Midrasch

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Из серии: Jüdische Studien
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7. Hermeneutische Regeln

Es ist wichtig zu betonen, dass rabbinische und damit auch midraschische Hermeneutik sich nicht in der Anwendung von hermeneutischen Regeln erschöpft. Was aber versteht man darunter? In tSanhedrin 7.11; Avot de-Rabbi Natan A 37.18 und – in einer anderen Version – zu Beginn von Sifra werden 7 Middot Hillelssieben Regeln (Middot) Hillel zugesprochen. Die so genannten 13 Regeln des R. Jischmael13 Regeln des R. Jischmael, die eigentlich 16 Regeln darstellen, sind mit großer Wahrscheinlichkeit in amoräischer Zeit zusammengestellt und im 10. Jh. dem Midrasch Sifra vorangestellt worden, wohl als Argument gegen die Karäer (vgl. Porton, Methods). 32 Regeln des R. Eliezer ben Jose ha-Gelili sind aus der Mischnat R. Eliezer bekannt und begegnen im MHG Gen, sind im Sefer Keritut von Simson von Chinon (1260–1330) erwähnt und zitiert durch den Grammatiker Abulwalid Ibn Ganach aus dem 11. Jh. Enelow hat 1933 eine bis heute zitierte Textausgabe veröffentlicht. Eine ausführliche Beschreibung der Regeln findet sich in der Einleitung von Stemberger (S. 26–42) sowie bei Porton (Methods; Hermeneutics) und Ulmer (Hermeneutics), weshalb hier darauf verzichtet werden kann. Erwähnt seien der qal wa-chomer (Schluss vom Leichteren auf das Schwerere – a fortiori) = 1. Regel Hillels und Jischmaels, die gezera schawa (Analogieschluss) = 2. Regel Hillels und Jischmaels; diesem verwandt ist die 6. Regel Hillels: ke-jotze bo be-maqom acher (eine Schlussfolgerung aus einer anderen Stelle); der binjan av mi-katuv echad (inhaltlich zusammengehörige Textstellen erhalten durch eine in einem einzelnen Belegvers befindliche Zusatzinformation Näherbestimmung) = 3. Regel Hillels und Jischmaels; der binjan av mi-schne ketuvim (die |73|gleiche Regel basiert auf zwei Belegversen) = 4. Regel Hillels und Jischmaels; kelal u-ferat u-ferat u-kelal (Näherbestimmung des Allgemeinen durch das Spezifische und umgekehrt) = 5. Regel des Hillel und in einer komplexen Aufsplitterung und Näherdefinition in den Regeln Jischmaels 5–11 (nach Portons Zählung 5–14); davar ha-lammed me-injano (der Schluss aus dem Kontext) = 7. Regel Hillels und 12. (15.) Regel Jischmaels. Jischmaels 13. (16.) Regel postuliert die Auflösung von Widersprüchen zweier Belegverse durch einen dritten.

Im Hinblick auf die hermeneutischen Regeln hat Daube für die sieben Middot Hillels, vor allem für gezera schawa oder ke-jotze bo be-maqom acher Wurzeln und Parallelen in der griechischen RhetorikWurzeln und Parallelen in der griechischen Rhetorik eruiert (mit den Stichworten synkrisis pro ison und symbainein). Visotzky verwendet das Beispiel der synkrisis aus dem Lehrbuch für Rhetorikvorübungen (Progymnasmata) des Rhetorikers Theon für die Erläuterung von Ähnlichkeiten und Unterschieden zum qal wa-chomer-Schluss (Midrash, Christian Exegesis, S. 122).

Ergänzend dazu finden sich in den 32 Middot Eliezers32 Middot Eliezers u.a. die bereits am Beispiel des Gesprächs von R. Aqiva und Jischmael erläuterten Middot Ribbui (Einschließung) und Miut (Einschränkung, Ausschließung) als differenziert und häufig verwendete Regeln, in denen bestimmte Begriffe wie gam (auch), die Akkusativpartikel et oder raq (nur), min (aus) zur Auslegung verwendet werden. Wichtig ist, dass auch der Maschal als Midda angesehen wird, allerdings hier nicht im Sinne eines Gleichnisses, sondern eher als Allegorie verstanden; ebenso die Ausdeutung homonymer Wurzeln (Paronomasie); die Gematria (Berechnung des Zahlenwerts) und das Notarikon, wo Worte in Bestandteile zerlegt werden. Die 31. Regel bezieht sich auf Angaben in der Schrift, deren Reihenfolge als verkehrt erlebt wird, was ausgelegt werden muss. Die 32. wiederum thematisiert die mitunter als falsch erlebte zeitliche Abfolge von benachbarten Bibelversen.

8. Bezüge zu hellenistischer Hermeneutik und zum Christentum

Wie bereits im Forschungsbericht vermerkt, sieht die neuere Forschung zum spätantiken Judentum (vor allem in Palästina) dieses nicht mehr isoliert, sondern als Teil eines kulturellen Rahmens, der von verschiedenen Einflüssen geprägt ist, darunter der hellenistischen Tradition oder dem römischen Recht.

David Daube hat bereits in den 1950er Jahren maßgebliche Forschungen zur Beeinflussung rabbinischer Auslegung durch die Hellenistische Hermeneutikhellenistische |74|Hermeneutik betrieben (Methods; Rhetoric u.a.), und Saul Liebermans etwa zeitgleiche Analysen zum Hellenismus im jüdischen Palästina haben große Beachtung erzielt. Hellenistische Einflüsse auf die rabbinische Haggada wurden schon von Hallewy (ha-Aggada u.a.) und Henry Fischel untersucht, die sprachlichen Einflüsse von Samuel Krauss (Lehnwörter) und Daniel Sperber (Greek; Essays; Dictionary u.a.).

In Bezug auf hellenistisch-jüdische Bibelrezeption ist natürlich Philo von Alexandrien zu erwähnen. Die Bibel, vor allem durch die in ihr bedeutsamen Personen, ist bei Philo maßgebliche Bezugsgröße, die er kommentiert. Die Auslegung erschöpft sich nicht in der symbolhaft-allegorischen Auflösung der Personen, sondern greift weiter in den umfassenden Versuch, die Loyalität mit dem Leben nach der jüdischen Tradition zu betonen, sie mit der hellenistischen Philosophie zu verzahnen und dabei den jüdischen „way of life“ zu propagieren.

Die rabbinische Tradition hält sich mit Bezügen zu griechischer Bildung zurück, auch wenn es zweifellos Anklänge an griechische Philosophie und Biografien in rabbinischen Texten gibt. Oinomaos aus Gadara, ein Kyniker, wird nicht zuletzt darum zitiert, weil er den „Völkern der Welt gesagt (habe), dass sie Israel nie überwältigen können, solange Kinder in den Lehrhäusern Tora lernen“ (BerR 65.20). Homer, in der griechischen Bildungswelt zentral, beeinflusst die Rabbinen eher am Rande. Deutlich sind freilich die Parallelen zwischen hellenistischer und rabbinischer Ausbildung, was die Einstellung zum Text, die Ordnung der Bücher, die Erstellung von Glossaren, Realienkunde, die Verwendung von Euphemismen, Textumstellungen, Allegorien, nicht zuletzt Parallelen im Umgang mit Rechtsbegründungen und im Abschluss von Rechtskodices betrifft.

Midraschische Strukturelemente wie Proömium und Hauptteil (gufa), auf die noch eingegangen wird, haben ihre Wurzeln in der hellenistischen Literatur, wie auch die Art der Sammlung von Materialien (vgl. etwa WaR) auf hellenistische Modelle verweist. Visotzky spricht von einem „Subgenre der hellenistischen Miszellen“ (Bells, S. 39).

Reale Kontakte zwischen Vertretern des jüdischen Patriarchats und Lehrern aus den berühmten Rhetorikschulen (etwa in Cäsarea im Norden, Gaza und Aschkelon an der Küste oder Elusa im zentralen Negev) sind belegt. Der Anreiz, der von griechischer Bildung ausging, ist auch in rabbinischen Schriften spürbar. Nach bSota 49b habe Schimon b. Gamaliel gesagt, dass von 1000 Mitgliedern seines Hauses 500 Tora studierten, 500 aber die griechischen Bildungsangebote vorzogen.

|75|Im Midrasch finden sich zahlreiche Beispiele von Begegnungen zwischen Rabbinen und Anhängern von philosophischen Schulen. Dabei ist nur in seltenen Fällen von realen Begegnungen auszugehen. Die Epikuräer beispielsweise werden geradezu zum Sinnbild der Häretiker.

Judentum und ChristentumJudentum und Christentum sind in den letzten Jahren verstärkt als eng miteinander verbundene Überlieferungen (vgl. Reed/Becker, Ways) unter dem Aspekt gegenseitiger Beeinflussung betrachtet worden. Dazu haben nicht zuletzt die Arbeiten von Daniel Boyarin beigetragen, aber auch jene von Peter Schäfer. In dessen Büchlein Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums (stark ausgebaut in der englischen Fassung The Jewish Jesus) handelt der letzte Teil über die Auseinandersetzung mit der Vorstellung des leidenden Messias Efraim, vor allem im Midrasch PesR 34–37. Darin findet sich die wohl umfassendste Beschreibung einer leidenden Messiasfigur innerhalb der jüdischen Tradition. Präexistenz, Leid, Erlösung Israels durch das Sühneleiden, Inthronisation und Erhöhung werden ausführlich geschildert und liefern zahlreiche Parallelen zur christlichen Passionserzählung. Lautet die Botschaft: Was das Christentum als so besonders herausstellt und als welterlösend beschreibt, ist und bleibt ganz im Judentum verankert? Wird hier christliches Gedankengut sozusagen jüdisch vereinnahmt? Oder haben wir es mit alternativen jüdischen Gruppierungen zu tun, die gewissermaßen gegen den rabbinischen „Mainstream“ auftreten (vgl. Alexander, Mourners)?

Bedeutsam ist die Frage, ob rabbinische Texte bewusst auf die Verwertung bestimmter Bibelstellen durch die Christen gerade damit reagieren, dass sie diese entweder gar nicht auslegen (z.B. Jes 7,14) oder in einem gänzlich anderen Sinn verstehen. So ist z.B. die Auslegung von Ps 22Auslegung von Ps 22 als Midrasch zu Ester in MidTeh bemerkenswert. Dort wird etwa der in der Passionsgeschichte so bedeutende V. 2 („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“) zum Anknüpfungspunkt kritischer Anfragen an Gott durch Ester:

„Mein Gott“ – am Schilfmeer. „Mein Gott“ – am Sinai. „Warum hast du mich verlassen?“ – warum wurde die Ordnung der Welt – und die Ordnung der Urmütter – in meinem Fall verändert? So wie unsere Mutter Sara: Weil sie von Pharao für eine Nacht gefangen genommen wurde, wurden er und sein ganzes Haus geschlagen, denn es ist gesagt: „Und der Herr plagte Pharao mit großen Plagen, und auch sein Haus“ (Gen 12,17). (Aber) mir, die ich in den Schoß dieses Frevlers für all diese Jahre gegeben bin, mir wirkst du keine Wunder!

 

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ „Von meiner Mutter Leib an bist du mein Gott“ (Ps 22,11). Warum (steht in diesem Psalm) dreimal (mein Gott)?

|76|Ester sprach vor dem Heiligen, gepriesen sei er: Herr der Welt, drei Gebote hast du mir gegeben: (Die Beachtung der) Menstruation(sunreinheit), (das Absondern) der Teighebe und das Anzünden der Kerze (vor Sabbatbeginn). Obwohl ich im Haus dieses Frevlers bin, habe ich nicht eine einzige von diesen übertreten.

[…]

R. Jehuda b. R. Simon sagte: Es steht geschrieben: „Ihn selbst und sein Kind sollst du nicht schlachten an einem Tag“ (Lev 22,28). Aber über Susa, die Festung, steht geschrieben: „Zu tilgen, zu töten und zu vernichten alle Juden“ (Est 3,13). (Übersetzung nach Börner-Klein, Midraschim zu Ester, S. 312–313)

Die „aufmüpfige“ Ester stellt ein Gegengewicht zum leidenden Jesus dar. Während Letzterer, seinen eigenen Tod vor Augen, Klage erhebt, rechtet Ester angesichts der Bedrohung des gesamten jüdischen Volkes mit dem Gott, dem gegenüber sie stets treu war und vorbildlich gehandelt hat. Während Jesus stirbt, wird Esters Klage positiv beantwortet. Das jüdische Volk überlebt, Hamans Plan wird vereitelt.

Die Frage, inwieweit jüdische Texte bewusst auf christliche reagieren, sei es in kritischer Übernahme oder in Form von „Gegengeschichten“, ist jeweils im Detail zu prüfen (vgl. etwa Visotzky, Polemic). Detaillierte Analysen der Bezüge zwischen den Rabbinen und den Kirchenvätern sind trotz einiger vielversprechender Beiträge (vgl. unter I.2) immer noch Desiderate.

Midraschartige Techniken bzw. Auslegungen mit (möglicher) jüdischer Beeinflussung und haggadische Erzählformen finden sich häufig (vgl. Kamesar, The Church Fathers and Rabbinic Midrash) bei den apostolischen Vätern, im Brief des Barnabas, Justin, Tertullian, Hippolyt, bei den syrischen Vätern Aphrahat und Ephrem, bei den alexandrinischen und palästinischen Vätern Clemens, Origenes, Eusebius und Hieronymus (vgl. auch Salvesen, Tradunt Hebraei). Bei Eusebius von Emesa, Diodor oder Theodoret wirkt sich deren Gegnerschaft gegen die origenistische Auslegung auch auf die Ablehnung haggadischer Erzählungen aus.

Der im Mittelalter explizit belegte Vierfacher Schriftsinnvierfache Schriftsinn hat in der Kirchenväterexegese seine Wurzeln. Johannes Cassianus hat ihn im 5. Jh. am Beispiel der Bedeutung Jerusalems erläutert: Jerusalem steht sowohl für die physische Stadt Jerusalem (historische Bedeutung) als auch für die Kirche (allegorische Bedeutung). Nach der tropologischen Bedeutung bezeichnet sie die Seele und nach der anagogischen die himmlische Stadt. Die oft angewandte Typologie stellt Ereignissen oder Personen aus der Vergangenheit – in der Bibel (dem Alten Testament) – Ereignisse oder Personen aus einer späteren Periode (vor allem dem Neuen Testament) gegenüber, wobei |77|das Letztere zum Ersteren in einem Gegensatz steht, häufiger aber noch eine Überhöhung darstellt. Das folgende Beispiel stammt von Ambrosius von Mailand: In seinem Lukaskommentar widmet er sich u.a. Rut: Hier ein Ausschnitt, in dem man sehen kann, wie AmbrosiusAmbrosius Rut als Typos (Vorbild) der Heidenkirche betrachtet, die Konversion zu Israel als entscheidenden Bestandteil ihres Lebens ansieht und wie er dabei (ähnlich den Rabbinen) Bibeltexte als Belegverse verwendet:

30. Wenn wir nun die Thamar um einer geheimnisvollen Wahrheit willen im Geschlechtsregister des Herrn aufgeführt finden, so wurde zweifelsohne auch die Ruth, wie wir annehmen müssen, aus dem gleichen Grunde nicht übergangen. An sie scheint der heilige Apostel gedacht zu haben, da er im Geiste die feierliche Berufung der fremden Völker durch das Evangelium voraussah und ausrief: „Das Gesetz war nicht den Gerechten auferlegt, sondern den Ungerechten“ (1 Tim 1,9). Wie wäre denn sonst die Ruth als Ausländerin zur Heirat mit einem Juden gekommen? Und wie der Evangelist auf den Gedanken, im Stammbaum Christi ihrer Verbindung, die gesetzlich verboten war (Deut. 7,3), Erwähnung zu tun? Ist sonach der Heiland nicht aus rechtmäßiger Zeugung hervorgegangen? Es könnte den Schein des Ungeziemenden erwecken, kehrte man nicht zum Ausspruche des Apostels zurück, das Gesetz sei nicht den Gerechten auferlegt worden, sondern den Ungerechten. Nachdem Ruth nämlich eine Ausländerin und zwar eine Moabiterin war, nachdem insbesondere das mosaische Gesetz solche Ehen verbot und die Moabiten von der Gemeinde ausschloß – denn so steht geschrieben: „Moabiten sollen nicht eintreten in die Gemeinde des Herrn bis zum vierten und fünften Grade, nie und nimmer (Deut. 23,3; Exod. 34,16) – wie trat sie dennoch in die Gemeinde ein? Doch nur weil sie heilig und makellos an Sitten über dem Gesetze gestanden hat. Denn wenn das Gesetz nur den Gottlosen und Sündern auferlegt wurde, dann ist doch fürwahr Ruth ein großes Vorbild für uns, die über die gesetzliche Bestimmung hinweg in die Gemeinde eintrat, Israelitin wurde und unter den Vorfahren des Herrn aufgezählt zu werden verdiente, ob der geistigen, nicht leiblichen Verwandtschaft hierzu erlesen; denn sie war nur der Typus, in welchem wir Heidenchristen zum voraus bereits in die Kirche des Herrn eingetreten sind. Sie laßt uns denn nachahmen! Ob ihres Sittenwandels verdiente sie, wie die Geschichte lehrt, das Vorrecht, als Glied in die Gemeinde aufgenommen zu werden; so soll auch uns (Heiden) auf Grund eines auserlesenen Sittenwandels, auf empfehlende Verdienste hin die Aufnahme in die Kirche des Herrn werden.

31. Als nämlich in den Tagen der Richter in frühen Zeiten eine Hungersnot die Israeliten heimsuchte, da zog von Bethlehem, einer Stadt in Juda, in der Christus geboren wurde, ein Mann mit seinem Weibe und seinen zwei Söhnen fort, um im Lande Moab sich anzusiedeln. Elimelech hieß der Mann, sein Weib Noemi. Seine Söhne nahmen sich Moabitinnen zu Frauen – Orpha war der Name der einen, Ruth der Name der anderen – und sie wohnten daselbst ungefähr zehn Jahre und starben. Das hinterbliebene Weib (Noemi) indes, der beiden Söhne und ihres Mannes beraubt, traf, als sie erfahren hatte, daß Gott Israel gnädig heimsuchte, Anstalten zur Heimkehr und riet auch den Frauen ihrer Söhne, ihrerseits ins Vaterhaus |78|zurückzukehren. Eine folgte dem Rate, Ruth aber blieb bei ihrer Schwiegermutter. Auf deren Vorstellung: „Sieh, schon ist deine Schwägerin zu ihrem Volke und ihren Göttern zurückgekehrt, kehre auch du gleich deiner Schwägerin zurück“, antwortete Ruth: „Das darf mir nicht geschehen, daß ich dich fortlasse und zurückkehre; wohin immer du gehst, will ich mit dir gehen, und wo du bleibst, will ich bleiben. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott mein Gott. Und wo du stirbst, da will ich sterben, und wo du begraben wirst, begraben werden“. Und so kamen sie beide nach Bethlehem (Ruth 1,1–19). Da nun Booz, der Urgroßvater Davids (vgl. Ruth 4,17), dieses wohlgesittete und dieses heiligmäßige Verhalten gegen die Schwiegermutter, die Pietät gegen den Verstorbenen, die Frömmigkeit gegen Gott sah, erkor er sich dieselbe dem mosaischen Gesetze zufolge (Deut. 25,5) zur Frau (Ruth 4,3), um dem verstorbenen Bruder Nachkommenschaft zu erwecken.

32. Es verlohnt sich zu beachten, daß wir Ruth auf einem Acker voll Erntefrucht begegnet sind, wie sie eben nach der Schrift mit der Hand Ähren auflas und deren Frucht für die Schwiegermutter zurücklegte; und daß sie nicht hinter einem Jüngling herzog, sondern hinter einem reifen Manne ging. Deshalb auch bekam sie das verdiente Lob zu hören; „Ein tugendhaftes Weib bist du“, bezw.: „Recht hast du deine Barmherzigkeit geübt, größere noch zuletzt als zuvor“ (Ruth 3,10f.). Die Barmherzigkeit der Kirche in den letzten Zeiten überbietet ja jene der Vorzeit. Daran sei hier nur kurz erinnert; denn ausführlicher haben wir hierüber in den Büchern gehandelt, die ich „über den Glauben“ geschrieben habe. Ruths Nächster aber ward jetzt, der ihr fern gestanden, weil ihr fern ward, der ihr Nächster gewesen ist; und er ließ sich, nachdem er sie zur Frau genommen, den Schuh des Bruders aushändigen. Es war nämlich Brauch, daß der Bruder, der seine Verwandte nicht zur (Pflicht-) Ehe nehmen wollte, seinen Schuh zu lösen und dem anderen abzutreten hatte (vgl. Ruth 4,1ff.; Deut. 25,9). Darin lag kein geringes Geheimnis; denn der, welcher im Vorbilde (Booz) die Ausländerin (Heidenkirche) zu sich nahm, empfing die Vollmacht zur Verkündigung des Evangeliums. (Übersetzung Niederhuber, Ambrosius – Lukaskommentar, S. 139–141)

Neben der für die Rabbinen wichtigen Zitatform (Lemma-Kommentar) findet sich in der Kirchenväterexegese häufig das intertextuelle Prinzip, in dem Verse aus dem Alten und Neuen Testament zur Auslegung herangezogen werden können. Die Bibel wird als Einheit betrachtet. Die Kirchenväter haben wie die Rabbinen ein Interesse an der Erklärung von Namen.

Der hebräische Text als Grundlage einer philologisch gestützten Exegese kann z.B. bei HieronymusHieronymus Anwendung finden. Er verwendet Midrasch vor allem in der wörtlich-historischen Interpretation (littera/historia) des Textes oder manchmal in der (moralischen) Tropologie, aber nicht in der spirituellen Auslegung. Er unterscheidet zwischen jenen hebräischen Überlieferungen, die er als positiv erachtet, und jenen, die er aus der Sicht christlicher Doktrin ablehnt und denen er diese kontrastierend gegenüberstellt.

|79|Ein Beispiel einer philologischen Argumentation, die erstaunliche Parallelen zu rabbinischer Auslegung hat, bietet Petrus ChrysologusPetrus Chrysologus (ca. 380–451), der – vom lateinischen Wort maria in Gen 1,10 auf die Bedeutung der Gottesmutter Maria für die Schöpfung schließt:

Maria wird Mutter genannt; und wann ist Maria nicht Mutter? „Die Ansammlungen der Wasser“, sagt sie [die Schrift], „nannte er Meere (maria)“ (Gen 1,10). Hat nicht diese das Volk, das aus Ägypten auszog, in einem Mutterschoß (uno utero) empfangen, damit eine himmlische Nachkommenschaft auftauchte, wiedergeboren zu einer neuen Schöpfung? (Sermo 146, Übersetzung Agnethe Siquans)

Jehoschua b. Qarcha wird in BerR 12.9 wie folgt zitiert:

Es sprach R. Jehoschua b. Qarcha: Es heißt [in der Schöpfungserzählung der Bibel, Gen 2,4]: Das ist die Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde, als sie erschaffen wurden: Als sie erschaffen wurden (be-hibbaram) (ist zu lesen als) „durch Abraham“ (be-Avraham), (denn) im Verdienst Abrahams (wurden sie erschaffen).

Die Konsonanten des hebräischen Wortes h-b-r-a-m sind die gleichen wie im Namen a-b-r-h-m.

In den Kettenkommentaren, den so genannten Katenen, werden ab dem Ende der patristischen Epoche die Kommentare von unterschiedlichen Autoren zu einzelnen Bibelversen oder Kurzabschnitten zusammengestellt. Häufig werden dabei auch die Autoren mit Namen genannt. Gelegentlich, wie im folgenden Beispiel, werden auch außerhalb der Katenenform Auslegungen aneinandergereiht. So in den fünf Deutungen zu Gen 1,1 durch AugustinusAugustinus aus seinen Confessiones (Bekenntnissen) XII,20, die bereits Stern (Midrash and Theory, S. 25) als vergleichbar mit der midraschischen Polysemie bezeichnet hat:

Aus all diesen Wahrheiten, an denen die nicht zweifeln, deren innerem Auge du sie offenbartest, und die unerschütterlich glauben, daß Moses, dein Diener, im Geist der Wahrheit geredet hat, aus ihnen allen nimmt der eine sich dies heraus und sagt: Im Uranfang schuf Gott Himmel und Erde, das heißt, in seinem gleich ewigen Worte schuf Gott die übersinnliche und sinnliche, oder die geistige und körperliche Kreatur. Etwas anderes sagt ein zweiter, der sagt: Im Uranfang schuf Gott Himmel und Erde, das heißt, in seinem gleichewigen Worte schuf Gott die ganze Masse dieser körperlichen Welt mit allen unsern Blicken wahrnehmbaren und bekannten Geschöpfen. Etwas anderes ein dritter, der sagt: Im Uranfang schuf Gott Himmel und Erde, das heißt, in seinem gleichewigen Worte schuf er den formlosen Stoff der geistigen und körperlichen Kreatur. Etwas anderes ein vierter, der sagt: Im Uranfang schuf Gott Himmel und Erde, das heißt, in seinem gleichewigen Worte schuf Gott den formlosen Stoff der körperlichen Kreatur, in welchem verworren bereits enthalten waren der Himmel und die Erde, die wir jetzt geschieden und geformt in der Masse dieser unserer Welt vor Augen haben. Etwas anderes ein fünfter, der sagt: Im Uranfang |80|schuf Gott Himmel und Erde, das heißt, im Anbeginn seines Schaffens und Wirkens schuf Gott den formlosen Stoff, der Himmel und Erde verworren in sich trug, aus dem geformt und hervorgegangen sie jetzt hell und klar mit allem, was in ihnen ist, vor uns stehen. (Übersetzung Thimme, Augustinus, Bekenntnisse XII, 20, S. 350–351)

 

Das letzte Beispiel stammt aus einer Auslegung des Hieronymus zu Koh 7, der eine Interpretation in QohR gegenübergestellt werden kann (vgl. Hirshman, Rivalry, S. 103–104):


Hieronymus, Kommentar zu Kohelet 7 QohR 7.4
Bedenke, o Mensch, sagt er, dass deine Tage kurz sind und dass du bald, wenn sich dein Fleisch auflöst, nicht mehr sein wirst! Verschaffe dir dauerhaften Ruhm, damit sich die ganze Nachwelt bei deinem Namen erfreut, wie das Salböl die Nase durch [seinen] Duft erfreut! […] Mit „Und der Tag des Todes [ist besser] als der Tag seiner Geburt“ (Koh 7,1) meint er entweder, dass es besser ist, aus der Welt zu gehen und frei zu werden von den Wirrnissen und dem ungewissen Stand des Lebens, als in die Welt zu kommen und dies alles zu ertragen; oder aber, dass im Tod bekannt wird, wie wir beschaffen sind, zu Beginn aber, bei der Geburt, weiß man nicht, wie wir sein werden; oder dass die Geburt die Freiheit der Seele an den Körper fesselt und der Tod sie löst. (Übersetzung nach Birnbaum, Koheletkommentar, S. 141) Wenn ein Mensch geboren wird, freuen sich alle; wenn er stirbt, weinen alle. Es sollte nicht so sein; sondern, wenn ein Mensch geboren wird, sollte man sich nicht darüber freuen, denn es ist nicht bekannt, in welchem Abschnitt oder mit welchen Taten er dastehen wird, ob als ein Gerechter oder Schurke, ein Guter oder Böser. Und worüber sollten sie sich freuen? Dass er aus dieser Welt in Frieden gegangen ist. Maschal von zwei Schiffen auf dem großen Meer; eines, das den Hafen verlässt und eines, das hereinkommt. Wenn das eine hinausfährt aus dem Hafen, freuen sich alle, aber niemand freut sich über das eine, das in den Hafen einfährt. Ein kluger Mann war dort und sagte zu den Leuten: Ich sehe, dass die Dinge verkehrt sind. Es gibt keinen Grund, sich über das Schiff zu freuen, das den Hafen verlässt, denn niemand weiß, in welchem Abschnitt es steht, auf welche Meere und welche Winde und Stürme es trifft; aber wenn es in den Hafen einfährt, sollte man sich freuen, denn es ist in Frieden angekommen. So, wenn ein Mensch stirbt, sollte man sich freuen und Dank sagen, dass er aus der Welt mit einem guten Namen gegangen ist.

Über die realen Kontakte kann nur spekuliert werden. Sicherlich waren jüdische Auslegungstraditionen in Palästina auch christlichen Kreisen bekannt. Inwieweit jedoch schriftliche Midraschim, |81|die es immerhin seit dem 3. Jh. gegeben hat, und wenn, welche verwendet wurden, bleibt unklar.

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