Der Fisch

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Kapitel 5.

Vor dem Haus in Wulfen fuhr Edwins roter Ferrari Portofino vor. Er war nicht allein. Nana war bei ihm, die jüngere Schwester Raphaels. Den Spitznamen hatte sie sich selbst zugelegt, weil sie sich als Kind immer so genannt hatte. Sie stammte ebenfalls aus Cotonou in Benin. Mit ihren strahlenden Augen und dem weißen Fleck an der linken Schläfe und der leichten, freundlichen Art, ähnelte sie ihrer Mutter. Zu ihrer Freude nicht in der Gestalt. In dieser Richtung hatte sie mehr vom Vater mitbekommen. Während der Körper der Mutter nicht zuletzt durch die Arbeit in der Landwirtschaft kräftig und gedrungen wirkte, hatte sie eher die Maße eines Models aufzuweisen. Ihr glattes Haar und der hellere Teint erinnerten die Familie daran, dass der Großvater aus Frankreich stammte. Er war Ingenieur gewesen und hatte beim Bau der Eisenbahn vom Hafen Cotonou in den Norden mitgewirkt. Heute war es eine der wichtigsten Transportrouten des Landes.

Edwin stammte aus der Flur »Station« der Gemarkung Vlodrop, einem kleinen Dorf in der niederländischen Provinz Limburg, wenige Kilometer von Roermond und weniger als einen Katzensprung zu Fuß von der deutschen Grenze entfernt. Er war immer noch bei seinen Eltern gemeldet, die dort ein feines Restaurant betrieben mit einigen Hotelzimmern für Leute, die dort ein Wochenende in der einsamen Ruhe der Heide genießen wollten. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr lebte er überwiegend in Deutschland. Seine holländischen Eltern konnte er nicht verleugnen. Groß, blond, blaue Augen. Wenn Edwin sie besuchte, fuhr er häufig durch den Wald über die Grüne Grenze. Das war kürzer, als mit dem Auto über den Grenzübergang zu fahren.

Beatrice öffnete die Tür und begrüßte sie freundlich. Sie waren nicht zu erreichen gewesen, erfuhr sie, weil die beiden mit einem auf einen Kleintransporter verladenen Fahrzeuge zum Hafen nach Zeebrugge unterwegs gewesen waren und deshalb ihre anderen Handys dabeihatten.

»Daran habe ich nicht gedacht. Hätte man mir auch sagen können. Ich habe euch gesucht. War der Transport nicht für übermorgen angedacht?«

»Wir hatten einen heißen Wagen. Er ist inzwischen verladen. Den findet keiner mehr«, klärte Nana sie auf.

»Das Schiff legt wie geplant heute Abend ab«, ergänzte Edwin. »Wir sind heute Nacht um halb zwei vom Hof gefahren. Wir waren gut unterwegs. Der Lademeister in Zeebrugge hat uns gegen ein kleines Taschengeld wie immer problemlos durchgeschleust, so konnten wir gegen elf Uhr zurück. Jetzt sind wir hier. Wir konnten Sie nicht benachrichtigen, Bea, weil Sie im Flugzeug saßen. Wie war Ihre Reise?«

»Der Flug war unkompliziert wie immer. Ich konnte über Nacht fliegen. Dann kommt es einem nicht so lang vor. Von Cotonou bis Düsseldorf war ich knapp fünfzehn Stunden unterwegs, weil ich in Rabat umsteigen musste. Aber das wolltet ihr nicht wissen. Euch interessiert das Geschäft. Es hat sich gelohnt. Ich bin zufrieden. Setzt euch. Raphael lässt dich herzlich grüßen.«

»Danke. Ich habe gestern Abend mit ihm telefoniert«

Beatrice schob die große Glastür zur Seite und frische Luft flutete über die Terrasse herein. Der Frühling hatte begonnen, aber nur kalendarisch. Es war jedes Jahr dasselbe. Sie wartete auf den März, dann den April, jetzt ging bereits dieser Monat dem Ende zu, aber einen durchschlagenden Erfolg hatte der Frühling noch nicht gebracht. Heute war indes ein wunderschöner Tag.

»Warum seid ihr zu zweit nach Zeebrugge gefahren? Ihr seid in einem Rutsch hin und zurück kutschiert? Du hast einen Führerschein für Lastwagen, glaube ich.«

»Genau, aber für den Transporter habe ich ihn nicht benötigt«, antwortete Nana. »Wir wollten uns abwechseln. Für einen allein ist die Tour zu weit. Zu zweit konnten wir innerhalb von einem Tag wieder zurück.«

»Sagtet ihr schon. In Benin habe ich – besser gesagt Raphael - die Voraussetzungen geschaffen, den Umsatz mit Gebrauchtwagen zu verdreifachen. Dein Bruder«, sie blickte Nana an, »hat es geschafft, ein an unser Gelände grenzendes Grundstück zu erwerben. Beide Grundstücke zusammen wollen wir als Lagerplatz für Wagen benutzen. Das Areal ist über einen Quadratkilometer groß. Raphael meint, es gehen bis zu einhunderttausend Autos auf den Platz.«

Sie ließ die Worte sacken.

Die Antwort kam von Nana. »Ist es das Gelände der alten Fabrik? Sie haben Steine gebrannt, glaube ich.«

Bea nickte.

»Dann müssen wir hier neue Zentren aufbauen, an denen wir die Wagen kaufen. Sportplätze wie in Essen reichen dann nicht mehr aus. Mir fallen spontan die Parkplätze vor Fußballstadien ein. Wenn man dort mit fünf Leuten antritt … jeder schafft drei Wagen in der Stunde … sind in drei Stunden«, er überschlug, »fünfundvierzig Autos. Müsste zu schaffen sein. So kommen wir bei drei Tagen in der Woche auf einhundertfünfunddreißig Wagen. Bei drei Stadien sind das rund vierhundert Autos in der Woche.«

»Damit können wir jede Woche einen Zug Richtung Zeebrügge beladen. Die Autotransportschiffe laden dort bis zu achttausend Wagen ein. Da werden wir unsere Vierhundert problemlos unterbringen können. Ich kann mich umhören. Ich kenne einen Verlademeister, der uns helfen kann … und wird. Er ist immer sehr entgegenkommend.«

»Bekommen wir so viele Autos zusammen? Gehst du davon aus?«, fragte Bea. »Raphael hat mir versichert, er schafft die Menge. Er kann mit der doppelten Anzahl Wagen fertigwerden.«

»Wenn wir hier in unserem Umkreis nicht so viele Autos ankaufen können, dürfen wir uns nicht auf unser Einzugsgebiet beschränken. Wir müssen expandieren. Wir könnten uns nach Norddeutschland ausbreiten und diese Autos über Bremerhaven verschicken. Andere Häfen schaffen diese Menge Autos nicht, da sie nicht die Parkplätze vor den Anlegern zur Verfügung haben. Dazu kommen die Fahrer, die die Autos auf die Fähren bringen.«

»Was passiert«, wandte Beatrice ein, »wenn wir anderen Mitbewerbern in die Quere kommen?«

»Ich denke, da werden wir Wege finden.« Edwin rasierte einmal mit dem Daumen an seiner Kehle vorbei und lachte.

»Es wäre schön, wenn wir die Möglichkeiten, die uns geboten werden, ausschöpfen könnten. Nicht jedoch sofort an Krieg denken.«

Kurze Pause. Dann fuhr Beatrice fort:

»Was gibt es von euch aus Neues? Habt ihr etwas über die Ratte erfahren können, von der du mir erzählt hast, Edwin?«

»Nein. Ich vermute jemanden von außen, der sich bei uns eingeschleust hat und uns ausspioniert.«

»Du meinst, wir haben einen Bullen im System?«

»Jedenfalls sollten wir vorsichtig sein und Informationen nur an den innersten Kreis weitergeben.«

»Könnte es Mike sein?«

»Wie kommst du auf den?«, fragte Nana.

»Er wusste, dass die Oxygene den Dorstener Gewerbehafen anlaufen solle, war aber nicht zugegen, als sie einlief und der Polizeieinsatz anrollte. Die Kontrolle des Schiffes wäre seine Aufgabe gewesen.«

Nana war erstaunt. »Ich denke, er hat die Gelder eingesammelt?«

»Sagte er, aber ich bin heute die Dealer abgefahren und habe das Geld eingesammelt. Sie haben ihn das letzte Mal vor einer Woche gesehen.«

»Also beim letzten Kassieren?«, vermutete Beatrice.

»Haben sie gesagt. Nur bei May war er und hat kassiert. Zweiundzwanzigtausend.«

»Wann war das?«

»Vorgestern Abend. Ich habe vorher mit ihm telefoniert. Er sagte, er sei unterwegs zu ihr. War er auch, aber er ist nur bei May vorbeigefahren. Das hat sie mir bestätigt. Warum er die anderen nicht besucht hat, weiß der Himmel.«

»Wo ist das Geld jetzt?«

»Gefunden haben wir sie nicht. Ich will nicht hoffen, dass er mit den zweiundzwanzig Riesen durchgebrannt ist.«

»Dazu ist der Betrag zu gering.« Beatrice schüttelte den Kopf. »Was will er damit? Er kommt nicht einmal einen Schuss weit!«

»Nun …, wer weiß, ob er May besucht hat? Vielleicht hat sie das Geld noch und behauptet, es ihm ausgehändigt zu haben. Wir sollten das nachprüfen.«

»Das machte nur Sinn, wenn sie wüsste, dass Mike nicht mehr auftaucht. Also müssen wir ihn dringend sprechen. Wo treibt er sich herum?«

»Wir wissen es nicht. Ich nicht und Nana auch nicht. Wir haben versucht, ihn zu erreichen, aber sein Handy scheint abgeschaltet.«

»Würdest du bitte zu seiner Kneipe fahren und nachsehen? Frage ihn auch, warum er das Geld nicht eingesammelt hat.«

»Ich kümmere mich drum.«

»Ist er abgetaucht? Es gibt keinen Anhaltspunkt. Eine Nachricht hat er nicht geschrieben. Haben wir andere Infos?«

»Ich habe nichts gehört«, erklärte Edwin.

»Ich auch nicht, gar nichts«, bestätigte Nana.

»Wieviel hast du eingesammelt?«

»Sechsunddreißig. Wir waren zusammen unterwegs. Die neuen Dealer sind noch nicht so vernetzt. Sie haben bisher keinen festen Kundenstamm.«

»Was ist mit den Wettbüros?«

»Sie haben das Geld transferiert. Ich denke, es ist bereits im Libanon. Es waren dreihundertachtzigtausend.«

Kapitel 6.

Gegen Mittag waren die beiden Leute der Spurensicherung zurück. Willi Schmidt hatte Berendtsen und Hallstein zu sich gerufen.

Den Mann, Berendtsen schätzte ihn auf sechzig Jahre, ›leicht untersetzt‹, wie diese Körperform in der Sprache der Gallier beschrieben wird, stellte Willi als altgediente und erfahrene Kraft vor.

»Bei dem Haus handelt es sich um ein Zechenhaus, ein Doppelhaus. Links eine Familie, rechts eine andere. Wir parkten vor der linken Haustür. Sie war aufgebohrt und stand offen. Die Wohnung war offensichtlich durchsucht worden. Alles stand Kopf. Ganze Arbeit. Wir fanden verschiedene Dokumente, die auf den Namen Uli und Inga Nowiczek lauteten. Auch in einem Telefonverzeichnis fanden wir weitere Leute mit diesem Namen. Damit nicht genug, Chef. Während wir uns umsahen, kamen Kollegen aus Bottrop und sahen nach dem Rechten. Die Nachbarn der anderen Seite hatten sie benachrichtig. Unser Mann hatte mit dieser Adresse nichts mehr zu tun. Natürlich war die Angelegenheit leicht geklärt. Wir durften dann weiter nach Hinweisen auf den Einbrecher suchen, obwohl das Sache der Bottroper Spurensicherung gewesen wäre. Die Kollegen der Bottroper KTU kamen dann und wir haben uns ausgetauscht.«

 

»Wir haben uns entschuldigt, weil wir nicht auf das Klingelschild geschaut haben, aber für uns war die Sache klar. Die Adresse stimmte, die Tür war aufgebrochen. Passte alles. Tut uns leid. Die Kollegen haben bei ihrer Dienststelle nachgefragt. Der Mann ist dort noch immer gemeldet. Die Nachbarn haben uns aufgeklärt. Er hat ein knappes Jahr dort gewohnt. Eines Morgens hat er die Wohnung verlassen und ist nicht zurückgekommen. Wenig später sind die neuen Nachbarn eingezogen«, ergänzte die hübsche junge Frau, die dem Dicken zur Seite gestellt war und von ihm lernen sollte. »Anscheinend hat er seinen Wohnsitz nicht umgemeldet. Das scheint unser Täter nicht mitbekommen zu haben. Er hat die Adresse aus dem Melderegister oder aus dem Verzeichnis vom Platzwart.«

»Irgendein Hinweis auf den, der die Wohnung vor euch besucht hat?«, fragte Berendtsen.

»Nichts was ins Auge springt.« Er zog die Schultern hoch. Aus dem Doppelkinn wurde ein dreifaches. Er griff in seine Hosentasche und förderte ein ordentliches Taschentuch zutage, mit dem er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Anschließend befreite er sich von seinem Anorak und hielt ihn über dem Arm. »Wir haben mehrere Fingerabdrücke genommen. Sie sind bereits in der KTU.« Aus der anderen Hosentasche holte er die Schlüssel und legte sie Willi auf den Schreibtisch.

»Danke für eure Mühen. Wenn ich euch brauche, melde ich mich. Wenn euch noch etwas einfällt … Alles klar. Eines noch! Was haben diese Leute Nowiczek zu eurem Auftritt gesagt?«

»Wir haben sie gar nicht kennengelernt«, schmunzelte der Dicke. »Es ist ein Ehepaar, Rentner bereits. Die Frau liegt im Krankenhaus, er hat sie besucht. Das wissen wir von den Nachbarn. Er fällt in Ohnmacht, wenn er nach Hause kommt.«

»Vielleicht erreichen die Nachbarn sie vorher und können sie schonend vorbereiten«, hoffte das Mädchen.

»Es ist immer ein Schock für die Leute, wenn sie nach Hause kommen und finden die Wohnung nach einem Einbruch vor. Alles durchsucht. Sie brauchen lange, bis sie sich wieder in privater Atmosphäre wähnen. Wir haben das schon oft erlebt. Schließlich sind wir immer die ersten am Tatort. Nach den Einbrechern natürlich.«

»Alles klar. Wir sehen uns!«

»Bis dann.«

»Haben Sie DNA genommen?«, rief Berendtsen hinterher.

»Insgesamt sechs Proben von Umschlägen und herausgerissenen Schubladen. Die müssten dann vom Täter sein. Allerdings müssen wir bei den Alten noch die Gegenproben nehmen. Vom Tatort Schrebergarten haben wir nichts. Alles verbrannt. Was übrig war, haben die Kollegen heute Nacht schon eingesammelt. Die DNA vom Opfer hatten sie bereits sichergestellt. Sie ist schon ausgewertet. Der Mann war mehrfach wegen kleinerer Drogendelikte vorbestraft.

Berendtsen winkte kurz. Sie wussten, dass sie sich entfernen durften.

»Auf Wiedersehen, Herr Kommissar.«

»Dann ist Anschrift auf dem Personalausweis des Opfers veraltet. Der Mörder kannte offensichtlich die neue Adresse nicht. Er hat – wie auch immer – die Daten in dem Verzeichnis des Schrebergartens eingesehen«, überlegte Berendtsen. Er griff in seine Jackentasche und zog Gummibärchen hervor. Hallstein hatte inzwischen auch Geschmack daran gefunden.

Hallstein vermutete, dass der Täter bereits vor dem Attentat die Laube nach irgendetwas Bestimmten durchsucht hat. »Er hat es nicht gefunden und deshalb dieses riesige Spektakel veranstaltet. Er hätte den Mann auf einfachere Art und Weise töten können. Leise und geräuschlos wäre wohl sicherer gewesen. Man hätte erst Tage später einen Toten gefunden.«

»Darauf kam es ihm offensichtlich nicht an. Er wollte – oder musste – sichergehen, dass das, was er gesucht und offensichtlich nicht gefunden hat, nicht mehr zu erkennen ist. Unseren Hartmann musste er ebenfalls aus dem Weg räumen, weil er etwas wusste oder zur Aufklärung hätte beitragen können«, steuerte Willi bei.

Hallstein zog daraus den Schluss, es handele sich um eine »dicke Sache, Chef. Wir sollten uns auf eine Menge Arbeit einrichten. Solchen Aufwand betreibt kein Einzeltäter. Vielleicht war er selbst nicht in Bottrop. Dort könnten auch Helfer gewesen sein.«

»Du meinst …« Willi sprach nicht weiter. Wollte sich nicht festlegen.

Hallstein nickte. »Genau das meine ich. Clan oder Mafia oder Hells-Angels oder ganz allgemein eine Gang.«

Berendtsen ging zur Tür, legte die Hand auf die Klinke, wandte sich nochmals um. »Wie geht’s zuhause?«

»Alles gesund und munter. Und selbst?«

»Alles zu unserer Zufriedenheit. Ich hoffe inständig, dass ich mir heute Nacht keinen Husten geholt habe. Ich hatte heute Morgen einen solchen Hustenanfall, dass mich nebenbei die Hexe angeschossen hat. Mit einigen Dehnübungen habe ich das Schlimmste verhindert. Zuhause habe ich kein Schmerzmittel eingenommen. Ich hoffte, es geht ohne. Ich habe von Uschi eine Tablette bekommen. Jetzt scheint es besser zu werden. Wenn nicht, gibst du mir eine Spritze.«

»Geht klar. Grüße an Irmgard.«

»Richte ich aus.«

Die Kommissare hörten ein fröhliches Lachen auf dem Gang. Frau Günther war von der Befragung der Laubenbesitzer zurück. Sie stand mit Uschi direkt hinter der Ecke und plauderte. Der typische Flurfunk. Schließlich ebbte das Kichern ab.

»Wir müssen den Kommissaren Bescheid geben«, fanden sie.

Mit einem »Schon sind wir da!« kamen Berendtsen und Hallstein um die Ecke und jagten den beiden Damen einen rechten Schock ein.

»Um Gottes Willen! Mussten Sie uns so erschrecken?«

Hallstein musste lachen. »Wir sind die schnelle Truppe, wie ihr wisst. Was gibt es denn für fröhliche Nachrichten?«

»Nur Weiberkram, Herr Hallstein«, antwortete Frau Günther.

Galant hielt Hallstein den Damen die Tür zum Büro auf. Er schob Albert einen Stuhl vor Kopf und setzte sich gegenüber von Frau Günther. Uschi setzte sich neben ihre Freundin.

Berendtsen warf eine halbleere Tüte Gummibärchen auf die Tischplatte.

»Bedienen Sie sich!«

»Vierzig Personen standen auf der Liste, einunddreißig Personen habe ich erreicht«, berichtete Frau Günther und hätte beinahe ein Bärchen ausgespuckt.

»Sprechen mit mehr als zwei Bärchen im Mund will gelernt sein«, spottete Berendtsen. Er erntete ein süßliches Lächeln.

»Die anderen werden zuhause sein oder unterwegs. Die meisten sind erst gekommen, als die Feuerwehr anrückte. Sie hatten nichts gesehen. Aber…! Etwas Glück muss der Mensch haben.« Sie nahm einen USB-Stick aus der Untersuchungsmappe und hielt ihn den Kommissaren vor die Nase. »Hierauf sind zwölf Fotos, die jemand von seinem Dach aus geschossen hat. Er hat die ganze Meute drauf. Mit Handy, aber die Helligkeit der Flammen hat ausgereicht, viele sind zu erkennen. Vielleicht haben wir Glück und finden den Täter. Wir haben Möglichkeiten, zu vergrößern und zu interpolieren. Ich hoffe, wir finden ihn. Zum Zweiten: Vier Leute haben in den letzten Wochen einen Mann beobachtet, der sich den Schrebergarten aus dem Flurfenster des zweiten Stocks des Nachbarhauses angesehen hat. Zu verschiedenen Zeiten. Einer sagt, es sei ein Chinese gewesen. Ob das nun ein Chinese war, kann man glauben oder nicht. Jedenfalls war er, dem Aussehen nach, ein Asiat. China, Vietnam, Japan. Auf diese Distanz können die wenigsten Europäer die Leute auseinanderhalten.«

»Was haben die Leute gesehen?«

»Dieser Mann hat mehrmals mit einem Feldstecher am Fenster gestanden. Fotos gemacht und beobachtet. Sie haben schon gedacht, es gibt einen neuen Bebauungsplan, von dem sie irgendwann aus der Zeitung erfahren, wenn es keine Möglichkeit mehr zum Widerspruch gibt. Einer von den Leuten, der in der Nacht die Fotos gemacht haben, ist leidenschaftlicher Fotograf. Er schießt Bilder aus der Umgebung für die Ruhrpott-Kalender, die man zu Jahresende in vielen Geschäften kaufen kann oder geschenkt bekommt. Er hat mit einem Tele den Fenstergucker auf Platte verewigt. Er hat mir ein Bild von ihm auf seinem Rechner gezeigt. Ich glaube, Roland kann damit etwas anfangen. Das ist noch nicht alles. Auf diesem Stick …«, sie ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger wippen, »… gibt es ein Foto, auf dem man den BMW vom Parkplatz fahren sehen kann.«

Das war weitaus mehr, als die Kommissare erwartet hatten. Sie hatten Bilder von Leuten, die zumindest mit der Tat in Zusammenhang standen. Roland Schubert, der Spezialist für EDV, war bereits informiert und erschien in diesem Moment mit seinem Laptop unter dem Arm.

»Was ist mir dir passiert?«, wunderte sich Berendtsen. »Bist du unter die Mähmaschine gekommen? Wo ist deine Haarpracht geblieben?«

Roland hatte seine langen Haare, die zuweilen mit einem einfachen Gummiband in einem kleinen Zopf zusammengehalten worden waren, gegen einen biederen Façonschnitt eingetauscht, was sofort auffiel, denn sein Erscheinungsbild wurde durch diese Maßnahme völlig verändert. Außerdem trug er ein Flanellhemd mit zwei kleinen Brusttaschen. Standesgemäß war in der linken Tasche ein USB-Stick mit einer Klammer festgesteckt, wie bei einem Kugelschreiber.

Roland ging auf den Spaß nicht ein. Berendtsen war wohl nicht der erste Mensch, der ihn darauf ansprach.

»Neue Freundin?«, fragte Hallstein

Er brummte Unverständliches vor sich hin.

»Bitte?«, fragte Hallstein überdeutlich.

»Jaa-haa!«, tönte er.

Kapitel 7.

Beatrice kam die Treppe herauf.

»Geht klar. Ich bin in vierzig Minuten dort«, bekam sie noch mit. Dann legte Kris den Hörer auf.

»Du möchtest noch weg?«, fragte sie ihren Bruder. »Wohin fährst du?«.

»Ich habe den Warenbestand im Lager nachgesehen. Wir brauchen Nachschub an Stoff. Der letzte Frachter im Hafen war leer, wie du weißt. Du hast es selbst arrangiert. Die heutige Lieferung kommt im Yachthafen an. Die Beutel wurden schon in Datteln umgeladen. Unsere Boote wurden noch nie kontrolliert. Wir sollten überlegen, das immer so zu handhaben.«

»Wieviel erwartest du?«

»Angekündigt sind fünfzig Kilo.«

»Hast du das Geld?«

»Die vier Koffer stehen im Flur. Es sind dieses Mal viele kleine Scheine darunter.«

»Soll ich dir helfen?«

»Ich nehme den Luba. Der steht im Keller. Dann brauche ich nicht durch die Haustür.«

»Hast du eine Eskorte? Du kannst nicht mit so viel Geld allein zu einer Übergabe. Wieviel nimmst du mit?«

»Zweieinhalb. Es ist etwas günstiger als im Winter. Ich habe gehört, dass die FARC in Kolumbien mehr Bauern unter Vertrag hat als vor dem Deal mit der Regierung.«

»Das ist nicht zu glauben!«

»Das Schöne ist, dass der Preis auf der Straße steigt. Somit steigt die Spanne. Die Leute geben mehr Geld für ihr Vergnügen aus. Sie gönnen sich eine Linie. Inzwischen haben wir die ersten Hotspots auf dem Lande. Es muss nicht immer das Ruhrgebiet sein.« Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht.

»Wer fährt mit?«

»Nana und Edwin. Das ist die beste und sicherste Begleitung. Sie gehören zur ›Familie‹, wie du immer betonst. Wir treffen uns an der Eishalle.«

Beatrice fühlte sein Jackett. »Welche Waffe nimmst du mit? Deine Walther?«

Kris nahm die Waffe aus dem Holster, sah das Magazin nach und schob es mit kräftigem Ruck in die Griffschale zurück.

»Neu? Zeig sie mal her.« Beatrice wog die Waffe in ihrer Hand, betrachtete sie eingehend. »Kommt mir leichter und kleiner vor.«

»Sowohl sicherer als auch präziser. Sie reicht. Wang ist kein Fernziel. Wenn ich sie gebrauchen muss, dann höchstens auf eine Distanz von zehn Metern. Aber ich glaube nicht, dass das nötig ist. Wir haben schon so viele Geschäfte zusammen gemacht. Das Vertrauen ist da. Deshalb geht der Austausch auch so einfach vonstatten. Kein Nachzählen, kein Probieren. Sie laden den Stoff um, ich stelle das Geld auf den Steg. Fertig. Fünf Minuten. Die alten Koffer bringt er immer wieder mit. Sparsam ist er.«

Sie lachte. Er drückte sie kurz und verschwand mit zwei Koffern in der Kellergarage. Beatrice trug ihm die anderen beiden nach.

 

»Wann wirst du zurück sein?«

»Zwei Stunden. Ich lade es direkt in der Halle ab.«

Nana und Edwin blieben im Wagen. Wang hatte vier Leute mitgebracht, die kräftig anpacken konnten. Die Übergabe der einhundert Teebeutel funktionierte wie immer reibungslos. Der eine wog nicht, der andere zählte nicht – vor den Augen des anderen. Man vertraute sich. In der Halle allerdings würde die Ware nachgewogen und auf Gehalt geprüft. Kris wusste, dass Wang ebenfalls kontrollierte. »Dieses Mal hat er viel zu tun«, dachte Kris. Alles Zwanziger und Fünfziger. Wenige große Scheine. Da müssen sie bis zweieinhalb Millionen lange zählen. Er selbst würde wohl fünfundzwanzig Millionen Euro damit erzielen.

»Darf ich Ihnen meine Mitarbeiter vorstellen, Lao Wang?«

»Die beiden im Auto? Ich habe sie gesehen. Gerne.«

Kris klopfte auf das Autodach und gab ihnen ein Zeichen.

»Edwin und Nana. Sie werden in der nächsten Zeit die eine oder andere Lieferung annehmen. Ich möchte, dass Sie sie kennenlernen und die Geschäfte reibungslos weiterlaufen.«

»Ich glaube, den Herrn kenne ich schon. Ich habe ihn bereits einmal am Hafen gesehen. Kann das stimmen?«

Edwin beugte sich leicht vor. »Guten Abend Lao Wang.« Er wusste, wie man einen älteren Chinesen respektvoll anzureden hatte. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ja wir haben uns einmal am Hafen gesehen, sind uns allerdings nicht vorgestellt worden. Ich bin der Einkäufer der Firma. Ich habe die Ware zu prüfen, die ankommt. Erst dann wird verladen. Bei Ihnen ist es etwas Anderes. Ihnen vertrauen wir.«

Wang begrüßte die jungen Leute.

»Ich freue mich, zwei weitere Mitglieder Ihrer Firma kennenzulernen. Herzlich willkommen im Club. Mein Name ist Cai Wang. Selbstverständlich werde ich sie als Geschäftspartner akzeptieren. Geben wir dem Nachwuchs eine Chance!« Wang zog die beiden neuen Mitarbeiter an seine Brust und gab ihnen den Bruderkuss auf beide Wangen. Dann trat er einen Schritt zurück und deutete seinerseits eine Verbeugung an.

Nach einem kurzen, durch einen angedeuteten Diener unterstützten, dankbaren »Danke Lao Wang« verschwanden sie im Auto.

»Bis wann können Sie Nachschub besorgen?«, erkundigte sich Kris, als die beiden anderen bereits im Auto saßen.

»Dieselbe Menge? Gleicher Ort?« Wang überlegte kurz. »Drei Tage?«

»Reicht. Danke. Auf Wiedersehen! Zàijiàn, Lao Wang!«

»Hǎodǎi«

»Auf jeden Fall«, übersetzte Kris. Wenn er auch kein Chinesisch sprach, so kannte er doch gewisse Redewendungen.

Er stieg in den Wagen und stellte den Hebel auf ›D‹.

Ehe er die Tür zuschlagen konnte, rief ihm der Chinese nach: »Shāo děng yīhuǐ'er! Einen Moment, bitte!«, wiederholte er auf Deutsch und trat zu Kris ans Auto. »Wann kann die große Lieferung kommen?«

»Ich rufe Sie an. Bald.«

»Sollen wir auch Crystal Meth mitbringen? Wir können günstig liefern. Aus Malaysia. Kilo unter zehn Mille.«

»Wunderbar! Was können Sie auftreiben?«

»Die Lager sind voll. Deshalb der Preis. Bei hundert Kilo gehe ich auf acht fünf.«

»Qualität?«

»Mindestens fünfundneunzig Prozent. Garantiert.«

»Ich nehme hundert Kilo. Wie ist es verpackt? In Teesäcken?«

»Säcke zu fünfzig Kilo. Hälfte Speed. Der Rest ist Ceylon Tee.«

»Den Tee können Sie behalten. Ich brauche nur das Meth. Ich habe nicht vor, hier mit einem Lastwagen vorzufahren.«

»Okay. Wir packen es aus für Sie.«

»Schicken Sie mir eine Nachricht. Danke. Wiedersehen.«

»Hǎodǎi«

Unterwegs schellte das Telefon. Wang. Kris drückte auf den Hörer am Lenkrad.

»Ja?«

»Haben Sie von der Explosion erfahren?«, fragte er.

»Explosion? Welche Explosion?«

»Ich wurde soeben informiert. Auf dem Schrebergarten in Dorsten ist in einer der Lauben eine Gasflasche explodiert? Haben Sie Ihre Hand im Spiel, Kris?«

»Davon höre ich von Ihnen zum ersten Mal. Was ist genau passiert?«

»Eine Leiche, männlich, Anfang dreißig. Hat ihre Firma das organisiert? Warum habt ihr mir nichts davon gesteckt?«

»Wir haben keine Explosion ausgelöst. Wir sind nicht verrückt. Wenn wir jemanden zu beseitigen haben, geschieht das nicht so spektakulär. Wir lieben die unaufgeregte Stille, wie Sie wissen. Krawall ist nicht unser Stil.«

Wang hatte bereits aufgelegt und die letzten Sätze nicht mehr mitbekommen.

»Weï! Hallo!« Yú, der Fisch, hatte Wangs Nummer erkannt.

Yú, der »Fisch«, war der Chef der 18K-Triade, einer chinesischen kriminellen Vereinigung, die ihre Aktivitäten seit einigen Jahren nach Europa, speziell nach Deutschland ausgeweitet hatte. Niemand kannte den Fisch. Er meldete sich stets anonym über Telefon und immer mit verschleierter Stimme und leicht chinesischem Akzent. Es gab nur wenige Leute, die wussten, wie er erreicht werden konnte.

»Ich wurde soeben informiert, dass im Schrebergarten ein junger Mann durch eine Gasexplosion ums Leben kam. Steckt Ihre Firma dahinter?«, fragte Wang. »Es könnte sich um einen fatalen Fehler gehandelt haben, wenn es sich bei dem Mann um Mike handelt. Warum wurde die Sache nicht mit mir abgesprochen? Der Kerl hat viele wichtige Daten von meinem Rechner gezogen. Wenn diese in falsche Hände geraten, bin ich dran. Und Sie gehen mit! Sorgen Sie dafür, dass wir die Daten umgehend zurückbekommen!«

»Mike beobachtet Sie bereits seit langem. Meine Leute haben erfahren, dass dieser Mann ein Informant des LKA war. Er hat wiederholt Daten an seinen Betreuer geschickt, die wir bisher abfangen konnten. Er scheint Verdacht geschöpft zu haben. Wir mussten ihn ausschalten. Auch zu Ihrer Sicherheit. Wir werden die Daten finden und zurückgeben. Noch Fragen?«

»Warum so aufwändig?«

»Meine Leute wollten sichergehen, dass alle Spuren vernichtet werden. Das ist nach meinen Informationen auch gelungen.«

»Okay. Ich verlasse mich auf Sie.«

Wenige Minuten später erreichten die Drei das Lager. Eine Fertighalle aus Beton zwischen Schermbeck und Wesel in einem Industriegebiet, eingerichtet mit einer Rezeption hinter Sicherheitsglas und allerlei Glücksspielgeräten, an denen die Leute aus der Umgebung ihr Geld verlieren durften. Er setzte das Auto vom Parkplatz aus rückwärts in die Einfahrt zur Halle vor die Rampe, die die Geldtransporter anfuhren. Sobald das Garagentor geschlossen war, luden sie die fünfzig Kokainbeutel und die zwei leeren Koffer, die Kris vom Don zurückerhalten hatte, auf die Rampe. Mit Hilfe seines Smartphones ließ er die für nicht eingeweihte Leute nicht auszumachende Plattform absinken. Die hundert Plastikbeutel verstaute er in einem Raum, der durch Verschieben eines Wandschranks zu begehen war. Edwin und Nana wogen die Beutel nach. Fünfhundert Gramm exakt. Er selbst nahm stichprobenartig einige Prisen aus verschiedenen Beuteln und analysierte das weiße Pulver auf Gehalt. Dazu öffnete er eine Phiole mit Testmittel, gab das Pulver hinein, verschloss das Gefäß und schüttelte. Anhand der beiliegenden Farbskale ermittelte er einen »Sehr hohen Gehalt«. Genau wie er erwartet hatte. »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«. Dieses war ein gutes Wort von Lenin. Das zweite, was er von ihm kannte, war »Ein Mensch mit einer Waffe kann hundert Leute ohne eine Waffe kontrollieren«. Dieses Zitat war für ihn nicht weniger wichtig.