Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1925 erschien Heinrich Ritter von Srbiks (1878–1951) Darstellung über den Staatsmann und Menschen Metternich72 und enfachte unter Historikern eine lebhafte Diskussion. Metternich galt in allgemeiner Wahrnehmung bis dahin als Feind aller liberalen und nationalen Bewegungen in Europa, als Repräsentant des feudalabsolutistisch gesetzmäßigen Zustandes. Srbik ließ die spezifisch „österreichische Note“ Metternichs, der sich um den Bestand Österreichs als eines stabilisierenden Faktors in Europa gesorgt habe, deutlich werden. Der Srbik des Metternich-Buches erinnert da und dort an ironische Passagen in Robert Musils (1880–1942) „Der Mann ohne Eigenschaften“ über den eher zu Depressionen als zu hysterisch nationalistischen Ausfällen neigenden österreichischen Patriotismus, weniger an den von Karl Kraus geschilderten aggressiv-tödlichen Habsburgerchauvinismus. Dopsch mag bei der Lektüre des Srbik-Buches aufgefallen sein, dass die ökonomischen Zusammenhänge des Vormärz in ihrem Bezug auf das Verhältnis der Habsburgermonarchie zu Deutschland separat herausgearbeitet werden müssten. Vielleicht wurde Dopsch durch A. R. an den aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammenden und vielfältig deutschnational tätigen Historiker Heinrich Friedjung (1851–1920) erinnert, der ein Bündnis zwischen Österreich und Deutschland favorisierte. Es gab eine eigene, von Přibram und Hartmann gegründete „Friedjung Gesellschaft“, die mit ihren zeitgeschichtlichen Vortragsambitionen keine Wirkung erzielte. Eine Zeit lang war der aus einer ungarisch jüdischen Familie stammende Friedrich Engel-Jánosi (1893–1978) ihr Vorsitzender.73 Wie überheblich das jüdische Bildungsbürgertum sein konnte, zeigt die Bemerkung von Engel-Jánosi über Bürgermeister Karl Seitz (1869–1950), man merke diesem „ehemaligen Volksschullehrer seine geringe Schulbildung in keiner Weise an“.74 Dopsch ließ seinen Schüler A. R. nachforschen, weshalb es im Vormärz nicht zu einem gemeinsamen Zollverein und gemeinsamen Postwesen von Österreich und Deutschland gekommen war. A. R. arbeitete gründlich, er lernte mit archivalischen Quellen umzugehen. Unter erstmaliger Heranziehung von Materialien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie des Finanzarchivs legte A.R. 1927 als Dreiundzwanzigjähriger seine maschinenschriftliche Dissertation Der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland in den Jahren 1840 bis 1848 (189 Seiten) vor.75 In den Wiener Archiven herrschte eine benutzerfreundliche Atmosphäre, worauf der Chefarchivar Ludwig Bittner (1877–1945), der sich früh den Nazis anschloss, Wert legte. Das Typoskript von A. R. umfasst 189 Seiten (Folioformat) und gliedert sich in zwei Hauptteile: Österreich und der deutsche Zollverein (Österreich und der Zollverein bis 1840 – Der Plan eines deutschen Schifffahrtsbundes – Die Krise des Zollvereines und die Zollreform in Österreich – Krakau und der Handelsvertrag mit Preußen), sowie Österreich und die Gründung des deutschen Postvereines (Die Agitation für die deutsche Postreform – Die österreichische Briefportoreform – Die Vorbereitung des Postvereines – Einzelverhandlungen mit den deutschen Staaten – Eine Ruheperiode – Ein süddeutscher Postverein? – Die erste deutsche Postkonferenz).

Die deutschen Österreicher waren ein Teil des deutschen Volkes und mit diesem durch Geschichte, Sprache und Kultur verbunden. Auf diese Merkmale kommt A. R. nicht zu sprechen, weil die ökonomischen und politischen Faktoren für die kapitalistische Entwicklung entscheidend wirksam geworden sind. A. R. konzentriert sich auf politische Versäumnisse des österreichischen Regierungssystems, die den „großdeutschen“ kapitalistischen Nationalstaat verhinderten: „Die günstige Stimmung in Deutschland konnte nicht ausgenützt werden, die Krise des Zollvereines ging vorüber, ohne dass es Österreich gelungen wäre, irgendeinen Einfluss in Deutschland zu erreichen, oder auch nur einen handelspolitischen Vorteil zu erlangen. […] Nie mehr wieder ergab sich eine so günstige Gelegenheit, den Anschluss an Deutschland zu erreichen, wie sie diesmal so schmählich verpasst wurde. Srbik versucht die Schuld an dem Misslingen der Zollreform [Franz Anton von] Kolowrat [(1778–1861)] und [Franz von] Hartig [(1758–1865)] zu zuschreiben, die, von den Industriellen beeinflusst, Widerstand geleistet hätten. Dies ist jedoch unrichtig. Kolowrat und Hartig haben wohl, den Fabrikanteneinflüssen nachgebend, die Bedeutung der Zollreform abzuschwächen geholfen, dass aber nicht einmal diese verschlechterte Reform ins Leben getreten ist, dass sie die endgültige Ablehnung zugelassen haben, daran trifft sie nicht mehr Schuld, als die übrigen Mitglieder der Staatskonferenz, als Metternich und [Karl Friedrich von] Kübeck [(1780–1855)]. Die hauptsächlichste Schuld trug das österreichische Regierungssystem […].“

Das Metternichsche System, dessen realpolitischer Zusammenhang sich auf die Person des Kaisers reduziert, verhinderte der Argumentation von A. R. zufolge den wirtschaftlichen Anschluss Österreichs an Deutschland. Die Geschichte Europas hätte einen anderen Verlauf genommen, doch welcher Verlauf dies gewesen wäre, kann und will A. R. hier gar nicht andeuten: „Aber der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland im vorigen Jahrhundert und der Anschluss Österreichs von heute haben miteinander nur mehr den Namen gemeinsam. Schon politisch hat sich das Bild ganz geändert. Damals war der Anschluss Österreichs an Deutschland eine rein deutsche Frage, deren Lösung nur durch die beiden deutschen Partner erfolgen sollte. Heute steht dem Anschluss, sei er auch nur rein wirtschaftlich, außer den inneren Hindernissen hier und in Deutschland, noch das harte Machtgebot der Sieger von 1918 entgegen. Aber der wichtigste Unterschied ist der wirtschaftliche. Heute ist Österreich ein armer Staat, der in dem Anschluss an Deutschland seinen letzten Rettungsanker sucht; damals war es wirtschaftlich eine achtungsgebietende Macht, deren Anschluss beiden Teilen zumindest den gleichen Vorteil gebracht hätte. Der Zusammenschluss zweier so mächtiger Wirtschaftsgebiete wäre ein Ereignis geworden, das imstande gewesen wäre, die wirtschaftliche Gestaltung Europas zu verändern. Heute würde der Anschluss höchstens die Rettung der Wirtschaft Österreichs bringen. Zweimal stand im vorigen Jahrhundert die Frage vor Österreich. Das erste Mal in der Metternichschen Periode zur Zeit der Gründung und Konsolidierung des Zollvereines, das zweite Mal nach der Revolution als ein Teil des Bruck-Schwarzenbergschen Planes76 des ‚70 Millionen Reiches‘. Beide Male scheiterte der Anschluss. War es in der zweiten Periode vor allem der durch den politischen Gegensatz Österreichs und Preußens hervorgerufene Widerstand des letzteren Staates gewesen, der den Anschluss verhindert hat, so hielt in der ersten Periode vor allem das Unverständnis der österreichischen Staatslenker Österreich von dem Anschluss ab. Als man in der Metternichschen Periode erkannte, wie notwendig der Anschluss gewesen wäre, machte das eingerostete Regierungssystem eine Umkehr und den Anschluss an den Zollverein unmöglich. Aber die Lehren aus den Niederlagen, die der Zollverein bereitet hat, suchte man auf dem Gebiet des Postwesens zu verwerten. Doch auch diese Reform verzögerte die ‚Staatskunst‘ Metternichs, so dass sie erst nach der Revolution vollendet wurde.“

Zu Beginn des zweiten Teiles seiner Dissertation resümiert A. R.: „War das Verhalten Österreichs gegenüber der deutschen Handelseinigung keineswegs einem Range als deutsche Großmacht entsprechend, verhinderten hier diplomatische Unfähigkeit, durch die Augenblicksinteressen beschränkter Horizont seiner Regierungsmänner sowie Nachgeben gegenüber dem Geschrei profitsüchtiger Kapitalisten einen Anschluss an den deutschen Zollverein, so spielte es doch auf einem anderen wichtigen Gebiete der materiellen Interessen Deutschlands eine rühmlichere Rolle. Österreich ist der Vorkämpfer und der Initiator der Einigung Deutschlands auf dem Felde der Postverhältnisse gewesen“.

Die Niederlage der bürgerlich demokratischen Revolution 1848/49 und die Festigung der preußischen Hohenzollern-Monarchie wie der österreichischen Habsburgermonarchie separierten die deutsche Bevölkerung Österreichs von der sich rasant entwickelnden deutschen Nation. Mit seiner Einschätzung der historischen Langzeitfolgen des überholten politischen Systems und mit seiner Betonung der gestaltenden ökonomischen Geschichtskräfte geriet A. R. in Widerspruch zu Srbiks Interpretation der Metternichschen Ära. Srbik kommentiert in dem in der Nationalbibliothek überlieferten Typoskript von A. R. eigenhändig: „Wenn Sie schon polemisieren, dann bitte ehrlich! Srbik“. Es spricht für Srbik, dass er A. R. keine Steine in den Weg legte, was mit dem universitätsinternen antisemitischen Netzwerk „Bärenhöhle“ möglich gewesen wäre.77 Nach Approbation seiner Dissertation bereitete sich A. R. auf die Ablegung der strengen Prüfungen vor und promovierte am 23. Mai 1928 zum Dr. phil. Die Drucklegung seiner Doktorarbeit unterblieb, doch findet sie sich im 1954 (!) erschienenen dritten Srbikschen Metternich-Band annotiert.78

Gutachten von Alphons Dopsch und Heinrich Srbik über die Doktorarbeit von Arnold Reisberg (1927)

Die vorgelegte Arbeit hat außer der gedruckten Literatur, über welche das Verzeichnis am Schlusse (S. 177 ff u. bes. 188 f) Aufschluß gibt, archivalische Quellen der Wiener Staatsarchive verwertet. Sie gibt eine übersichtliche Darstellung der Bestrebungen Österreichs, den wirtschaftlichen Anschluß an Deutschland, will damals sagen den deutschen Zollverein, zu gewinnen. Das Scheitern dieser Versuche, für welche mit der Krise des Zollvereines Anfangs der 40er Jahre, zunächst günstige Vorbedingungen auftraten, wird wohl zu einseitig beurteilt (vgl. S. 53) u. dabei zu wenig auf die politischen u. verfassungsrechtlichen Auswirkungen Rücksicht genommen. Die zweite Phase stellen die Wirtschafts-Verhandlungen mit Preußen nach der Einverleibung Krakaus in die Habsburgische Monarchie (S. 55 ff) dar.

 

Als Kernpunkt der Arbeit kann die Geschichte der Gründung des deutschen Postvereines bezeichnet werden (S. 72 ff), welche durch Österreich angeregt worden ist u. bisher keine entsprechende Behandlung gefunden hat, obwohl derselbe als Vorläufer des Weltpostvereines zu betrachten ist.

Der Verf. hätte vielleicht an verschiedenen Stellen etwas mehr Zurückhaltung in der Äußerung subjektiver Urteile beobachten sollen, da dies die persönliche politische Einstellung zu deutlich erkennen läßt. Im ganzen bekundet er aber eine zureichende Vertrautheit mit den Grundsätzen historischer Methodik u. hat es auch verstanden, das vielfach spröde Quellenmaterial zu einer lesbaren Darstellung zu verarbeiten.

Ich glaube daher, daß diese Dissertation genügt, um den Verf. zu den strengen Prüfungen zuzulassen.

Wien 10. Oktob. 1927 A. Dopsch m.p.

Ich schließe mich obigem Gutachten an und lehne gleichfalls die – zum Teil mit den Quellen geradezu unvereinbaren – Werturteile der im übrigen fleißigen und recht brauchbaren Arbeit ab, soweit der erste Hauptteil (Zollvereinsfrage) in Betracht kommt.

Wien 13. Oktober 1927 Srbik m.p.

III Vortragender, Agitator und Organisator in verhängnisvollen Jahren

„Ein Geistesarbeiter, der drüben marschiert,

der ist in Wirklichkeit deklassiert,

nutzt euer Wissen und eure Kraft

im Dienst der kämpfenden Arbeiterschaft!

Erst in der neuen Welt, nicht in der alten,

kann des Geistes Arbeit sich voll entfalten!“

Erich Weinert (1890–1953)79

Die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft von A. R. lebt davon, dass er den Marxismus-Leninismus nicht angelernt, sondern mit ihm gehandelt hat. Er war Revolutionär, was bedeutet, dass er ausgesetzt und engagiert war, dass er richtend und gerichtet war. Seinem großartigen Werk über Lenin hat A. R. eine seine Bescheidenheit kennzeichnende Rückerinnerung vorangestellt: „Doch sei mir gestattet, hier einen bescheidenen Dank an den Menschen abzustatten, dessen Ideen mein ganz bewusstes Leben bestimmt haben, seit ich als siebzehnjähriger Gymnasiast – mehr zufällig im Protokoll des Gründungskongresses der Kommunistischen Internationale zum ersten Mal kennengelernt habe. 1923 Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes Österreichs, 1924 Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs geworden, habe ich seither kein höheres Ziel gekannt, als Lenins Gedanken, den Marxismus-Leninismus, zu propagieren, unter den Arbeitern und der studierenden Jugend zu verbreiten. Ich war immer stolz darauf, ein treues Mitglied der Kommunistischen Partei, der kommunistischen Weltbewegung zu sein, und will auch mit diesem Buche einen Beitrag zur Verbreitung ihrer Ideen leisten“.80 Mit Lenin denkt A. R. die russische Revolution als großen geschichtlichen Bezugspunkt mit. Der einige Jahre weltweit gehuldigte Kultintellektuelle Karl Popper resümiert sein intellektuelles Erweckungserlebnis: „Mit siebzehn Jahren war ich Anti-Marxist“.81 Immerhin, Popper empfand Lenins Buch über den Empiriokritizismus als „ganz ausgezeichnet“.82 Popper richtete sein persönliches Leben in der „Zivilisation des Reichtums“ komfortabel und parasitär ein, ganz anders als jenes parallele Leben von A. R., für den die Begegnung mit dem Marxismus-Leninismus nicht zu einem intellektuellen Bildungserlebnis hinabsank, sondern dessen Erkenntnisse ihm Motivation gaben, seinem Leben den Sinn des Kampfes für die Befreiung der Arbeiterklasse und mit ihr der Armen von Unterdrückung, Sklaverei und Krieg zu geben. Für sein militantes Engagement nahm er aus seinem politischen Kampf herrührende Konflikte an und erbrachte viele, den historischen Zeitumständen geschuldete und nur mit seiner Überzeugung durchhaltbare persönliche Opfer.

Zu dem am 2. März 1919 in Moskau beginnenden Kongress hatte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Russlands konspirativ Vertreter revolutionärer Parteien zur Beratung über die Frage der Gründung der Kommunistischen Internationale (III. Internationale) eingeladen. Etwa 50 Delegierte aus 30 Ländern Europas, Asiens und Amerikas kamen auf gefahrvollen Wegen durch die Fronten des Bürgerkrieges und der Interventen nach Moskau.83 Das Protokoll des I. Kongresses der Kommunistischen Internationale (Moskau, 2. – 19. März 1919) war noch druckfrisch, als es A. R. zufällig in die Hände bekam.84 Die am 3. November 1918 gegründete kommunistische Partei von Deutsch-Österreich war mit den Parteien von Russland, Deutschland, Ungarn, der Balkanföderation, der Schweiz und Skandinavien im ersten Exekutivkomitee vertreten. Von Anfang an war die Komintern bemüht, Funktionäre aus allen Ländern heranzuziehen. A. R. war es wichtig, das festzustellen, weil es ihm ein Beleg dafür ist, dass die Sowjetische Partei trotz der moralischen Autorität aufgrund ihrer siegreichen sozialistischen Revolution die Internationalität hochhielt. Das Schlusswort von Lenin auf diesem I. Kongress war voll Hoffnung: „Mag die Bourgeoisie der ganzen Welt noch so wüten, mag sie die Spartakusleute und Bolschewiki ausweisen, einkerkern, ja ermorden, dies alles hilft ihr nichts mehr. Dadurch werden die Massen nur aufgeklärt, von ihren alten bürgerlich-demokratischen Vorurteilen befreit und zum Kampf gestählt. Der Sieg der proletarischen Revolution in der ganzen Welt ist sicher. Die Gründung der Internationalen Räterepublik wird kommen“.85 A. R. war intellektuell offen und brachte das ihm zufällig in die Hände gefallene Protokoll der Gründung der III. Internationale mit den ihn umgebenden Bedingungen in einen Zusammenhang. Es beschäftigte ihn immer wieder, 40 Jahre später sollte A. R. in der Berliner Zeitung Neues Deutschland einen Leitartikel Zum 45. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Internationale. Ein Werk im Geiste W. I. Lenins schreiben und darlegen, dass mit der III. Internationale der Grundstein für die Wiederherstellung der jahrelang vom revisionistischen Einfluss zersetzten und 1914 auseinander gebrochenen Internationalen Arbeiterbewegung geschaffen worden war.86 Die KI wurde im Kriegsjahr 1943 aufgelöst. Der Entscheidung lag die Realität zugrunde, dass seit der Gründung der KI die kommunistischen Parteien in asiatischen und lateinamerikanischen Ländern, in China ohnehin auf sich selbst gestellt inzwischen zu wichtigen nationalen Faktoren geworden waren. Und in den europäischen Ländern waren während des Weltkrieges die kommunistischen Parteien zu kraftvollen nationalen Faktoren des Widerstandes geworden. In seiner Studie über Die Hilfe der Kommunistischen Internationale bei der ideologischen Festigung der kommunistischen Parteien in der Zeit der revolutionären Nachkriegskrise 1919–1923 beschreibt A. R. die Umstände, weshalb es in den kapitalistischen Ländern noch nicht gelungen war, eine entscheidende Veränderung der Kräfteverhältnisse zugunsten der revolutionären Arbeiter durchzusetzen: „Die Fehler der Kommunistischen Internationale waren Irrtümer von Menschen, begangen im Feuer des Klassenkampfes, begangen im erbittertsten, aufopferungsvollen Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse vom Joch des Imperialismus. Sie waren Fehler im Rahmen einer richtigen revolutionären Politik. Die ‚Fehler‘ der rechten Sozialdemokratie dagegen waren das Ergebnis ihrer falschen, arbeiterfeindlichen, auf die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie zur Erhaltung des kapitalistischen Systems gerichteten und daher notwendigerweise antikommunistischen Gesamtpolitik“.87 A. R. war offen und frei im Denken, er hatte Phantasie.88 Gute Bücher können einen schon in Gang gekommenen Prozess strukturieren, wenn sie einen solchen nicht überhaupt auslösen. Davon schreibt der Widerstandskämpfer und Jurist der Arbeiterklasse Eduard Rabofsky (1911–1994)89, dem als Autoschlosser das 1927 im Wiener Verlag der Jugendinternationale erschienene Buch Das politische Grundwissen des jungen Kommunisten von linken Intellektuellen gegeben wurde, welches für ihn Anstoß war, Kommunist zu werden.90 Das Buch ist sehr bemüht, Wesentliches lesbar darzustellen, und erklärt erläuterungsbedürftige Worte, wobei manche dieser Erklärungen hinter marxistisches Wissen zurückfallen, zum Beispiel wenn zum Wort „Nation“ die Erklärung gegeben wird: „= die Gesamtheit derjenigen Menschen, die die Sprache gemeinsam haben; Volk“. Die Diskussion, ob und in wieweit die Österreicher zur deutschen Nation gehören, war noch weit weg, obschon gerade in Wien Josef Stalin (1878–1953) seine Studien über Marxismus und Nationale Frage geschrieben und argumentiert hatte, dass die Sprache einzeln genommen zur Begriffsbestimmung der Nation nicht ausreicht.91 Stalin hatte seinen Text in klarer Sprache und verständlich geschrieben, was stets ein Grundzug von ihm war. Der Einleitung zum Grundwissen ist als Motto vorangestellt die treffende Aussage von Josef Dietzgen (1828–1888): „Das erste Erfordernis eines Arbeiters, der mitarbeiten will an der Selbsterlösung seiner Klasse, besteht darin, sich nichts wissen machen zu lassen, sondern selbst zu wissen … Die Kenntnis des Kapitals unseres gemeinsamen Gegners im sozialen Kampf ist ein allgemeines Klasseninteresse, dessen sich jeder anzunehmen hat“. Rabofsky wird, wie er dem Autor zu bestimmten Anlässen wie 1989/90 gesagt hat, daraus mitgenommen haben, dass ein Revolutionär alles vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zu beurteilen hat und Kommunist nur werden und bleiben kann, wenn er sich möglichst viele Erkenntnisse aneignet, auf denen der wissenschaftliche Kommunismus aufbaut. Die begründete Meinung, man könne sich mit Lesen vergiften, hielt Eduard Rabofsky zeitlebens an, seine Literatur sorgsam auszuwählen und kritisch einzuschätzen. Das kommt gut in einer Buchwidmung an Walter Hollitscher zum Ausdruck: „Man schlage ihnen ihre Fressen mit schweren Eisenhämmern ein … François Villon [(1431–1463)], Bert Brecht [(1898–1956)] und auch anderen“.92 Der junge Lenin las in seiner zehn Monate dauernden Verbannung in Kokuschkino viele Bücher leidenschaftlich. Der großrussische Demokrat Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski (1828–1889), der fast die Hälfte seines Lebens in Verbannung und im Kerker verbrachte und alles der revolutionär demokratischen Idee unterordnete, wurde in diesen Monaten der „liebste Autor“ von Lenin93 und übte auf seine weitere Entwicklung „eine entscheidende Wirkung“ aus.94 Mit seinem dialektischen Denken hat Tschenyschewski Einsichten über die Widerspiegelung objektiver Sachverhalte in wissenschaftlichen Theorien eröffnet, die für die Wissenschaftsentwicklung prinzipiell sind.95 So wies Lenin mit Tschernyschewski in seiner 1908 abgeschlossenen Arbeit über Materialismus und Empiriokritizismus96 den idealistischen Reduktionismus zurück und ging davon aus, dass alle Erscheinungen der Welt wechselseitig miteinander zusammenhängen. Jede Wechselwirkung ist in diesem Sinne Widerspiegelung einer Erscheinung durch andere Erscheinungen. Natürlich hatten schon Marx und Engels Tschernyschewski, der ein Vorläufer von ihnen gewesen war, als einen „großen russischen Gelehrten und Kritiker“ sehr geachtet, er hätte die bürgerliche Ökonomie nach John Stuart Mill (1896–1873) „meisterhaft beleuchtet“.97 Der Verlag der Sowjetischen Militärverwaltung in Berlin gab 1947 eine von Nikolai Beltschikow (1890–1979) eingeleitete deutsche Übersetzung des Buches Was tun? von Tschernyschewski in der illusionären Hoffnung auf einen neuen deutschen Menschen heraus.98 Georg Lukács (1885–1971) analysierte das Wesen der schöpferischen Persönlichkeit von Tschernyschewski.99 Lenins Leben mit Büchern war A. R. „die personifizierte Verbindung der russischen mit der gesamten europäischen Kultur“.100

 

Gemeinsam mit A. R. waren Alfred Klahr (1904–1944) und Arnold Deutsch (1904–1942) der KPÖ beigetreten. Haben sie sich vor der Synagoge darüber unterhalten? Es war für diese drei Studenten keine intellektualistische Eskapade, sondern ihre Lebensentscheidung, für erneuernde und befreiende Kräfte gemeinsam tätig zu werden. Sie sahen Unterdrückung, hatten Mitgefühl und wollten ihr etwas entgegensetzen. Lenin hatte in seiner Würdigung von August Bebel (1840–1913) allerdings auf den langwierigen Prozess der Herausbildung erfahrener und einflussreicher Parteiführer hingewiesen: „Die Bebel fallen nicht vom Himmel, wie Minerva dem Haupte Jupiter entsprang, sondern sie werden von der Partei und der Arbeiterklasse hervorgebracht“.101 Klahr, dessen Vater seine Familie mit vier Töchtern und einem Sohn als Hausierer und ritueller Fleischbankaufseher der Israelitischen Kultusgemeinde irgendwie durchbringen musste, wohnte im II. Bezirk in der Novaragasse 17–19 und war seit 1924/25 an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät Student des erst in der Republik eingerichteten Studienganges Staatswissenschaften.102 In seinem zweiten Studienjahr konnte er die bürgerliche Polemik des Rechtsphilosophen Alexander Hold-Ferneck (1875–1955) und die damit einhergehenden Proteste der deutschvölkischen Studentenschaft gegen den aus dem Prager Judentum stammenden brillanten Rechtstheoretiker Hans Kelsen (1881–1973) wahrnehmen. Als Dekan für das Studienjahr 1926/27 kam Kelsen, der in der bürgerlichen Professorenwelt gut zurechtkam und Hold nichts schuldig blieb, nicht mehr in Frage. „Wir Deutsche“, so argumentiert Kelsen 1926, sind der Auffassung, dass es „ein sittlich unerträglicher Zustand“ sei, zu einem Gemeinwesen zusammengezwungen zu werden, „das jedes inneren Sinnes, jeder politischen Idee entbehrt“. Das heutige Österreich sei „nichts anderes als ein willkürlicher Fetzen Landes“.103 Seine Doktorarbeit über „Das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung in parlamentarischen Republiken“ reichte Klahr bei Adolf Merkl (1890–1970) am 21. April 1928 ein. Der heute allseits als „Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung“ applaudierte Kelsen vertrat in diesen Jahren zu Österreich noch die Meinung: „Weder historische noch nationale, noch religiöse, noch kulturelle Gründe sind es, die das heutige Österreich rechtfertigen können, das nichts als ein willkürlicher Fetzen Landes ist…“. Merkl beschied Klahr in seinem Gutachten (10. Mai 1928) einen „ungewöhnlich guten juristischen und politischen Blick“, womit Kelsen einverstanden war (11. Mai 1928).104

Die Eltern von Arnold Deutsch waren nach Wien übersiedelte orthodoxe Juden, weshalb seine Hinwendung zum Kommunismus mit vielen innerfamiliären Konflikten verknüpft war. Während seines Chemiestudiums arbeitete er mit dem 1926 an der Technischen Universität wegen seiner jüdischen Herkunft als Habilitationswerber abgelehnten, seit 1920 international bekannt gewordenen Pionier der qualitativen Analyse von Tüpfelreaktionen Fritz Feigl (1891–1971) zusammen und veröffentlichte einen Artikel.105 Seine Dissertation „Über Silber und Quecksilbersalze des Amidobenzothiazols sowie über eine neue Methode der Quantitativen Silberbestimmung“ verfasste er, wie in seinem am 2. Mai 1928 eingereichten Curriculum ausdrücklich festgestellt wird, „bei Herrn Priv. Doz. Dr. ing. Fritz Feigl, II. chem. Institut“. Sie wurde am 18. Mai 1928 von Ernst Späth (1886–1946) und Rudolf Wegscheider (1859–1935) als „immerhin genügend“ approbiert. Beim zweistündigen Rigorosum (18. Juni 1928) gaben ihm beide Chemiker ein „Genügend“, der Physiker Felix Ehrenhaft (1879–1952) war ungehalten und gab dem Prüfling ein Nichtgenügend. Dekan Othenio Abel (1875–1946), ein Paläobiologe, entschied „per majora approbirt“. Dekan Abel war von Deutsch beeindruckt, er entschied auch beim einstündigen Philosophicum von Deutsch, das von Schlick, der dem Kandidaten ein „Ausgezeichnet“ gab, und von Robert Reininger, der ihn mit „Genügend“ beurteilte, schon am 13. Juli 1928 abgenommen wurde, dass Deutsch „per vota maiora mit Auszeichnung“ als Zeugnis erhalte.106 Arnold Deutsch, der in seinem Lebenslauf für die Einreichung der Doktorarbeit noch erklärte, mosaischer Konfession zu sein, und mit 1929 Josefine („Fini“) Rubel ehelichte, wurde mit seiner Riesenbegabung von den Sowjets für die kommunistische Weltbewegung rekrutiert, der Nachwelt ist er als sowjetischer Agent um Harold Adrian Russel ‚Kim‘ Philby (1912–1988) bekannt. Peter Stephan Jungk (*1952), Sohn des humanistisch gesinnten und antiimperialistischen Zukunftsforscher Robert Jungk (1913–1994) weiß recht gut und detailliert, oft mit Schlüssellochblick, von familiären Geschichten zu erzählen.107

Irgendeine staatliche Anstellung als promovierter Historiker war für A. R. nirgends in Aussicht, er konnte eine solche auch gar nicht haben, aber nicht nur weil er Jude und noch dazu Kommunist war. Er hatte weder den für eine Anstellung an einem Archiv notwendigen Kurs des Instituts für österreichische Geschichtsforschung absolviert noch hatte er die für eine Anstellung an einer Höheren Schule notwendige Lehramtsprüfung mit zwei Fächern abgelegt. Es ergab sich, dass A. R. in der Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei Fuß fassen und für sie eine Abendschule organisieren konnte. Er lernte in der Partei die Genossin Eleonore Reiter (*Wien, 3. Oktober 1908) kennen, beide heirateten und die junge Frau verdiente als Näherin Zubrot zum Überleben. Die Kommunistische Partei war zur Zeit des Eintritts von A. R. keine geschlossene Kampfgemeinschaft, es gab Flügelkämpfe. Leopold Hornik (1900–1976), der aus dem rumänischen Dej stammte und in Wien maturiert hatte, mit Leo Rothziegel (1892–1919) und Egon Erwin Kisch (1885–1948) Mitbegründer der Roten Garde in Wien, wollte 1927 von Wien aus die Einberufung einer Konferenz der Kommunistischen Parteien der Balkanländer zur Ausarbeitung gemeinsamer Zielsetzungen vorantreiben.108 Das wurde von dem einflussreichen Friedl (Siegfried) Fürnberg (1902–1978) als Illusion abgetan. Die Meinung von Wilhelm Siegmund (Willi) Schlamm (1904–1978), der wie A. R. aus dem galizischen Judentum (Premyšl) nach Wien gekommen war und dessen „Karriere“ eine diesem völlig konträre war, hielt eine Verbindung der österreichischen Partei mit Deutschland „viel selbstverständlicher“.109 Schon früh widersprach Friedl Fürnberg dem Opportunismus von Schlamm, als dieser die These vom „Ohnmachtsgefühl der österreichischen Arbeiterklasse“ aufstellte.110 Schlamm verfasste mit viel Pathos den Februartext „So helft ihnen doch!“.111

1922 (5. November bis 5. Dezember 1922) nahm Fürnberg als Delegierter der Kommunistischen Jugend Österreichs am IV. Kongress der KI teil.112 Lenin war schon krank, leitete aber die Grundsatzentschließungen des sich ihm begeistert zuwendenden Kongresses an. Sich den Massen zuzuwenden und konkrete Wege zu finden, um diese in den kapitalistischen Ländern wie in den kolonial unterdrückten Ländern zur sozialistischen Revolution zu führen, stellte sich die KI als zentrale politische Aufgabe. Sie konnte sich auf die internationale Disziplin der kommunistischen Parteien verlassen. Die sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale stellten sich gegen jede Kooperation. In Wien wollte Josef Frey (1889–1957), aus einer gut betuchten deutschsprachigen jüdischen Familie im tschechischen Strakonitz (Strakonice) stammend und promovierter Jurist der deutschen Prager Universität, um 1927 eine Spaltung der jungen KPÖ durchsetzen. Über solche Differenzen hinaus leuchtete das Potential der Partei immer wieder auf und zu diesem Potential gehörte A. R. Am 23. Jänner 1927 nahmen 800 Personen in der Wiener Volkshalle an der Lenin-Feier teil. Diese von Johann Koplenig (1891–1968) eröffnete Veranstaltung war gleichzeitig der von Delegierten des Jung-Spartakusbundes besuchte I. Reichskongress der Roten Jungpioniere und wurde von der Roten Fahne als mächtige Kundgebung für die Einheit der Partei gewertet.113 Die kommunistische Frauentagsversammlung am 6. März 1927 im X. Wiener Bezirk wurde von 200 Personen besucht. Der IX. Parteitag der KPÖ im II. Wiener Bezirk brachte eine Klärung der Differenzen und, wie A. R. in seinen Archivexzerpten zur Geschichte der Partei resümierte, „ein bisher selten erreichtes Maß an innerer Geschlossenheit“. Frey war mit Unterstützung von Hornik ausgeschlossen worden. Der Parteitag beauftragte das Zentralkomitee, eine breite innerparteiliche Kampagne für den Austritt aus den Religionsgemeinschaften einzuleiten.