeutung sind. Es gehe doch nicht nur um rational ausweisbare Standards dessen, was als das normativ Richtige bezeichnet wird, sondern auch darum, wie Menschen leben wollen oder sollen und was das Gute vom Bösen unterscheidet. Der gleiche Vorwurf war seinerzeit Kant gemacht worden: Die Ethik werde formalisiert und alles Inhaltliche, das eine philosophische Ethik für Einzelne, aber auch für Gruppen und Gemeinschaften relevant macht, ausgeblendet.

Auf Kant werden wir noch ausführlich zurückkommen (siehe Kap. 5.1 und 6.1–2). Habermas wollte mit der [60]Ausblendung der Fragen nach dem Guten, den Werten und den Tugenden verdeutlichen, dass die Diskursethik nicht den vermessenen Anspruch erhebt, den Menschen sagen zu können, was sie tun sollen. Man solle lediglich formale Rahmenbedingungen klären, unter denen Menschen das selbst herausfinden können. Um die Not des Ausblendens als eine Tugend kluger Selbstbeschränkung kenntlich zu machen, verwies er darauf, dass die Diskursethik in Wirklichkeit eine Moralphilosophie des Diskurses sei; genauer gesagt, der diskursiven Klärung von Handlungsnormen und Gerechtigkeitsfragen.

 

Doch ist diese Distinktion überzeugend? Waren – oder sind – Ethiken und Moralphilosophien nicht immer (auch) genau dafür zuständig? Indem man sagt, Moralphilosophie würde nur dort stattfinden, wo ausschließlich streng formal über Gerechtigkeit nachgedacht wird, während man es nur dort mit Ethik zu tun habe, wo ausschließlich über Werte, Güter und existentielle Fragen der Person nachgedacht wird, zieht man eine willkürliche Trennungslinie. Wir nehmen also zur Kenntnis, dass Habermas auf diese Unterscheidung Wert legt (übrigens anders als Apel, der die Diskursethik als inhaltlich-materiale Ethik der globalen Verantwortung verstanden wissen wollte). Doch wir stellen auch fest, dass er damit noch einmal bekräftigt, dass seine Diskursethik einen Bereich außen vor lässt, der mit der Frage der Begründung von Normen nicht nur aufs engste zusammengehört, sondern zuinnerst mit diesem Bereich vermittelt ist. Und deshalb ist es mit hohen Kosten verbunden, wenn dieser Bereich aus methodologischen Gründen hinausdefiniert wird.

[61]3. Praktische Vernunft

Im Folgenden werden ›Ethik‹ und ›Moralphilosophie‹ synonym gebraucht; beide Begriffe stehen, wie gesagt, für einen Reflexionszusammenhang, der sich – verstehend, erklärend und oft auch vorschreibend – auf die Gesamtheit dessen bezieht, was in der europäischen Philosophie seit der Neuzeit so schön als »praktische Vernunft« bezeichnet worden ist. Damit ist all das gemeint, was im engen und weiten Sinne mit der Frage zu tun hat, wie Menschen ihr Leben so gestalten, dass individuelles Handeln und gemeinsame Praxis vernünftiger Rechtfertigung standhalten – dass also das Handeln von vernünftiger Reflexion und dadurch gewonnenen Grundsätzen angeleitet wird.

Diese vernünftige Rechtfertigung wird in der Philosophie der Neuzeit immer als allgemein verbindliche Rechtfertigung gedacht. Das ist hier ganz buchstäblich zu verstehen: Praktische Vernunft muss allgemein und verbindlich sein. Ist von praktischer Vernunft die Rede, hat das eine doppelte Bedeutung: zum einen, dass versucht wird, konsistent über Praxis nachzudenken, und zum andern, dass Vernunft praktisch werde – dass also vernünftige Gründe und Maximen bestimmen, was geschieht, sei es in individuellen Lebensfragen oder in kollektiver Praxis. Beide Male zielen entsprechende philosophische Überlegungen auf einen allgemeingültigen Zusammenhang.

Das war in der Antike anders. Hier war praktische Vernunft, etwa bei Aristoteles, das Vermögen, zu erkennen, was für die Einzelne und den Einzelnen sowie für die Polis gut ist, und die eingeübte Fähigkeit, das individuelle Handeln darauf einzustellen. Dem lag kein deduzierbares, [62]rationales Moralprinzip zugrunde, sondern eine solide Vertrautheit mit den Sitten und Gebräuchen des jeweiligen Gemeinwesens. Was in Athen gut und gerecht war, das musste es an einem anderen Ort nicht unbedingt ebenfalls sein. Moral war dabei stets auch sozial differenziert (»Quod licet iovi, non licet bovi«, wie es im alten Rom hieß: Das, was den Göttern erlaubt ist, ist noch lange nicht dem Ochsen erlaubt).

3.1 Begründbarkeit von Moral

Noch vor der scheinbar endlosen und kontroversen Debatte, wie Moral begründet werden kann, ist in der Philosophie der Streit darüber angesiedelt, ob sie überhaupt begründet werden kann. Das Paradigma der Moralbegründung wurde vom platonischen Sokrates formuliert. Demnach ist moralisches Handeln vernünftiges Handeln: Niemand handelt wissentlich und willentlich schlecht bzw. unmoralisch, denn solche Handlungen schaden nicht nur dem Objekt der Handlung, sondern immer auch ihrem Subjekt. Niemand, so lässt Platon seinen Sokrates argumentieren, würde freiwillig die schlechte oder böse Handlung wählen, wenn er eine richtige, gerechte oder gute Alternative kennt.

Das scheint zunächst nach Art eines Nutzenkalküls formuliert zu sein. Die Folgen schlechten oder bösen Handelns sind stets noch auf ihre Urheber zurückgefallen, daher ist es klug, gerecht und gut zu handeln. Doch Platon ging andere argumentative Wege als der individualistische Utilitarismus. Der von Platon entwickelte ethische Intellektualismus, der in Verbindung mit dem Namen Sokrates [63]berühmt geworden ist, belässt es nämlich nicht bei dem rationalen Vernunftinteresse, das auf das Interesse des Individuums an der Selbsterhaltung zurückgeht. Wer durch vernunftgeleitetes Erkennen begreift, was das moralisch Richtige und Gute in einer je konkreten Handlungssituation ist, so argumentiert Platon, der erkennt etwas vom objektiven Prinzip des Guten. Vermöge seiner intelligiblen Überzeugungskraft lässt dieses Prinzip gar keine andere Wahl, als ihm zu folgen – nicht (nur) deshalb, weil das für die Handelnden vorteilhaft ist, sondern (auch) deshalb, weil es an sich besser ist.

Hier spielt die platonische Unterscheidung zwischen Meinung und Wahrheit eine wichtige Rolle. Immer dann, wenn Handlungsalternativen geprüft werden, kommt es auch darauf an, mit Hilfe stringenter kognitiver Akte vom bloßen Dafürhalten wegzukommen und zu angemessener Erkenntnis zu gelangen. In ethischen Reflexionen wird gefragt, was gut ist, nicht, was nur so scheint. ›Schein‹ ist der Schlüsselbegriff von Platons Kritik des Irrtums und des falschen Bewusstseins. Wer dem Schein der Dinge aufsitzt – wer also die Weise, wie ihm die Dinge erscheinen, für ihr wahres Wesen hält –, unterliegt einem Irrtum. Seine Aussagen werden sich im Bereich der Meinung bewegen, der doxa. Damit meint Platon bloßes Dafürhalten; darauf können keine philosophischen Erkenntnisse fundiert werden.

Erkenntnis, führt Platon in seinem Dialog Theaitetos aus, muss untrüglich sein und sich auf das Seiende beziehen. Gibt es überhaupt eine »untrüglich wahre Erklärung des Wissens«?, fragt er zunächst (Platon, Theaitetos, 208b). Wahre Erkenntnis entsteht nicht durch Sinneswahrnehmungen, die häufig täuschend sind; sie entsteht vielmehr [64]durch logische Tätigkeit der Vernunft (152c, 186d–e). Mittels rationaler Schlüsse schreitet man von der sinnlich wahrgenommenen Erscheinung von etwas fort zu einem Begriff seines Seins (ontos) bzw. seines Wesens (ousia) und damit seiner Wahrheit (aletheia). Das Zwischenergebnis, das der aporetisch unaufgelöst abgebrochene Dialog Theaitetos anbietet, lautet: Erkenntnis ist wahre Meinung über einen bzw. wahre Vorstellung von einem Gegenstand, die im Zusammenhang einer diskursiv-begrifflichen Begründung dieser Meinung steht (201d). Und woher weiß man, ob die eigene Meinung der Sache angemessen, adäquat ist? Wie lässt sich dies herausfinden? Nur durch eine Begründung. Die Qualität der Begründung ist das einzige Kriterium, mit dem man entscheiden kann, ob die Meinung zutrifft, ob sie also eine Erkenntnis oder ein Irrtum ist. Wissen ist dann die »richtige Meinung verbunden mit Erklärung« (208b). Wer das Gemeinsame und die spezifische Differenz von etwas benennen kann, »der wird nun ein Wissen haben von dem Gegenstande, von dem er vorher nur eine Meinung hatte« (208e). Wissen ist mithin ein Urteil, das ausreichend begründet wird; »Wissen ist Fürwahrhalten mit vollständiger Gewissheit« (Apelt, Anmerkungen zum Theaitetos, 188).

Platon kommt zu dem Resultat, dass dies noch keine wirklich guten Erklärungen sind. Der beste Ansatz immerhin sei der letzte: Wahre Erkenntnis ist eine gut begründete, zutreffende Meinung. Doch warum genügte Platon das nicht? Er argumentiert in seinen späteren Werken, dass eine subjektive Begründung – auch eine intersubjektive! – noch kein sicheres Kriterium dafür sein kann, ob die Meinung der Sache auch wirklich angemessen ist.

[65]In der Schrift über den gerechten Staat, der Politeia, hat Platon das erkenntnistheoretische Problem der Wahrheit in seinem berühmten Höhlengleichnis behandelt (Platon, Politeia, 514a ff.). Hier geht er über den methodologischen Nachweis hinaus, dass wahre Erkenntnis die rational begründete Ansicht sei, die wir von einem Sachverhalt haben. Er unterscheidet dafür metaphysisch zwischen Erscheinung und Wesen. Damit macht er die Unterscheidung zwischen dem, wie (uns) etwas erscheint, und dem, wie oder was es ist, plausibel. Die Bedingungen sinnlicher Wahrnehmung, die nicht nur ermöglichen, dass wir etwas wahrnehmen, sondern auch unsere Wahrnehmungen vorweg strukturieren, die Beschaffenheit unserer Sprache, unserer Sozialisation, der Ideologien, die uns die Welt erklären: Das schränkt unsere Erkenntnis ein. Die Situation, anhand derer Platon dies bildhaft erläutert, wirkt zunächst befremdlich. Wenn man jedoch bedenkt, dass ihn vermutlich der Arbeitsalltag der Sklaven in athenischen Silberminen zur Wahl dieses Bildes inspiriert hat, dann bekommt seine Parabel vom Erkenntnisprozess – als Geschichte von Herrschaft, Gefangenschaft und Verblendung auf der einen Seite, Befreiung und Aufklärung auf der anderen – etwas geradezu Beklemmendes.

In einer Höhle also sitzen Gefangene, die so fixiert sind, dass sie den Kopf nicht drehen können. In einem Gang hinter ihnen laufen Menschen mit Fackeln in den Händen auf und ab und reden miteinander. Die Lichtreflexe auf der Höhlenwand und das Echo ihrer Stimmen sind das Einzige, was die Gefangenen wahrnehmen. Wie bei Zuschauern im Kino sind ihre Blicke nach vorn gerichtet, und der Vorgang der Bildproduktion (bzw. Bildprojektion) geschieht hinter ihrem Rücken. Im Gegensatz zum Kinopublikum wissen [66]sie allerdings nicht, was hinter ihrem Rücken vorgeht. Ihre Realität besteht aus schattenhaft Gesehenem und echoartig Gehörtem. Ein Gefangener, der die Fesseln lösen und sich umdrehen kann, lernt nun, dass die wahrgenommenen Reflexe Ursachen haben, die sich erheblich von ihren Wirkungen unterscheiden. Wirklich existierende Menschen werfen Schatten auf eine Wand. Die Schatten sind zwar auch wirklich, nämlich wirkliche Schatten; doch ihre Wirklichkeit ist eine von etwas anderem abgeleitete. Sie ist eine Folgeerscheinung und im Hinblick auf das, was die Schatten repräsentieren und für was sie zuvor gehalten wurden, um viele Grade weniger wirklich. Nun ist zunächst das Licht der Fackeln das Medium der Wahrheit. Bald darauf jedoch entdeckt der Gefangene den Ausgang der Höhle und den Unterschied zwischen dem Licht der Fackel und dem Widerschein des Sonnenlichts im Freien. Nach anfänglichen Gewöhnungsproblemen hat sich das Unterscheidungs- und Urteilsvermögen wieder einen Schritt weiter differenziert. Der anschließende Blick ins Sonnenlicht selbst (selbstverständlich nicht bis zur Blendung) entspricht einem weiteren Fortschritt des Abstraktionsvermögens. So lernt der Gefangene, der sich selbst aus dem Dunkeln befreit hat, schrittweise zwischen der ungeschiedenen, dumpfen, wirren Vielfalt der Erscheinungen und den Strukturen und Prinzipien zu unterscheiden, die (frei nach Goethes Faust) ›die Welt im Innersten zusammenhalten‹. Diese Prinzipien hat Platon »Ideen« genannt. Er hielt sie für »die mit den Sinnen nicht wahrnehmbaren, ewigen und unveränderlichen Urbilder all der Gegenstände und Sachverhalte, die uns in unserer Welt, die wir mittels unserer Sinne auffassen, begegnen« (Decher 2015, 42).

[67]Platon war überzeugt: Die Philosophie kann das Wesen der Dinge sicher und zweifelsfrei erkennen, weil sich die Wesenheiten nicht verändern, sondern immer sich selbst gleich bleiben. Die Wesenheiten nannte er die »Ideen« und bestand darauf, dass sie selbst nicht stofflich sein können, sondern immateriell sind. Weil sie es ja sind, die allem Stofflichen zugrunde liegen, können sie selbst, Platon zufolge, nicht materiell, also vergänglich sein. Es wäre unlogisch anzunehmen, dass die Ursache, das Zugrundeliegende der bunten, vielfältig chaotischen und vergänglichen Materie von gleicher Qualität sei, denn dann wäre sie ja selbst ein Teil davon und deshalb als generierendes Prinzip nicht zu denken. Die Individuen, sofern sie besondere, einzelne Entitäten sind, verändern sich; aber die Idee des Menschen verändert sich nicht, sie bleibt immer die gleiche. Wenn man statt »Ideen« oder »Urbilder« von ›Begriffen‹ oder ›Konzepten‹ spricht, klingt das bereits erheblich weniger mythologisch. Und auch wer heute als Philosoph*in der platonischen Ideen- und Wesenslehre nicht mehr folgt, lässt deshalb normalerweise noch lange nicht von der Suche nach allgemeingültigen Kriterien des Wissens ab.

In unserem Zusammenhang kommt es auch nicht so sehr auf Platons Metaphysik der ewigen, unveränderlichen Ideen an als vielmehr auf die grundsätzliche Unterscheidung, die er im Bild eines Ideenkosmos und in der Erzählung von der Höhle dargestellt hat. Es ist demnach prinzipiell möglich und notwendig, zwischen dem, was man für gut halten kann und jeweils dafür hält, und dem, was gut ist, zu unterscheiden. Es kommt gar nicht darauf an, ob man mit dieser Unterscheidung empirisch immer (oder auch nur ein einziges Mal) richtigliegt. Es kommt allein darauf [68]an, dass niemand Richtlinien oder Kriterien für sein Handeln angeben könnte, ohne diese Unterscheidung implizit zugrunde zu legen. Wer sich in moralischen Entscheidungssituationen befindet, kann versuchen, zu tun, was sie oder er für gut hält, also das, was sie oder er als gut erkennen bzw. begründen kann. Auch wenn man nicht mehr, wie Platon, meint, dass die wahre Erkenntnis letztlich nur diejenige ist, die das wahre Wesen, die Idee, voll erfasst – und auch wenn man nicht mehr, wie Platon, davon ausgeht, dass es möglich ist, der Wahrheit überhaupt so nahe zu kommen (in der Wahrheit zu sein): Man kann (oder muss) das Prinzip der Unterscheidung zwischen Wahrheit (im Sinne von wahrer Erkenntnis) und dem, was uns wahr erscheint, anwenden bzw. zugrunde legen, damit man überhaupt erkennen, unterscheiden und kritisieren kann.