Harry Piel sitzt am Nil

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Vielleicht hätten ihn aber auch manche Romane enttäuscht, die zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung und mitunter noch viele Jahrzehnte danach als himmelschreiend skandalös aufgefaßt worden waren und dennoch herzlich wenig Anrüchiges hergeben, wenn man sie nicht gerade durch die Brille von Fräulein Prysselius betrachtet. Ein solcher Fall ist Friedrich Schleges Roman »Lucinde«, der 1799 erschien und sich »innerhalb der Geschichte deutsch-moralischer Entrüstung« zu einem »Jahrhundert-Ereignis« entwickelte, wie Ludwig Marcuse 1962 schrieb: »›Lucinde‹ hat nie Chancen gehabt, viel gelesen zu werden – trotz des Prestiges, ein Erotikon zu sein. Was in der Zeit, die vor dem Biedermeier schon biedermeierte, als obszön empfunden wurde, ist hier dicht eingehüllt in lyrisch-philosophische Verstiegenheiten; auch die Lüsternsten verlieren die Lust, wo der beschwerliche Weg so unlustig macht. So geht der fragwürdige Ruhm zurück auf den literarischen Skandal, den Schlegel in seinen Tagen hervorrief – und nicht nur damals; er wurde von den Prominentesten konserviert, bis in unser Jahrhundert. Er gab den erlauchtesten Deutschen (von Schiller bis zu Dilthey) Gelegenheit, sich zu entrüsten.« Doch worüber?

»Lucinde« ist ein Wechselbalg aus unbeholfenen Lyrismen und langatmigen Traktaten, und die Suche nach den »Stellen«, aus denen sich der Grund für all die Aufregung erschließen könnte, ist ein mühsames Geschäft. Man erfährt von einer Dame, die durch eine »seltne Gewandtheit und unerschöpfliche Mannichfaltigkeit in allen verführerischen Künsten der Sinnlichkeit« aufgefallen sei und »im Stande der äußersten Verderbtheit« gelebt habe, aber wer Genaueres darüber wissen möchte, muß sich mit der Information begnügen, daß in ihrem Boudoir »einige gute Kopien von den wollüstigen Gemälden des Corregio und Tizian« gehangen hätten, und es habe auch an Marmorskulpturen nicht gefehlt – »ein gieriger Faun, der eine Nymphe, die im Fliehen schon gefallen ist, eben völlig überwinden wird; eine Venus, die mit aufgehobenem Gewande lächelnd über den wollüstigen Rücken auf die Hüften schaut und andere ähnliche Darstellungen«. Von Lucinde heißt es, daß sie sich mit ihrem Liebhaber Julius in einen »Taumel der Nächte« gestürzt habe: »Die hinreißende Kraft und Wärme ihrer Umschließung war mehr als mädchenhaft; sie hatte einen Anhauch von Begeisterung und Tiefe, den nur eine Mutter haben kann. Wenn er sie im Zauberschein einer milden Dämmerung hingegossen sah, konnte er nicht aufhören, die schwellenden Umrisse schmeichelnd zu berühren, und durch die zarte Hülle der ebnen Haut die warmen Strömen des feinsten Lebens zu fühlen.« Und selbst die Apotheose der körperlichen Liebe findet nur einen verhaltenen Ausdruck: »Alles ist beseelt für mich, spricht zu mir und alles ist heilig. Wenn man sich so liebt wie wir, kehrt auch die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit zurück. Die Wollust wird in der einsamen Umarmung der Liebenden wieder, was sie im großen Ganzen ist – das heiligste Wunder der Natur; und was für andre nur etwas ist, dessen sie sich mit Recht schämen müssen, wird für uns wieder, was es an und für sich ist, das reine Feuer der edelsten Lebenskraft.«

Um die Nerven, die von solchen Erklärungen aufgepeitscht wurden, kann es nicht zum besten gestellt gewesen sein. Der Berliner Theologe Daniel Jenisch sah sich sogar dazu veranlaßt, Schlegels Lebensgefährtin Dorothea Veit, die er als Vorbild der Lucinde ansah, öffentlich zu verspotten: In seinem Buch »Diogenes Laterne« publizierte er ein selbstverfaßtes »Billet=doux der geschiedenen Madame Veit, jüdischer Nazion, nunmehr halbverehelichten Friedrich Schlegel, an Herren Friedrich, Schlegel, über seinen Roman, Lucinde«, und vermerkte in einer Fußnote: »Madame Veit, welche Herr Friedrich Schlegel in Berlin kennen lernte, und die deshalb von ihrem bisherigen Ehemanne, nach einjähriger Ehe, geschieden ward. Das Gelächter über den Roman Lucinde, verbunden mit dieser Geschichte, war in Berlin allgemein.« Bereits in diesen einleitenden Worten wird die Absicht deutlich, schmähend in ein fremdes Privatleben einzugreifen, und was dann folgt, als satirisches »Billet=doux«, ist ein Dokument deutscher Geistesgeschichte, das seinesgleichen sucht:

Theurer, auch mitten im Unmuth geliebtester Hellene meines Herzens! Kein leichtes Nebelgewölk hat die Erscheinung deines Romans auf meiner Stirne verbreitet: wie Juno möcht’ ich zürnen, wie Ajax möcht’ ich rasen; wenn ich bedenke, wie schnöde du, in diesem Werk deines göttlichen Genies, unser beyder Blößen vor den schauenden Augen des ehrsamen teutschen Lesepublikums aufgedeckt! Und warlich! kein Kritiker wird uns, wie Gott der Herr dem Adam und der Eva, Röcke von Fellen machen, um unsre Blößen zu bedecken. Ists doch, als wenn du uns beyde, die schönsten Augenblicke des göttlichen Beyschlafs feyernd, und in dem Allerheiligsten der Religion der Liebe, der ganzen Welt, mit Rubensscher Grellheit und Wahrheit des Pinsels, hast vor Augen mahlen wollen.

Wahr ists! Du kennst die geheimsten Falten meines Koischen Gewandes, zu teutsch, Hemde genannt: ich bin, in so manchen holden Stunden, deine lenden=nackte Spartanerin. Aber warum dies alles dem Publikum sagen und mahlen? Warum mich dem Gespött und dem Fingerzeigen der Berliner und Berlinerinnen preisgeben?

Jenisch tat hier genau das, was er angeblich so verächtlich fand: Er zog etwas, das ihm hätte heilig sein sollen, in den Schmutz, er delektierte sich an Blößen und nackten Lenden, und er gab eine Frau, deren Lebenswandel ihn nichts anging, dem Gespött preis, um einem Mann zu schaden, dessen freimütigem Bekenntnis zur Göttlichkeit der Wollust er nichts anderes entgegenzusetzen hatte als eben jene Schmähkritik an der Sittlichkeit »der geschiedenen Madame Veit, jüdischer Nazion«.

»Ich habe mir vor einigen Stunden durch Schlegels Lucinde den Kopf so träumelich gemacht, daß es mir noch nachgeht«, schrieb Friedrich Schiller im Juli 1799 an Johann Wolfgang von Goethe und kritisierte das »Fratzenhafte« des Werks, in dem er einen »Gipfel moderner Unform und Unnatur« erkannte. Goethe erwiderte, er habe schon viel darüber reden hören: »Jedermann liest es, Jedermann schilt darauf, und man erfährt nicht, was eigentlich damit sey.« Der junge Polemiker Johannes Daniel Falk, der es zu wissen glaubte, sagte Schlegel nach, er habe »mit den das Heiligste und Ehrwürdigste der menschlichen Gesellschaft bezeichnenden Wörtern, Liebe, Scham, Unschuld, Religion«, einen unwürdigen und zügellosen Mißbrauch getrieben. Man könne es dem Staate nicht übelnehmen, wenn er den Verfasser der »Lucinde« umstandslos »als einen Irreredenden an die Behörde ausliefert, der die Vorsorge am Verstande schadhaft gewordener Mitbürger obliegt«, weil er für die Verwahrlosung aller guten Sitten eintrete: »Ist ein Zustand otahitischer Schamlosigkeit das Höchste, das Wünschenswürdigste der Menschheit?«

Man müsse Falk in seinem Kampf gegen »dieses Ungezücht« aufmuntern und ehren, schrieb Johann Gottfried Herder im Oktober 1800. Im selben Jahr erschien das anonyme Pamphlet »Drey Briefe an ein humanes Berliner Freudenmädchen über die Lucinde von Schlegel« mit der Vorbemerkung: »Ist es dem Herausgeber erlaubt, hier seinem Herzen Luft zu machen, und sein philosophisch=ästhetisches Glaubensbekenntnis abzulegen: so schwört er einen ewigen und dauernden Haß dieser frechen Rotte eingebildeter Gäuche und niedriger Lüstlinge, diesen Verwirrern der Moralität und Kunst, deren Grazien betrunkene Bachantinnen, deren Apollo ein zügelloser Marsyas ist, die mit Füßen treten Tugend, Schaam, Bürgerglück, Fleiß und gute Sitten, der Faulheit, dem Müßiggange und der geilen Liederlichkeit Lobreden halten, um ihre an sich elenden Produkte pikant zu machen.«

So gifteten die Tugendwächter, die etwas Unflätiges witterten, aber nicht in der Lage waren, den Ursprung des Gestanks, der ihnen in die Nase stach, zu lokalisieren. 1870 fällte der Literaturwissenschaftler Rudolf Haym ein Verdammungsurteil über Schlegels Werk: »Eine absurde Verwirklichung der ästhetischen Doctrin ihres Verfassers, ist es zugleich eine rücksichtslose Ausstellung seiner persönlichsten Erfahrungen, eine litterarische Ausnutzung von Lebens- und Liebesverhältnissen, die er als unentweihtes Geheimnis zu behandeln gegen sich und andere die Pflicht gehabt hätte.« Dem Philosophen Wilhelm Dilthey schwante im selben Jahr etwas »unsäglich Widriges«, als er die »Lucinde« las, und er kam zu dem Urteil, daß die dichterische Ausführung »einen exzentrischen und unsittlichen Grundgedanken in den Schlamm des Gemeinen« ziehe. »Und dann schleuderte man gegen dies Werkchen durch die Jahrzehnte immer wieder die Vokabeln: Ekel, moralischer Frevel, schamlose Sinnlichkeit. Ein berühmtes Lexikon belehrte noch das zwanzigste deutsche Jahrhundert, daß dies Buch in kühler Schamlosigkeit’ gemacht sei. Und in einer Kulturgeschichte, die zur Zeit der Weimarer Republik die Historie der Lüsternheit in Bild und Schrift behaglich ausbreitete, wurde noch einmal Friedrich Schlegels ›lüsterner‹ Roman angeprangert« (Ludwig Marcuse).

Aber wie frustriert wäre der junge Julian Barnes gewesen, wenn er den Nimbus gekannt hätte, der diesen Roman umgab, und dann eine getreue Übersetzung in der elterlichen Bibliothek entdeckt hätte. Den Ruf einer heißen Wichsvorlage hatten Schlegels »Lucinde« nur die übelwollenden Kritiker eingetragen. So erging es 1857 auch Gustave Flauberts skandalumwittertem Roman »Madame Bovary«: »Ich werde der Löwe der Woche werden«, stellte Flaubert damals fest, »alle Weibsbilder von Rang reißen sich die ›Bovary‹ aus den Händen, um Obszönitäten darin zu suchen, die sie nicht enthält.«

*

1809 rief Heinrich von Kleist in seiner Ode »Germania an ihre Kinder« zum Vernichtungskrieg gegen die Franzosen auf:

 

Alle Plätze, Trift’ und Stätten

Färbt mit ihren Knochen weiß;

Welchen Rab und Fuchs verschmähten,

Gebet ihn den Fischen preis;

Dämmt den Rhein mit ihren Leichen;

Laßt, gestäuft von ihrem Bein,

Schäumend um die Pfalz ihn weichen,

Und ihn dann die Grenze sein!

Denn das Weltgericht frage nicht nach den Gründen. In diesen »alle Menschlichkeit schändenden Versen«, schrieb Kurt Eisner 1911, werde der Haß »zur Besessenheit eines Irren«, aber keiner der Herausgeber von Kleists Werken kam auf die Idee, die Ode zu unterdrücken. Goethes »Schnuckfötzgen« und Schlegels »Feuer der edelsten Lebenskraft« wirkten anstößiger als Kleists Gewaltphantasie, und so ist es geblieben. 1993 wurde Martin Shafer, ein Manager der Filmproduktionsgesellschaft Castle Rock Entertainment, in der New York Times mit den Worten zitiert: »Wenn in einem Film ein Mann die Brust einer Frau berührt, dann läuft der Film ab 17 Jahren, aber wenn ein Mann ein Körperteil mit einer Kettensäge abtrennt, wird der Film ab 12 freigegeben.«

*

Nach judenfeindlichen Ausschreitungen, die mehrere Menschenleben gekostet hatten, flohen im August 1819 rund vierhundert Juden aus Würzburg. Wenig später wurde im Haus eines Bayreuther Juden ein anonymer Drohbrief hinterlegt, der an die »Judenschaft in Baireuth« gerichtet war:

Ihr von Gottes Gnaden in unser Stadt geduldetes Lumpenpak, euch machen wir kund und zu wissen, daß Ihr das nämliche Schicksal in einer kurzen Zeit zu erwarten habt, als wie euere Brüder in Würzburg. Fort müßt Ihr und wenn die Stadt zu Grund geht; warum sollen wir eine solche Viperbrut in unserer Mitte gedulden, die nur von unsern Schweiß und Blut leben. Ein jeder Christ muß euch verachten, indem ihr vor 1000 Jahren den Lehrer unserer Religion am Kreuz gemordet habt. Euer ganzes niedriges Betragen, erweckt in uns schon den größten Haß; um uns aber ganz mit der Rache zu sättigen, ist euer Loos Verbannung!, denn mit euerm Tod ist uns nichts geholfen, sondern wenn wir euch zu tausenden wandern sehen, so ist es für uns ein Labsal.

Das waren keine leeren Drohungen. 1993 hat der Historiker Stefan Rohrbacher in seiner Studie »Gewalt im Biedermeier« die Ausbrüche judenfeindlicher Gewalt verzeichnet, die sich zwischen 1815 und 1849 in ganz Deutschland zutrugen, von Friedhofsschändungen bis hin zu Pogromen. Der Pöbel brach in Wohnungen ein, zerschlug das Mobiliar, schlitzte Federbetten und Mehlsäcke auf und leerte sie aus den Fenstern, haute mit Beilen Türen und Fensterläden ein, demolierte Synagogen, zerriß Gebetsbücher, zerstörte die Leuchter und beging Morde. In Viernheim mußte 1830 eine ganze Kompanie Soldaten gerufen werden, um den Mob zu bändigen. Es gebe »deutliche Anzeichen dafür«, schreibt Rohrbacher, »daß Exzesse, die sich ausschließlich gegen Juden richteten, von den Behörden tendenziell für minder schwerwiegend angesehen wurden; und selbst Gewalttätigkeiten gegen Juden wurden in amtlichen Berichten häufig als ›Neckereien‹ charakterisiert«.

Der Gewalt gegen die Juden ging stets ihre Schmähung voraus. »In ihrer Schamlosigkeit übertreffen sie sogar Schweine und Ziegen«, erklärte der Kirchenvater Johannes Chrysostomos im vierten Jahrhundert. Sie seien »voller Trunkenheit und Fettleibigkeit«, nähmen das Joch Christi nicht und zögen nicht den Pflug der Lehre: »Solche Tiere aber, die zur Arbeit unnütz sind, sind reif zur Schlachtung. So geht es auch ihnen: Sie haben sich für die Arbeit als unnütz erwiesen und sind deshalb reif zur Schlachtung geworden.« Für den heiligen Bischof Hilarius von Poitiers waren die Juden »ein Schlangengezücht und Knechte der Sünde«, der syrische Kirchenvater Ephräm ereiferte sich über den »Gestank der stinkenden Juden«, Augustinus nannte sie »eine triefäugige Schar« und »aufgerührten Schmutz«, und Papst Leo der Große, der von 440 bis 461 amtierte, verdammte »die fleischlich gesinnten Juden« als Frevler, Gottlose und »brüllende Raubtiere«.

Jahrhundertelang wurde der Vorwurf wiederholt, daß die Juden unrein, teuflisch oder tierisch seien. »Ich weiß wirklich nicht ob der Jude ein Mensch ist, weil er weder der menschlichen Vernunft weicht noch sich mit der göttlichen oder eigenen Satzungen zufrieden gibt«, stellte im zwölften Jahrhundert Petrus Venerabilis fest, der Großabt von Cluny. Wenn die Juden aber nicht als Menschen galten, war es kein Verstoß gegen das Gebot der Nächstenliebe, sie zu demütigen, zu berauben, zu vertreiben, zu ermorden oder wenigstens davon zu phantasieren, so wie der Verfasser des Frankfurter Passionsspiels, der in der Mitte des 14. Jahrhunderts dem König Herodes die Worte in den Mund legte: »man sulle die Judden alle hencken! / sie haben mir gethan vil vertrieß, / darumb ich sie todten ließ«. Noch ärger zog der Meistersinger Hans Folz im späten 15. Jahrhundert in seinen heiteren Fastnachtsspielen über die Juden her: »Die kinder gotes das sint doch wir, / Die giftigen würm das seit ir«, reimte er und bezeichnete sie als »unzifer« und »pluthunt«. In seinem Stück »Ein spil von dem herzogen in Burgund« ließ er eine ganze Reihe von Figuren Gericht über die Juden halten und die bestmöglichen Strafen erwägen. Ein Ritter schlägt vor, die Juden nackt auszuziehen und auf ihre Mutter zu binden, und ein anderer Ritter greift diesen Vorschlag auf – man solle sie nackt in eine Latrine setzen, einen Tag lang auf sie defäkieren und sie dann zufrieren lassen:

Ich urtail, das man sie alle jar

Ganz ploß und nacket ziehe auß,

Setz ieden unter ein scheißhaus

Und ließ ein Tag auf sie schmaliern

Und darnach gar rein uberfriren.

Diese Sülze fräße der Teufel gern, sagt daraufhin eine Närrin. Es folgt der Vorschlag, den Inhalt der Latrine in einen Schweinetrog zu füllen und von den Juden verzehren zu lassen (»Maul auf, lecker! Sprich: Mum mum!«), und ein weiterer Ritter entwickelt den Plan, die Juden an den Zitzen einer Sau saugen zu lassen und den Kot der Sau verschlingen zu lassen.

Damit hatte Hans Folz alles bisher Dagewesene an Dreckigkeit überboten. Wenn der Begriff des Schweinischen jemals etwas gedeckt hat, dann hier. Erst Martin Luther gelang es, diesen Versen etwas Ebenbürtiges an die Seite zu stellen. In seiner Hetzschrift »Von den Jüden und jren Lügen« zog er 1543 gegen die »verdampten Jüden« zu Felde und riet ihnen, die Exkremente von Schweinen zu schlucken: »Seid jr doch nicht werd. das jr die Biblia von aussen sollet ansehen. schweige, das ir darinnen lesen sollet. Jr soltet allein die Biblia lesen, die der Saw unter dem Schwantz stehet, und die buchstaben, so da selbs herausfallen, fressen und sauffen.«

Es ist keine Entschuldigung, daß er an Hämorrhoiden, Nierensteinen, Blutstuhl und Durchfall litt. Ein Mann von Luthers geistigen Kapazitäten hätte es sich nicht erlauben dürfen, seine Wut, auf wen auch immer, im Stil eines besoffenen Schweinehirten zu artikulieren und das Gepolter auch noch in Druck zu geben. Doch das hat er getan, und er hat die gesamte Christenheit zum Haß aufgestachelt:

Wenn du sihest oder denckest an einen Jüden, So sprich bey dir selbs also: Sihe, Das maul, das ich da sehe, hat alle Sonnabent meinen lieben Herrn Jhesum Christ, der mich mit seinem theuren Blut erlöset hat, verflucht und vermaledeit und verspeiet, dazu gebettet und geflucht fur Gott, das ich, mein Weib und Kind und alle Christen erstochen und aufs iemerlichst untergangen weren, wolts selber gern thun, wo er kündte, das er unser güter besitzen möchte, Hat auch villeicht heute dieses tages viel mal auff die Erden gespeiet uber den Namen Jhesu (wie sie pflegen), das jm der Speichel noch im Maul und Bart henget, wo er raum hette zu speien. Und ich solte mit solchem verteufelten maul essen, trincken oder reden, So möcht ich aus der schüssel oder kannen mich voller Teufel fressen und sauffen, als der ich mich gewis damit teilhaftig machet aller Teufel, so in den Jüden wonen und das theure blut Christi verspeien.

Und er wurde noch deutlicher: Man müsse die Juden verjagen wie tolle Hunde.

Der zuständige Obervogt handelte also ganz in Luthers Sinn, als er den Juden von Pforzheim im Jahre 1726 verbot, sich während der Ostertage auf der Straße blicken zu lassen; sollten sie es dennoch tun, würden sie acht Tage lang in einen Schweinestall gesperrt und mit Saudreck beworfen: Eine Strafandrohung, hinter der sich mehr schlecht als recht die Lust verbirgt, tatsächlich mit beiden Händen im Schweinekot zu wühlen und andere Menschen damit zu bewerfen. In Deutschland wurden solche Wahnträume furchtbare Wirklichkeit, als die SA Jüdinnen dazu zwang, mit ihren Blusen Kot aufzuwischen, und die SS Juden in Jauchegruben ertränkte.

Ein vielgelesener Vorläufer der Nationalsozialisten war Hartwig Hundt-Radowsky. In seinem »Judenspiegel« faßte er 1819 alle umlaufenden Vorurteile zusammen:

Heimtückische lauernde Arglist, schmutziger Geiz und Wuchersinn ein unbesieglicher Hang zu Betrügereien und Ränken, Neid, eitler Hochmuth verbunden mit sklavischer, schmarotzender Kriecherei, Wollust, unerbittliche Rachgier und Grausamkeit, trotziges Prahlen im Glück und verzagte Feigheit im Unglück: dies waren und sind, und werden ewig die Grundbestandtheile des jüdischen Volkscharakters sein. Hiezu kömmt noch ihr specifischer Geruch, den sie durch ihre unnatürlichen Laster, als ein Allen gemeinschaftliches Erbgut, erworben haben, und der ihnen so häufig in der heiligen Schrift mit den Worten: ihr habet euch stinkend gemacht mit euren Sünden! vorgerückt wird.

Er halte »die Tödtung eines Juden weder für Sünde, noch für ein Verbrechen, sondern blos für ein Polizeivergehen«, schrieb er, und dann gönnte er sich einen politischen Tagtraum von Deportation und Vernichtung:

Mit einigen Tausend Kanonen, könnte man das Ungeziefer über die Türkei bequem fortschüppen, Abrahams Nachkommen würden ihre beschnittenen Halbbrüder, die Ismaeliten gleichfalls weiter schieben, und wir hätten Constantinopel ohne einen Tropfen Christenbluts dann wieder erobert.

Um ihre Sitten zu verbessern, und den Schacherteufel ihnen auszutreiben, müßte man nur Napoleon Bonaparte von Helena zurückberufen und ihn zum Könige der Juden ernennen. Hoffentlich würde er sie fleißig zu Kriegen gegen die Türken gebrauchen, wodurch ihr Muth wieder gestählt würde, und vielleicht könnten sie auf diese Weise ganz von der Erde vertilgt werden, ohne daß man nöthig hätte, selbst Hand an sie zu legen.

Hundt-Radowsky hatte dem Rassenantisemitismus gründ­lich vorgearbeitet, dem der Orientalist Paul de Lagarde 1887 in seinem Buch »Juden und Indogermanen« eine Stimme gab:

Es gehört ein Herz von der Härte der Krokodilshaut dazu, um mit den armen ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die – aus Humanität! – diesen Juden das Wort reden oder die zu feige sind, dies Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.

Dieser Aufruf zum Völkermord konnte unzensiert erscheinen, während Gustave Courbets Gemälde einer Vulva – »Der Ursprung der Welt« – in einer Privatsammlung versteckt werden mußte. Heute aber hängt es öffentlich aus, im Musée d’Orsay in Paris, und Paul de Lagarde ist geächtet. Da können sich die Taliban auf den Kopf stellen.

*

Frauen, die auf Anstand hielten und den Anblick ihres eigenen nackten Körpers vermeiden wollten, wurde in der Biedermeierzeit empfohlen, Sägespäne in ihr Badewasser zu schütten, und auch einhundert Jahre später war man noch weit von der permissiven Gesellschaft entfernt. Am 18. August 1932 erließ das preußische Innenministerium eine Polizeiverordnung, in der es hieß: »Frauen dürfen öffentlich nur baden, falls sie einen Badeanzug tragen, der Brust und Leib an der Vorderseite des Oberkörpers vollständig bedeckt, unter den Armen fest anliegt sowie mit angeschnittenen Beinen und einem Zwickel versehen ist. Der Rückenausschnitt des Badeanzugs darf nicht über das untere Ende der Schulterblätter hinausgehen.«

Dieser »Zwickelerlaß« rief viel Spott hervor, doch man ahnte noch nichts vom Stringtanga. In dem Verbot des Burkini genannten Ganzkörperbadeanzugs, das im Sommer 2016 an zahlreichen französischen Stränden vorübergehend in Kraft getreten war, kann man wiederum ein Zeichen wachsender Intoleranz erkennen. Gerechtfertigt wurde das Verbot mit der Begründung, daß es sich beim Burkini um »ostentative Kleidung« handele, »die auf eine Zugehörigkeit zu terroristischen Bewegungen hinweist, die gegen uns Krieg führen«.

 

Frauen das Baden zu verbieten und sie zu Verbrecherinnen zu erklären, weil sie ihre Beine nicht zeigen – ist das des freien Westens würdig?

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In der Mitte des 19. Jahrhunderts wandelte sich die französische Poesie: »Der bisherige Wortschatz wird physischer als bisher benutzt und scatologische, sexuelle, anatomische sowie pathologische Begriffe erweitern den bisherigen lexikalischen Fundus« (Anja Schonlau, »Syphilis in der Literatur«, Würzburg 2005). Dagegen regte sich natürlich Widerstand. Als im Juni 1857 Baudelaires Gedichtband »Die Blumen des Bösen« erschienen war, griff der Journalist Gustave Bourdin den Dichter im Figaro scharf an: »Hier findet man das Niedrige Seite an Seite mit dem Widrigen, das Abstoßende im Verein mit dem Ekelerregenden. Noch nie hat man auf so wenigen Seiten in soviel Brüste beißen und sie gar zerkauen sehen; noch nie hat man einer solchen Heerschau von Dämonen, Fötussen, Teufeln, Chlorosen, Katzen und Gewürm beigewohnt. Dieses Buch ist ein Siechenhaus, das allen Narrheiten des Geistes, allen Fäulnissen des Herzens offensteht; wenn es noch geschähe, um sie zu heilen, aber sie sind unheilbar.«

Baudelaire war entsetzt. Seinem Verleger Auguste Poulet-Malassis schrieb er:

Verstecken Sie schnell die ganze Auflage, aber verstecken Sie sie gut; es müssen noch 900 Exemplare in Bogen bei Ihnen liegen. – Bei Lanier befanden sich noch 100; die Herren waren offenbar baß erstaunt, weil ich 50 davon retten wollte. Ich habe sie in Sicherheit gebracht und den Empfang bescheinigt. Bleiben also 50 für die Gefräßigkeit des Zerberus Justiz.

Das hat man davon, wenn man dem FIGARO Belegexemplare schickt!!!

Es kam zum Prozeß. Sechs der Gedichte, erklärte der Staatsanwalt Ernest Pinard, der im selben Jahr schon vergeblich versucht hatte, ein Verbot des Romans »Madame Bovary« zu erwirken, verletzten die öffentliche Moral. Dazu gehöre das Gedicht »Les Métamorphoses du Vampire«. In der ersten Strophe windet sich – in der Prosaübertragung von Friedhelm Kemp – ein Weib »wie eine Schlange auf der Glut«, preßt »seine Brüste über dem Gestänge des Mieders« und preist die eigene Erfahrenheit »in allen Lüsten«, woraufhin der Liebhaber, nach vollzogenem Geschlechtsakt, in der zweiten Strophe schaudernd zurückweicht:

Als sie mir aus den Knochen alles Mark gesogen und ich ermattet mich zu ihr wandte, einen Liebeskuß ihr zu erwidern, sah ich nur einen Schlauch noch, mit verklebten Flanken, ganz von Eiter angefüllt! Ich drückte in kaltem Grauen beide Augen zu, und als ich in der Helle des lebendigen Lichtes sie wieder aufschlug, lagen da anstatt des mächtigen Gliederbalges, der sich mit Blut so reichlich vollgepumpt zu haben schien, zur Seite rasselnd mir nur des Gerippes Reste, die das Kreischen einer Wetterfahne hören ließen und solchen Schildes, wie es an einer Eisenstange im Wind der Winternächte schaukelt.

»Glauben Sie ernstlich«, fragte Pinard, »daß man alles sagen, alles schildern, alles entblößen darf, wenn man nur anschließend von dem Ekel spricht, den die Ausschweifung erzeugt, und wenn man die Krankheiten beschreibt, die ihre Strafe sind?«

Das Menschenrecht, die Wollust zu besingen, den Ehebruch zu feiern, Morbides zu dichten, Gott zu lästern und sich überhaupt amoralisch zu äußern, war noch nirgendwo verbrieft. Baudelaires Verteidiger blieb gar nichts anderes übrig, als seinen Mandanten von allen Vorwürfen reinzuwaschen und ihn zum Herold der christlichen Sexualethik zu stilisieren, der seine Leser zur Tugendhaftigkeit erziehen wolle. Er zeige zwar das Laster, so lautete das Argument, »aber er zeigt es Ihnen als verabscheuungswürdig; er schildert es Ihnen in abstoßenden Farben, weil er es verabscheut und weil er Abscheu davor wecken will, weil er es haßt und weil er Haß dagegen einflößen will, weil es es verachtet und weil er will, daß Sie es verachten.«

Doch es half nichts: Baudelaire und sein Verleger wurden zu einer Geldbuße und zur Erstattung der Gerichtskosten verurteilt, und die Druckplatten der sechs Gedichte mußten vernichtet werden.

Auf die Nachwelt sind sie trotzdem gelangt.

*

1870 wurde Moritz Schauenburg von der Staatsanwaltschaft vor dem Badischen Kreis- und Hofgericht »wegen durch die Presse verübter Herabwürdigung der Religion und Erregung öffentlichen Ärgernisses durch unzüchtige Schriften« angeklagt, weil in seinem Verlag Wilhelm Buschs Bildergeschichte »Der heilige Antonius von Padua« erschienen war. Unzüchtig seien die Zeichnungen, in denen sich der Heilige fleischlichen Versuchungen ausgesetzt sieht, und eine Herabwürdigung der Religion sei in dem Umstand zu erkennen, daß er am Ende gemeinsam mit einem Wildschwein gen Himmel auffährt und von der Jungfrau Maria mit der Bemerkung empfangen wird: »Willkommen! Gehet ein in Frieden! / Hier wird kein Freund vom Freund geschieden. / Es kommt so manches Schaf herein, / Warum nicht auch ein braves Schwein!!«

»Das Heilige, welches allen christlichen Religionen gemeinsam, ist nirgends berührt oder angetastet worden«, stellte Busch fest, und er bestritt, bei der Darstellung der Schönheiten, die seinen Antonius umgarnen, die Grenze zum Anstößigen überschritten zu haben: »Das Lächerliche und Wollüstige sind geradezu Gegensätze, und es zeigt sich die Übertriebenheit der Anklage darin, daß sie etwas Tadelnswerthes mit Gewalt finden und an den Haaren herbeiziehen will.« Und in der Tat gibt es da nichts Gravierendes zu sehen. Schauenburg, dem drei Monate Gefängnis gedroht hatten, wurde im Jahr darauf freigesprochen; in Preußen und in Hessen blieb das Buch jedoch noch jahrelang verboten und in der Steiermark sogar bis 1929.

1881 äußerte der Busch sonst gewogene Publizist Friedrich Theodor Vischer in einem Aufsatz über moderne Karikatur sich sehr geringschätzig über »Der heilige Antonius von Padua« und besonders über den darin als Balletdame figurierenden Teufel: Busch habe sich in dieser Bildergeschichte »als ganz gewandter Zeichner« entpuppt, »und zwar im Pornographischen«, was Vischer genauer begründete:

Unter Pornographie verstanden die Alten, wie man weiß, schamlose Wollustbilder. Das Wort kann auch in weiterem Sinn genommen werden; es brauchen nicht flagrante Momente dargestellt zu sein, und man kann ein Bild doch pornographisch nennen. Es gibt einen pornographischen Strich; es ist eine Art, weibliche Formen, Bewegungen, Mienen zu zeichnen, die sehr verständlich ist; dieser Strich ist nicht deutsch; wer auch nur Journal amusant angesehen, kennt ihn und versteht, was ich meine; die Deutschen haben ihn in der modernen Zeit von den Franzosen gelernt, besonders gelehrig haben sich die Wiener in ihren illustrirten Blätten erwiesen.

Wilhelm Busch als Pornograph? Wer die harmlosen Zeichnungen betrachtet, wird Mühe haben, darin einen »pornographischen Strich« zu erkennen, aber Vischer war sich seiner Sache sicher:

Die beißende Satyre kann unter Umständen Bilder des Frechen, des Liederlichen nicht entbehren; niemals aber wird sie dieselben so behandeln, daß der geringste Schein entsteht, als wolle sie dadurch gefallen und vergnügen. – Gröber und gründlich eckelhaft sieht man denselben Strich walten in der Art, wie in den genannten Scenen der Bart des h. Antonius behandelt ist. Davon kein Wort weiter!

Hier könnte Vischer sich darauf bezogen haben, daß der Bart des Antonius entfernt einem Hodensack ähnelt, doch es ist zweifelhaft, ob Busch das beabsichtigt hat.

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