Der grüne Pfad hat nie ein Ende

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Doch der Bock musste liegen, keine Abflucht mehr, selbst die schmale Schneise hatte er nicht mehr verlassen.



Natürlich zog die Hündin am Riemen, als wir zum Anschuss hin schritten. Der blonde Bauch des Verendeten leuchtete uns bald entgegen. Bökshagen wartete mit einem besonderen Geschenk für mich auf. Etliche Abnorme, auch ein echter Einstangenbock, hingen an meiner Wand, aber dieser hier war ein ganz Besonderer! Auf starken Rosenstöcken rechts ein in den Spitzen leicht angegabelter Buchstabe „V“, links die massig breite Sechserstange, die dem Bock den Namen gegeben hatte.



An diesem Wild der Heimat kostete ich lange den Jubel des reifen, aber noch nicht alten Jägers, die archaische Beutelust und die Freude des Schützen über die treffsicher versandte und blitzartig tötende Kugel aus.



Immer noch kühlschattig wölbten sich über uns die Kronen des Buchenaltholzes, schauten auf ihre Nachkommen im Stangenholzalter herab und übernahmen unbedenklich die Wacht für den in ihrer Obhut zum Ausschweißen aufgehängten Rehbock.



Der Heimweg war freudig; allzu viele Stunden der vollkommenen Abkehr von Sorgen, Leid und Last bietet das Leben nicht, und man soll sie genießen und auskosten.








Der Schaufelige oben in der Mitte zwischen anderen Abnormen

.









Auf drei Läufen







Länger gemunkelt hatte man schon darüber, auch die eine oder andere eher kurze Notiz in der jagdlichen Presse gelesen. Dann ging es aber plötzlich im Hauruck-Verfahren weiter, und nur wenige Tage vor ihrem Inkrafttreten (eher ungewöhnlich) am 1. Oktober 2014 hat das Landwirtschaftsministerium in Niedersachsen mit einem „grünen Minister“ an der Spitze geänderte Jagd- und Schonzeiten herausgegeben. Bei Rehböcken, und nur auf diese will ich eingehen, wurde die Jagdzeit bis zum 31. Januar verlängert.



Empörend! Welcher Jagdpächter hatte denn bisher am 15. Oktober seinen Bockabschuss nicht erfüllt?! Welcher echte Jäger empfindet Freude daran, einen abgeworfenen oder im Bastaufbau befindlichen Bock zu schießen? Welcher echte Jäger gönnt nicht dem Bock, verfolgt seit dem 1. Mai, neuerdings seit dem 16. April und in manchen Bundesländern schon seit dem 1. April, die Schonung und Ruhezeit?



„Die Förster wollen und brauchen beim Rehwild jetzt nicht mehr anzusprechen“, sagen die einen. In der „Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Niedersächsischen Jagdgesetzes“ liest sich das natürlich eleganter. Es soll eine Intensivierung der Bejagung insbesondere für die dickungsreichen Waldkomplexe geschaffen werden.



Das Rehwild wird auch in seinem angestammten Lebensraum nur noch als Schadfaktor gesehen. Jeder mitdenkende Jäger sieht ein, dass in einer forstlichen Aufbauphase der Rehwildbestand durch Schwerpunktbejagung kurzgehalten werden muss, und das war bisher bei den Rehböcken in fünfeinhalb Monaten auch möglich.



Vorbei die Zeiten, als ein Förster neben dem Holz auch noch ein Auge auf seinen gerecht zu bejagenden Wildbestand hielt? Jetzt weiche ich ein bisschen von meiner bisherigen Pirschrichtung ab, denn ich sage: Ich glaube es nicht, man soll nicht alle über einen Kamm scheren, und die Verordnung, die so heftige Diskussionen ausgelöst hat, kommt von „ziemlich weit oben“. Huberto sei Dank, dass ich eine ganze Reihe von Förstern kenne, denen „Wald und Wild“ noch am Herzen liegt – im Übrigen ist das ein ganz klarer gesetzlicher Auftrag nach dem Bundesjagdgesetz!



Wie dem auch sei, ich ging Mitte November nicht ins Revier, um noch einen Bock zu schießen, sondern um verschiedene Bereiche auf Sauen abzufährten und um mich auf weibliches Rehwild anzusetzen.



Von der beuteträchtigen, aber höchst altersschwachen Kanzel „Krematorium“ hatte ich im letzten diffusen Licht drei Stück Rehwild austreten sehen und diese als Ricke mit zwei Kitzen angesprochen. Dabei schien es mir, als wenn eines der Letzteren irgendwie unnormal dem führenden Stück nachzog.



Zwei Tage später saß ich an gleicher Stelle und beschäftigte mich in Gedanken mit den frischen Saufährten und dem zu beschickenden Luderplatz, denn an dieser Örtlichkeit hatte ich auch das Gros meiner Winterfüchse mit wunderbarem Balg geschossen.



Diesmal war das Licht noch gut, als an anderer Stelle drei Stück Rehwild aus dem Bestand auf das magere Grün hinauswechselten. Aha, dachte ich, die bewussten drei! Doch was war das? Das zuletzt folgende Stück schonte nicht nur, es „hüpfte“ auf drei Läufen!



Das war auch kein Kitz, ich hatte mich in der Dunkelheit geirrt, bei den noch guten Ansprechbedingungen erkannte ich jetzt einen schwachen Jährlingsbock. Es war noch weit, sehr weit, aber im Glas sah ich deutlich, dass ein Lauf baumelte, wenn der Bock, der ansonsten wie die beiden anderen Stücke vertraut äste, einige Längen „weiterhoppelte“. Jetzt war ich natürlich elektrisiert, dieses schwache und kranke Stück musste unverzüglich erlegt werden.



Als das matte Licht des Novembertages bedrohlich im Abnehmen begriffen war und ich die Hoffnung verlor, dass sie näher heranwechseln würden, ging ich in Anschlag, was ich bei einem gesunden Stück auf diese Entfernung wahrscheinlich nicht gemacht hätte.



Mir kam mein diesjähriger Jagdausflug in die Karawanken in den Sinn. Im August hatte ich eine Gams auf 180 Meter erlegt, das machte mir frischen Mut, außerdem hatte ich hier eine gute Auflage und stabilisierte zusätzlich den rechten Ellenbogen auf dem hochgezogenen und abgestützten Knie.



Zwei, drei Minuten musste ich noch warten, bis der Kranke sich breit präsentierte.



Der Schuss brach, der Bock fiel, Ricke und Kitz spritzten auseinander, verhofften und äugten ratlos zu dem liegenden, aus ihrer Mitte gerissenen Stück hinüber. Die Dublette versagte ich mir, blieb noch mit dem Absehen auf dem kleinen hellen Fleck auf dem braungrünen Untergrund des Saatschlages. Zögernd verschwand zuerst das Kitz und dann, immer wieder zurückäugend, die Ricke in der Saumzone des Bestandes.



Zehn Minuten später brach ich im letzten Licht den schwachen Jährling mit dem niedrigen, dünnen Gablergehörn auf – was gibt es Besseres für den Luderplatz als einen Rehwild-Aufbruch, den natürlich auch die Sauen höchst gerne annehmen.



Der Jährling hatte keine frische Verletzung. Der rechte Vorderlauf hing über dem Fußwurzelsprunggelenk nur noch an der Decke, die Schalen waren ausgewachsen.



Warum es mir einfiel, weiß ich nicht: Meine im Sekundenbruchteil tötende Kugel war sicher humaner als der reißende Fang des Deutschland mit ungeahnter Vitalität erobernden Wolfes. Eigentlich hat der Abschuss dieses Bockes gar nichts mit der verlängerten Jagdzeit zu tun, denn eindeutig krankem Wild gebührt die Kugel auch in der Schonzeit.



Trotzdem war die Gedankenverbindung da, irgendwie ist doch die Jagdzeit auf den Bock im Innern des Jägers verfestigt, zum Beispiel hatte ich – im krassen Gegensatz zu Mai, Juni, Juli und August – auch gar keine Lust, das Gehörn abzukochen und zu präparieren, tat es natürlich aber doch. Sonst um diese Zeit waren es meistens Damhirsch-Schädel, an denen ich herumschabte, und Schaufelgeweihe, die ich immer wieder begutachtete; auch um eine Ente zu rupfen und den Hasen für die Bratröhre fertig zu machen, war ich mir nicht zu schade.



Aber im November, Dezember oder Januar mit Absicht einen gesunden, abgeworfenen, schiebenden, Ruhe benötigenden Bock schießen? Ein klares Nein.










Ob schwarz oder rot – die Jagdzeit auf Rehböcke bis zum 15. Oktober ist lang genug!











Ein besonderer Elbmarschbock







Der große Strom fasziniert immer; bringt die Elbe nicht ein Stück historische und gleichzeitig höchst lebendige Geschichte mit sich, leiten ihre flutenden Wellen unsere Gedanken und Sehnsüchte nicht in die Ferne, spüren wir nicht gleichzeitig die Erdverbundenheit an ihren Ufern? Zudem ist das Eintauchen in die Naturlebensräume an ihren Gestaden immer ein besonderes Geschenk für den Naturfreund.



Ein solcher war und ist Simon, gleichzeitig Hobby-Ornithologe, vom Jugendjagdschein an passionierter und trotzdem eher zurückhaltender Jäger, der weniger die Treibjagd als die einsame Pirsch liebt und deswegen unter den ihn sonst durchaus schätzenden Weidgenossen ein wenig als elegischer Sonderling gilt. Simon stört das nicht, so viele unendlich kostbare Stunden hat ihm die Elbregion und das Revier seines Onkels schon geschenkt. Dieser hatte wenig Zeit, hielt die Pacht auch mehr aus Geltungssucht denn aus Passion und sah es nicht ungern, wenn sein Neffe einen Großteil des Rehwild-Abschusses „erledigte“, allein aus diesem ihm geläufigen und immer wieder gebrauchten Ausdruck war sein Verhältnis zum Wild schon abzulesen.



Wieder einmal wanderte Simon auf dem Elbdeich zwischen Tespe und Marschacht stromabwärts. Ein dunkler Punkt in der Luft, ein größerer Vogel strich heran. Im hochgenommenen Fernglas wurde er schnell größer und größer. Welch eine Flügelspannweite! Der gelbe, mächtige Schnabel fiel schon von weitem auf, dann der keilförmige helle Stoß. Ein ausgewachsener Seeadler, wann sieht man ihn schon mal so nah und kann ihn in allen Einzelheiten beobachten! Fasziniert folgte er dem majestätischen Aar mit den Blicken und freute sich über die positive Entwicklung seines Vorkommens.



Simon hielt die Augen weiter auf, in der Elbmarsch ist nicht jede Ente eine Stockente, nicht jeder Greif ein Mäusebussard, nicht jeder Piepmatz eine Amsel oder eine Kohlmeise, wobei er gegen diese häufigen Arten absolut nichts hatte und sich an ihrem Dasein erfreute.

 



Er wanderte ein Stückchen in die Feldmark hinein, wo es immer etwas zu beobachten gab. Besonders gute Einblicke bekam er in das Leben und Treiben des Neuntöters, der in dem Stückchen Weißdornhecke, das einen großen Rapsschlag begrenzte, den Mittelpunkt seines Territoriums hatte. Sowohl das schön gezeichnete Männchen mit dem kastanienbraunen Rücken, blaugrauen Scheitel und Bürzel und dem schwarzen Gesichtsstreifen als auch das oberseits matt rotbraune, unten gelbbräunlich gefärbte Weibchen mit der gebänderten Brust bekam er dort regelmäßig in Anblick. Allzu lange konnten sie aus ihrem afrikanischen oder südasiatischen Winterquartier noch nicht zurück sein, vielleicht erst vier Wochen. Jetzt war es Ende Mai, und die beiden waren erkennbar beim Nestbau, immer wieder sah er sie mit einem Halm, einem kleinen Zweig, einer Wurzel oder einem Stückchen Moos im größten Dornenbusch verschwinden.



Dabei fielen ihm die Weißstörche ein, die er im April bei den Ausbesserungsarbeiten an ihrem großvolumigen Horst beobachtet hatte. Jetzt fütterten sie schon ihre ewig hungrigen Jungen!



Im Landkreis Harburg wurden im Jahr 2017 die meisten Weißstörche seit Jahrzehnten gezählt: Aus 37 Nestern, fünf davon waren Neuansiedlungen, klapperten die Brutpaare in die weite Landschaft und zogen insgesamt 77 Junge auf.



„Wir wollen hoffen, dass Meister Adebar sich weiterhin wohl fühlt bei uns und dass nicht noch mehr Grünland dem Maisanbau zum Opfer fällt“, dachte Simon und beschloss, eine kleine Pause einzulegen. Gerade sinnierte er herum, sich jetzt „eine Weile von innen zu betrachten“, da hörte er den sausenden Schwingenschlag eines Trupps Höckerschwäne, die nahe über seinen Kopf hinwegstrichen. „Die Augenpflege muss ich verschieben“, seufzte er dann, das laute Spektakeln der Kanadagänse vom Kanal, hörte nicht auf und ließ sowieso keine Ruhe aufkommen.



Ein Abschiedsblick zum rüttelnden Rotrückigen Würger, und dann setzte er seinen Weg fort.



„Moin, moin“, erwiderte er den lachenden Gruß eines Fahrradfahrers, der sein um den Hals hängendes Fernglas anlupfte, um sich als Beobachter zu solidarisieren.



Vierzehn Tage später zeigte sich das Neuntöter-Weibchen nicht mehr. Wahrscheinlich war das mit Haaren ausgepolsterte Nest fertig und es bebrütete bereits die drei bis sieben rosafarbenen, braun gefleckten Eier. Das Männchen ließ dort seinen Reviergesang, ein anhaltendes Zwitschern mit eingestreuten Imitationen anderer Vogelstimmen erschallen.



Simon streifte dann noch durch den Niedermarschachter Werder, es schien ein Tag zu sein, an dem die Elbmarsch ihren Artenreichtum in der Vogelwelt auch präsentieren wollte. Er freute sich über den Anblick von Fischreihern, mehreren Silberreihern und Weißstörchen, über das im Tiefflug das Schilfgebiet absuchende silbergraue Kornweihenmännchen, über Tafel-, Krick- und Löffelenten, Grau- und Kanadagänse sowie den aus den Buschinseln zu hörenden Gesang von Nachtigall, Mönchsgrasmücke und Zaunkönig.



An den Bracks kamen Ringeltauben und ein Pärchen Türkentauben zur Tränke, Mehl-, Rauch- und auch Uferschwalben nahmen hier gern ein Bad, Bachstelzen widmeten sich am Ufer dem Insektenfang, Stockenten liebten die Sonneneinstrahlung am schräg aufsteigenden Ufer, und eine Reiherente behütete ihre wohl gerade erst geschlüpfte Jungenschar.



Eine Erlenanpflanzung zeigte sich noch niedrig, aber dicht und grün in satten Farben, als Simon sich vorsichtig näherte, um mit dem Fernglas nach gefiederten Besuchern zu spähen.



Ein gelber, unruhiger Fleck am kahlen Gewässerrand – eine Schafstelze diesmal und nicht die oft anzutreffende schwarzweiße Verwandte, der Wippsteert (der plattdeutsche Ausdruck für Bachstelze). Aber rechts hinten war noch mehr Bewegung. Ständige Bewegung! Vier nur starengroße, auf den ersten Blick als Wasser- und Strandläufer anzusprechende Federbälle trippelten dort emsig hin und her, wippten unentwegt mit Schwanz und Kopf, stießen gedankenschnell mit dem spitzen Schnabel nach einem Insekt, einer Schnecke oder einem Wurm am Ufer, einer Kaulquappe, Insektenlarve oder einem Rückenschwimmer im seichten Wasser und eilten schon wieder hurtig weiter, wobei die schneeweiße Unterseite aufblitzte. Die undeutliche Fleckung an den Brustseiten und die dunkelbraune Oberseite war klar im Glas zu beobachten. Diese unruhigen Geister hätten noch eher als die Bachstelze den Namen Wippsteert verdient! Simon wusste längst, wen er vor sich hatte – Flussuferläufer, die, wenn man sie überrascht, so schnell weg sind, dass der Unkundige sich fragt, was da wohl eben so blitzschnell abgestrichen ist.



Die Bekassine, nicht umsonst nennt man sie auch Himmelsziege, ließ ihr Meckern hören, Simon hatte nichts zu meckern, er hatte wunderbare Beobachtungen gemacht.



Der Frühsommer lag mit hohen Wärmegraden über der Elbregion, vereinzelt suchten mutige Badende schon Abkühlung in den Elbefluten, als Simon sich mal wieder mit dem Fahrrad zwischen Elbstorf und Drage der dortigen Kleientnahmestelle mit ihren Flachwasserbiotopen näherte.



Als er einmal zu den Hausdächern von Drennhausen hinüberschaute, fielen ihm zwei kreisende Greife auf, die unmittelbar darauf hinter einem Weidendickicht zu Boden gingen.



Der Vogelkenner hatte schon eine Vermutung, aber er wollte sich vergewissern und trat entschlossen in die Pedale. Ja, es waren zwei rostfarbene Rotmilane mit ihrem tief gegabelten Schwanz, die sich dort von einer Mahlzeit erhoben: Im Graben neben dem Weg lagen die Reste eines Marderhundes, wer weiß, wie er zu Tode gekommen war. Der Neubürger erobert sich kontinuierlich neue, zusagende Lebensräume.



Die beiden Milane legten eine Ehrenrunde ein, während Simon weiterfuhr und sich wieder anderen Beobachtungen widmete. Sein Rad stellte er bald darauf an der Straße ab und pirschte vorsichtig los. Eine bestimmte Hoffnung kreiste in seinen Gedanken, eine Hoffnung, die bisher noch niemals erfüllt worden war …



So hielt er seine Augen offen und achtete besonders auf die Kleinvogelwelt in den verstreuten Buschgruppen rings um die von vielen Vogelarten belebten Gewässer.



Eine weiße Feder schwebte mit dem Westwind heran und blieb an einem skurrilen Baumstumpf hängen, dessen Ähnlichkeit mit einem Altmännergesicht Simon staunend und lächelnd bewunderte. Die Natur ist ein Künstler! Als er seine Blicke wieder erhob, fiel ihm eine Bewegung in den dahinter wuchernden Weißdornbüschen auf. Schnell nahm er das Glas an die Augen, und die Optik fing einen kleinen Singvogel ein, der gerade zu Boden flatterte, um sich sofort wieder, wenn auch nur für Sekunden, auf einem freien Ast zu präsentieren. Simon verschlug es fast den Atem! Nach dieser Art hatte er seit zwei Jahren „gefahndet“ und gehofft, sie hier zu sehen! Welch ein bunter, prächtiger Anblick, dieses Blaukehlchen! Der leuchtende Kehlfleck war durch ein schwarzes und rotbraunes Band vom hellen Bauchgefieder abgesetzt. Auch den weißen Fleck in dem wunderbaren Blau der Kehle sah Simon genau. Es war ein Weißsterniges Blaukehlchen, und als ihm der Name durch den Kopf ging, dachte er glücklich: „Jetzt habe ich meinen Stern gefunden, den Stern der Elbmarsch!“



Fast eine Stunde blieb er am Boden auf dem trockenen Altgras hocken und konnte sich noch mehrere Male an dem schönen, seltenen Anblick erfreuen. Das Weibchen sah er nicht und vermutete, dass es dem Brutgeschäfte oblag. Unendliche Möglichkeiten des versteckten Nestbaus gab es hier in den sumpfigen Dickichten und Weidichten und in den Ufergebüschen der verstreut liegenden Teiche. Einmal hörte er auch den Warnruf des Männchens, das scharf hervorgestoßene „Tack, tack!“ Simon lächelte darüber und sprach den kleinen Revierwächter an: „Der plumpe Mäusebussard wird dir doch nichts tun!“



Langsam schob er sein Fahrrad zum Weg zurück und schwang sich wieder in den Sattel. Die Mittagshitze stand über dem Land, und er freute sich auf die schattige Sitzbank in seinem Garten zu Hause und auf ein kühles Getränk. Als er das Rapsfeld wieder passierte, fielen ihm plötzlich hell leuchtende Stellen an einigen Randbüschen auf. Wo hatte er nur seine Augen gehabt? Ja, er war von der anderen Seite gekommen, hatte sich auf den Neuntöter konzentriert und diese Markierungen, diese Fegestellen, glatt übersehen. Da, das war doch der Warnruf des kleinen Krummschnabels, dieses krächzende „Gäck!“, und da sah er ihn schon, wie er über dem Halmenmeer der Ölfrucht kurz rüttelte, hin- und herflog und dann wieder in seiner Weißdornburg verschwand. Da war doch eine Bewegung, hatte er sich über eine Störung in seinem Brutrevier aufgeregt?



Simon hob sein Glas an die Augen und nahm die zimmergroße Fläche in die Optik, wo die Fahrspur die halb am Boden liegenden dichten Halme durchschnitt – und wo jetzt plötzlich das Haupt eines Rehbockes auftauchte! Misstrauisch äugten dunkle Lichter in die Runde, ein Windfang prüfte den Lufthauch, und dann nahm der Bock das Haupt wieder herunter, um noch weiter in das bergende und schützende Feld hineinzuziehen. Nur noch einmal, ganz kurz, hatte Simon, der sein Fernglas keine Sekunde von den Augen genommen hatte, diesen Anblick. Nein, er hatte sich nicht getäuscht, dieser Bock, den keiner hier vermutet hätte, trug ein starkes, reich geperltes und dunkles Sechsergehörn mit hell gefegten Vordersprossen von beachtlicher Länge, er wirkte alt und reif. Den hatte noch keiner gesehen, und Simon spürte abrupt und leicht euphorisch, wie sein Puls das heiße Jägerblut schneller durch den Körper jagte! Er blieb noch ein Viertelstündchen an Ort und Stelle, ohne fest damit zu rechnen, dass dieser Starke sich noch einmal sehen lassen würde. So war es auch, und als er endgültig Richtung Heimat fuhr, grüßte er dankend zum vermuteten „Einstand“ des Neuntöters hinüber, der ihn auf diesen Bock aufmerksam gemacht hatte.



„Onkel, das ist einer für dich, der bleibt bestimmt bis zur Blattzeit im Raps“, beschwor er später den Beständer, denn dass er diesen Starken melden musste, war ihm eine Ehrenpflicht. „Wenn der Schlag erst gemäht ist, ist auch der Bock weg, und wer weiß, wohin er sich umstellt!“



Von seinem „Stern der Elbmarsch“ erzählte er nichts, obwohl doch dieser auch an dem glücklichen Ausdruck in seinem Gesicht beteiligt war. Die Kleinvogelwelt interessierte seinen Onkel weniger, er hielt es mit den Gefiederten, die er auch essen konnte. Von den vielen Enten, dem Dutzend Fasanen und den 15–20 Wildgänsen, die sie jährlich schossen, wurde selten ein Stück verkauft, die blieben in der heimischen Küche oder in verwandten Haushalten. Beim reichlichen Mahle vergaß der alte Jäger fast nie, den Rebhühnern nachzutrauern, die so selten geworden waren, dass die Jagdausübung auf sie eingestellt worden war.



Zwar warf der „olle Willi“ – diesen Spitznamen hatte der Onkel zusammen mit der Zimmerei von seinem Vater geerbt – tatsächlich ein wenig auf, als Simon den starken Bock über alle Maßen pries, aber dann antwortete er schon wieder skeptisch und unlustig: „Da am Raps steht doch gar kein Sitz, soll ich mich da ins Gras legen, oder was?“



Als Simon ihm anbot, dort eine transportable Leiter aufzustellen, sagte er immerhin zu, sich „bei Gelegenheit“ dort mal anzusetzen. Das führte er auch durch, sah zweimal nichts und hatte damit schon wieder die Lust verloren, diesem „Phantasiebock“ nachzustellen, Simon sollte es gefälligst selber versuchen, wahrscheinlich wäre es sowieso einer der „normalen Plöttrigen“.



Sein Neffe nahm das Angebot nun ohne Gewissensbisse an und – sah dreimal nichts, allerdings ließen bei ihm als ornithologisch interessiertem Menschen die vielen Beobachtungen der artenreichen Vogelwelt keine Langeweile aufkommen. Insbesondere das Leben und Treiben der Neuntötereltern, die ohne Rast und Ruh Atzung für die hungrige Brut herantragen mussten, machte ihm viel Freude. Einzelne, vorwüchsige Rapsstengel nutzten die Würger durchaus als Ansitzplätze, von wo aus sie blitzschnell auf Großinsektenjagd stießen. In der Fahrspur gelang es ihnen auch mehrfach, eine Maus zu erbeuten.



Als das grausilberne Kornweihenmännchen über dem Halmendickicht seinen gleitenden Suchflug unterbrach und kurz rüttelte, sah Simon bei seinem nächsten Ansitz schon im Geiste das trutzige Bockhaupt dort auftauchen, aber es blieb eine Wunschvorstellung, an Rehwild hatte er diesmal immerhin ein einsames Schmalreh in Anblick.



So hoffte er auf die bevorstehende Blattzeit und ließ den Revierteil in Ruhe, versäumte aber nicht, in dem wilden Buschgelände auf der Westseite des Rapsschlages seinen transportablen Schirm in einen Weidenbusch einzubauen und sich durch das Entfernen vieler störender Äste das Schussfeld in die kleinen Lücken und Blößen freizuschneiden. So war er auch bei den im Hochsommer durchaus nicht seltenen Ostwindlagen für einen Ansitz gerüstet, davon abgesehen war der junge Jäger erfindungsreich in der freien Pirsch, konnte sich hineindenken in das Wild, und ein heimliches und verstecktes Plätzchen für seinen Ansitzstock fand er immer. Früher als er es eigentlich vorgesehen hatte, musste es dann ernst werden!

 



„Hast du deinen Kapitalen denn noch mal gesehen?“, empfing ihn der Onkel bei ihrem nächsten Treffen, und sein Lachen entbehrte nicht einer gehörigen Prise Spott. „Nächste Woche am Freitag hat Rieckmann den Mähdrescher und wird seinen Raps mähen, dann ist der Bock weg!“



Oh je! Simons Gedanken überschlugen sich, und seine „grünen Gehirnwindungen“ arbeiteten auf Hochtouren. Doch eigentlich gab es da nichts zu überlegen, er musste raus und sich ansetzen!



Der Julimond ging in sein letztes Drittel, heiß und drückend war es, der sachte Wind aus westlicher Richtung konnte kaum seine schweißnasse Stirn kühlen, als er die paar Stufen der Ansitzleiter emporkletterte und aufatmend seine Büchse rechts neben sich hinstellte. Dunkel und schweigend lag der große Rapsschlag vor ihm. Schon seit Mittag verdeckten dunkle, geballte Wolkengebilde die Sonne und kündeten ein Unwetter an. Nur wenige Stellen gab es in der Frucht, wo überhaupt ein Rehkörper zu sehen wäre. Diese leuchtete Simon bevorzugt mit dem Glase ab. Als er sich gerade eingestehen wollte, dass sein Ansitz hier ziemlich sinnlos war, hatte er plötzlich in seiner Optik, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte. Die feuerrote Decke des neulich gesehenen oder eines anderen zartgliedrigen Schmalrehes, schließlich stand im Revier nicht nur eins „von dieser Sorte“, und besondere Merkmale zur individuellen Unterscheidung gab es nicht. Das Stück verschwand wieder im Halmendickicht, und Simon überlegte krampfhaft, ob er blatten sollte oder nicht.



Das Wolkengeschiebe hatte sich verstärkt, und durch die nahende und zusätzlich das Licht mitnehmende Dämmerung zuckte fern der erste Blitz, als er mit schnellem Entschluss den Fieplaut aus seinem Instrument hervorlockte. Mehrfach wiederholte er ihn, blickte gespannt in die Runde, doch es zeigte sich nichts.



Nach zehnminütiger Pause schickte Simon das Begehren der Ricke erneut in die schon unter starken Windstößen sich biegende Halmenburg – und da – da tauchte doch etwas auf aus der gleichförmigen Oberfläche, aus dem Etwas wurde im Glas ein Gehörn, ein starkes Sechsergehörn, und der Oberteil eines Bockhauptes mit dunklen Lichtern und Windfang drehte sich misstrauisch in alle Richtungen. Er war noch da! Doch stand er mittendrin im Schlag – und schon war der Gesuchte wieder verschwunden.



Ein heftiger Donnerschlag verhalf Simon zu der Erkenntnis, dass der Bock bei Büchsenlicht bestimmt nicht mehr austreten würde und er selbst so schnell wie möglich seinen fahrbaren Untersatz aufsuchen sollte! Gedacht, getan, kaum saß er in seinem sicheren „Faraday’schen Käfig“, der ihn vor Blitz und Regenguss schützte, da erlebte er mit leichtem Grausen das schwerste Gewitter, das die Elbmarsch in diesem Jahr heimsuchte.



In der Nacht schlief der junge Weidmann schlecht, verfolgte auch immer wieder das noch vor Mitternacht abziehende Unwetter. Als er ganz früh am nächsten Tag vor die Haustür schaute, zeigte sich gerade erst ein schmaler und heller, sich langsam rötender Schein am östlichen Himmel. Der Wind hatte gedreht und kam aus ostwärtiger Richtung. Damit war sein Plan klar: Ab in den Schirm im Ödland, das Rehwild würde doch wohl hoffentlich den quatschnassen Rapsdschungel heute meiden.



Wenige Minuten vor dem Heraufziehen des vollen Büchsenlichtes richtete er sich in seinem versteckten Plätzchen in dem Weidenbusch ein, war froh, das so vorbereitet zu haben und fühlte jetzt die Spannung und die Vorfreude auf einen ungestörten Blattzeitmorgen. Immer wieder sah er im Geiste das trutzige Bockhaupt vor sich und hoffte, nun auch mal den ganzen dazugehörigen Bock in Anblick zu bekommen.



Das Vogelleben erwachte, ein Mäusebussard zog über ihm seine Kreise, Ringeltauben und Amseln flogen auf erster Nahrungssuche hin und her, eine Goldammer versicherte ihm, wie lieb sie ihn habe, und das kecke Mönchsgrasmückenpärchen, schwarz und braun behütet, schlüpfte durch den Unterwuchs. Simon dachte an seinen „Stern der Elbmarsch“, das von ihm endlich entdeckte Blaukehlchen, und nahm sich vor, in den nächsten Tagen unbedingt einm