Spirituelle Sterbebegleitung

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Sterben ist einmalig

Es gibt zwei Fragen, die zum Sterben immer wieder gestellt werden: Wie ist das Sterben? Wie wird mein Sterben sein? Die beiden Fragen sind ähnlich und werden von Menschen jeden Alters gestellt. Natürlich spitzen sich diese beiden Fragen in einer akuten Situation zu. Doch es gibt dazu nur eine Antwort: Sterben ist einmalig, ganz im Sinne des Wortes. Jeder Mensch stirbt einmal. Darüber hinaus ist jedes Sterben eines Menschen in seiner Art und Weise einmalig. Jedes Sterben ist einzigartig. Manchmal ähnelt sich etwas, im Grunde genommen lässt sich aber keine Art und Weise des Sterbens vorhersagen. Ich habe Menschen erlebt, da dachte ich, sie sterben in Frieden und völliger Gelassenheit, und dann war es ein schweres Sterben voller Kampf und Festhalten. Bei anderen Menschen erwartete ich eher diesen Kampf, und sie starben in Frieden und tiefer Stille.

Diese Erfahrung »Sterben ist einmalig und höchst individuell« gilt ganz unabhängig vom Glauben und vom Vertrauen zu Gott; sie gilt unabhängig von einer langen Meditationspraxis, und erst recht ist sie unabhängig von jedem Alter.

Dabei ist es wichtig, das eigentliche Sterben von den Sterbemöglichkeiten, die es im Leben immer wieder geben kann, zu unterscheiden. So können schwere Verletzungen durch Unfälle, Krankheiten wie Herzinfarkte, schwere Lungenentzündungen, Folgen von Thrombosen und Ähnliches mehr an den Rand des Todes führen. Dank der Fortschritte in der Medizin, aber auch aufgrund der inneren Kraft des vom Tode Bedrohten kann sich dies aber auch noch einmal wenden und der Mensch ins Leben zurückfinden.

So haben wir es erfahren, als meine Mutter nach einem Unfall im Sterben lag ( Seite 46 ff.). Als wir bei ihr im Krankenhaus waren, rüttelte eine der Enkelinnen ganz erschüttert und heftig an ihrem Bett und rief: »Du darfst noch nicht sterben, du musst doch bei meinem Fest dabei sein.« Die Botschaft erreichte sie. Sie war mit einem Schlag hellwach und schaute ihre Familie an. Gegen alle Wahrscheinlichkeit gesundete sie. Von dieser Frau gibt es noch einen zweiten Bericht. Ein halbes Jahr bevor sie in aller Stille und in tiefem Frieden wirklich starb, drohte sie zu ersticken. Sie wurde ins Krankenhaus eingeliefert, und der leitende Chefarzt sagte auf Lateinisch etwas über ihren Zustand.

Vielleicht gebrauchte er das Wort »prämortal«. Die alte Frau konnte Latein, hörte dieses Wort und verstand es anscheinend. Sie zuckte zusammen und machte die Augen auf. Sie erholte sich, stand später wieder auf und lebte noch ein halbes Jahr.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass nicht jeder Sterbeprozess zum Tod führt. Menschen können Sterbeerfahrungen machen und dabei nicht sterben. Manche von ihnen haben in eindrucksvollen Berichten ihre Nahtod-Erfahrungen geschildert (Moody). Sie wussten danach etwas über den Sterbeprozess und konnten es mitteilen, aber über ihr letztes Sterben und den Tod sagte es nichts aus. Sterben ist und bleibt einmalig.

Wann beginnt das Sterben?

Eine weitere Frage, die immer wieder gestellt wird, lautet: »Wann beginnt das Sterben?« Meist ist damit auch eine Altersfrage verbunden: »In welchem Alter beginnt das Sterben?« Manchmal ist auch gemeint: »Kann man erkennen, wann bei einem Menschen der eigentliche Sterbeprozess einsetzt?« Dieser Frage gehen wir weiter unten nach.

Oft steht hinter der Frage: »Wann beginnt das Sterben?«, die Hoffnung, dass man das Leben von dem Sterben abgrenzen kann. Dahinter steht die Erfahrung, dass viele Menschen sich ab Mitte 50 und ab Anfang 60 mit dem Älterwerden beschäftigen. Wer akzeptiert, dass er älter geworden ist, wird sich meist auch mit dem Tod auseinandersetzen oder, als gegenteilige Möglichkeit, versuchen, ihn aus dem Leben herauszuhalten. Dann begegnen uns ältere Menschen, die in Kleidung und Styling nicht älter werden wollen. Die alte Spruch: »Von hinten Lyzeum (Schule), von vorne Museum«, trifft in vielen Fällen zu. Der Mensch will nicht älter werden, um nicht zu sterben.

Dabei beginnt das Sterben eigentlich schon vor der Geburt ( Seite 28 ff.). Mit dem Geborenwerden gehen wir stetig auf den Tod zu. Das gilt für uns alle und ganz allgemein. Aber auch konkret kann uns der Tod jederzeit treffen. Viele Menschen haben Angst, nicht alt zu werden, etwas vom Leben zu verpassen. Dabei kann die Angst so lähmen, dass sie das Leben heute wirklich verpassen. Wer sich bewusst ist, dass allein durch unsere Umwelt, durch die Teilnahme am Straßenverkehr oder durch andere äußere und innere Faktoren der Tod jederzeit möglich ist, lernt den Tag schätzen. Die Zahl der Tage oder Jahre sagt nichts aus über unsere Lebensqualität.

Dag Hammarskjöld sagt in seinem Tagebuch: »Noch einige Jahre, und dann? Das Leben hat nur Wert durch seinen Inhalt – für andere. Mein Leben ohne Wert für andere ist schlimmer als der Tod.«

Trotzdem trifft es uns immer wieder besonders, wenn ein Mensch vor der Zeit gehen muss, vor allem wenn es noch ein Kind ist. Doch auch hier liegt der Wert des Lebens nicht in den gelebten Jahren. Natürlich muss ein Kind nicht wissen, dass es sterben kann. Es drängt nach außen und will die Welt erkunden, sich seinen Platz suchen, sich entwickeln und sich die Zukunft vorstellen. Dies ist die eine Seite. Auf der anderen Seite aber sind Kinder schrecklich realistisch. Meine Erfahrungen mit todkranken Kindern zeigen, dass die Kinder – egal wie die Eltern sich verhielten – von ihrem nahen Tod wussten.

Eine Geschichte beschreibt dies:

Einmal noch will ich den Sonnenaufgang fangen

Werner war zehn Jahre alt. Er hatte Krebs. Schon ein paar Mal war er für mehrere Wochen in der Klinik gewesen. Er bekam Spritzen, ihm fielen die Haare aus, er hatte Schmerzen, Angst und Hoffnung. Er fühlte sich allein, auch wenn er von seinen Eltern Besuch hatte.

Er hörte den Ärzten zu, wenn sie ihm erzählten, was sie tun wollten. Er tat nichts, was er nicht tun sollte. Schon lang spielte er nicht mehr Fußball, dabei war er vor einem halben Jahr noch der beste Stürmer seiner Mannschaft gewesen. Er wollte gesund werden und fühlte sich immer schwächer. Seine Ärztin tröstete ihn: »Halte durch, wir können es schaffen!« Aus seiner Klasse kamen ihn hin und wieder Kinder besuchen. Manche Kinder durften auch nicht kommen, sie sollten das Elend nicht sehen. »Ich bin kein Elend«, dachte Werner dann, manchmal wurde er richtig wütend. Seit gestern war er wieder in der Klinik. »Die Werte waren nicht gut«, hatten sie gesagt.

Er wollte raus hier, nur ein bisschen spazieren gehen. Leise verließ er das Krankenhaus, er kannte sich aus. Er hatte sein ganzes Geld dabei. Niemand achtete am Hinterausgang des Kinderkrankenhauses auf den Jungen. Still und leise verschwand er. Er lief die Straße entlang und stieg in den Bus, der gerade ankam. Werner sah alles an sich vorbeiziehen . . . So sah er den Bahnhof und stieg aus.

Jetzt wusste er, was er wirklich wollte: Er wollte das Meer sehen, den Sonnenuntergang am Meer. Zu Opa wollte er reisen und allein ans Meer gehen. Es war toll dort. Langsam ging abends rot die Sonne unter, bis sie am nächsten Morgen wieder aufging. Noch nie war er so lang wach geblieben, er wollte jetzt die ganze dunkle Nacht wachen und dem Mond zusehen.

Am Schalter holte er eine Viertel-Kinderkarte, wer noch zwei Schwestern hat, reist billiger. Sein Geld reichte. »Einmal Grömitz – erst Zug – dann Bus«, hatte er gesagt.

Der Beamte lächelte: »Du weißt ja Bescheid. Fährst du ganz allein?« Werner zögerte nicht: »Nein! Ich wollte nur die Karte selbst kaufen.« Und leise sagte er: »Können Sie mir den Bahnsteig und den nächsten durchgehenden Zug sagen, dann weiß ich genauso viel wie die anderen?«

Wie zwei Verschwörer tauschten sich die beiden aus. Werner ergatterte einen Fensterplatz und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen. Es reichte gerade noch für den letzten Bus nach Grömitz.

Die Fahrerin weckte den Jungen an der letzten Station: »Sag mal, wer holt dich denn ab?«

Werner erschrak und stotterte: »Mein Opa – Telefon 7890.« Die Fahrerin benachrichtigte die Zentrale per Funk. Sie nahm den Jungen – so groß er schon war – in den Arm und wartete. Opa kam allein. Das war gut. Opa war schon alt, bald 70 Jahre, aber er war stark wie ein Bär.

Werner sah klein aus in seinen Armen, und die Arme waren fest und sicher. »Junge, was machst du denn allein hier?«, hörte Werner jemand sagen. Die Stimme war leise und brüchig. Werner staunte und sah Großvater an: »Ich wollte den Sonnenuntergang an deinem Meer sehen – einmal noch – auf unserem Platz. Und den Sonnenaufgang will ich fangen – ganz allein.«

Opa schaute Werner in die Augen, und Werner sah in Opas Augen Tränen. Werner drückte sich fest an ihn: »Du musst nicht um mich weinen, ich lebe noch ewig.«

Opa atmete tief aus.

Werner sah den feinen Atemhauch weiß in der Abendluft unter der Laterne. Und der Atemhauch löste sich auf. »So wie dem Atem geht es mir auch mal, Opa. Ich werde immer weniger. Aber das ist nicht schlimm. Ich habe keine Angst.«

 

Opa schluckte und sah Werner wieder ins Gesicht: »Ich bin über jeden Tag froh, den du lebst.«

»Na klar, Opa – und morgen fange ich die Sonne. Sei nicht traurig – der Tod ist mein bester Freund. Manchmal spricht er abends mit mir. Aber verrate es nicht Mama, Papa, Oma, Kristin und Birgit. Das ist mein Geheimnis.«

Sterben geschieht mitten im Leben. Sterben ist altersunabhängig und jederzeit möglich. Dies vergessen wir verständlicherweise gern, weil wir leben möchten. Aber es gilt die alte Weisheit: Das einzig Selbstverständliche ist der Tod.

Der römische Brunnen

Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt

er voll der Marmorschale Rund,

die, sich verschleiernd, überfließt

in einer zweiten Schale Grund;

die zweite gibt, sie wird zu reich,

der dritten wallend ihre Flut,

und jede nimmt und gibt zugleich

und strömt und ruht.

Conrad Ferdinand Meyer


Medizinisch das Sterben begleiten
Medizinische Erkenntnisse der letzten Jahre zum Sterben

In den letzten Jahren haben sich neue und alte Erkenntnisse der Medizin zum Sterben langsam, aber sicher durchgesetzt. Vor über 20 Jahren, in meiner Zeit als Gemeindepfarrer, begegneten mir in den Gesprächen mit Krankenschwestern, Krankenpflegern und Ärzten oft noch Hinweise auf medizinische Notwendigkeiten, die heute als überholt oder gar falsch gelten.

Ein Arzt und Psychotherapeut verdeutlicht einige dieser neueren Erkenntnisse aus eigener Erfahrung:

Das medizinische Wissen heute

Raimund Hillebrand

Im Jahr 2012 starben innerhalb weniger Monate meine beiden Eltern. Mein Vater starb mit 81 Jahren an den Folgen einer rasch voranschreitenden Demenz. Meine Mutter war 73 Jahre alt, als sie kurz nach meinem Vater an einer Krebserkrankung verstarb, gegen die sie über mehrere Jahre angekämpft hatte.

Im Folgenden will ich versuchen, einige Erfahrungen aus dieser Zeit und das, was an medizinischem Wissen derzeit verfügbar ist, in einem kurzen Überblick zusammenzuführen. Dies ermöglicht das Verständnis für den körperlichen Prozess des Sterbens und kann dabei helfen, sich mit den Erfahrungen und den Entscheidungen, die in einer solchen Situation entstehen, auf andere Weise auseinanderzusetzen.

Es handelt sich jedoch nur um eine kurze Darstellung. Wer sich mit den medizinischen Aspekten ausführlicher befassen möchte, dem seien die Bücher von Gian Domenico Borasio oder Michael de Ridder empfohlen.

Am Anfang des Sterbens

Wann fängt das eigentliche Sterben an? In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde im Zusammenhang mit der Diskussion der gesetzlichen Regelungen der Abtreibung ausführlich darüber debattiert, wann das Leben beginnt. Mit der Geburt? Mit der Befruchtung der Eizelle? Mit der Einnistung der Eizelle in die Gebärmutter? Damals wurde schließlich mit der Fristenlösung ein Kompromiss gefunden, der dennoch nach wie vor Anlass zu Diskussionen gibt. Auch die Frage, wann ein Mensch als tot angesehen werden kann, gab und gibt Anlass zu Auseinandersetzungen sowohl im Rahmen der Transplantationsgesetzgebung als auch bei der Frage nach dem Umgang mit Menschen, die aufgrund schwerer Erkrankungen keine erkennbaren Lebensäußerungen mehr zeigen.

Aber wann beginnt das Sterben? Wann setzt der Prozess ein, an dessen Ende der Mensch für uns nicht mehr erreichbar ist, weil alle Vorgänge im Körper des Menschen zum Stillstand gekommen sind?

Als mein Vater Ende 2011 immer deutlichere Zeichen von Vergesslichkeit, Verwirrtheit und Unruhe zeigte und es schließlich zu einem Zustand kam, der zu Hause nicht mehr zu bewältigen war, blieb uns zunächst nichts anderes übrig, als ihn in einer geronto-psychiatrischen Klinik unterzubringen, auch in der Hoffnung, dass sein Zustand sich dort positiv beeinflussen ließe. Die folgenden Wochen waren geprägt von zum Teil hektischen Planungen. Zuerst dachten wir, die Versorgung des Vaters mithilfe eines Pflegedienstes zu Hause im gewohnten Umfeld leisten zu können. Wir nahmen Kontakt zu Krankenkassen und Pflegediensten auf. Dann, als der Zustand sich eher verschlechterte als verbesserte, die Einsicht in die Notwendigkeit der Unterbringung in einem Heim. Neue Kontakte wurden hergestellt, Heime angesehen: Welches ist geeignet, welches scheint uns weniger gut geeignet. Doch kaum schien hier eine Lösung in Sicht, kam es zu einer erneuten Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Mein Vater wollte nicht mehr essen, nahm allenfalls noch kleinste Mengen zu sich. Neue Überlegungen waren nötig: Soll der Vater eine Magensonde bekommen, künstlich ernährt werden. Lässt sich so sein Leben retten? Wir hatten uns, genau wie unsere Eltern, mit diesen Fragen nicht beschäftigt, keine Vorsorge getroffen. Schnell stand die Aussage im Raum: »Wir können ihn doch nicht verhungern lassen!«

Nach vielen Diskussionen, in denen wir Geschwister uns noch einmal sehr nahe kamen, konnten wir uns schließlich dazu durchringen, die Nahrungsverweigerung unseres Vaters, auch wenn er dement zu sein schien, als seine Willensäußerung anzusehen und zu respektieren. Ab diesem Zeitpunkt war uns allerdings klar, dass jetzt das Leben unseres Vaters zu Ende gehen würde.

Im Gegensatz dazu konnte meine Mutter wenige Monate später, nachdem alle Chemotherapien den Krebs in ihrem Körper nicht mehr aufhalten konnten, sehr bewusst sagen: »Ich kann nicht mehr, und ich will nicht mehr.« Das Sterben begann mit der Entscheidung, nicht mehr gegen die Krankheit ankämpfen zu wollen, sondern sie in ihrer Unvermeidlichkeit anzunehmen.

Wir wissen heute aus der medizinischen Forschung, dass der Tod uns schon vom frühesten Beginn unseres Lebens an begleitet, als ein heimliches, stilles Phänomen, das wir mit unserem Bewusstsein nicht wahrnehmen können. Schon bald nachdem unser Köper anfängt, sich aus der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zu entwickeln, sterben das erste Mal Zellen in diesem sich bildenden Körper ab. Dieser kleine Tod in uns ist zunächst ein wichtiger Prozess, um das Leben überhaupt möglich zu machen. Die Zellen, die absterben, machen Platz für andere, und so formt sich der Köper mit seinen Organen, die in einem komplexen Zusammenspiel ineinandergreifen. Ohne ein Gleichgewicht von Zellwachstum und Zelltod wäre das Leben kaum denkbar.

Das Gleichgewicht von Wachstum und Zugrundegehen der Zellen ist in einem ständigen Fluss. So ist es dem Körper auch möglich, sich an Umweltbedingungen anzupassen und auf Krankheiten zu reagieren. Gleichzeitig ist aber auch ein Verlauf zu beobachten, der – vereinfacht gesagt – darauf hinausläuft, dass in der Anfangsphase des Lebens, dem Wachstum, das Gleichgewicht verschoben ist zugunsten des Aufbaus und der Differenzierung des Körpers, während später der Abbau von Zellen schneller vonstattengeht als deren Bildung. Ab einem Zeitpunkt, den wir heute noch nicht exakt definieren können, nimmt der Zelltod in einem oder mehreren Organen schließlich so überhand, dass diese ihre Funktion nicht mehr ausreichend wahrnehmen können, ohne dass dafür eine Erkrankung vorliegen muss, die diesen Abbau erklären würde. Insbesondere, wenn lebenswichtige Organe wie Herz, Leber, Niere oder das Gehirn betroffen sind, tritt schließlich ein Zustand ein, in dem das Zusammenspiel aller Körperfunktionen nicht mehr möglich ist und an dessen Ende der Stillstand aller Funktionen steht. Schwerwiegende Erkrankungen wie Infektionen oder Störungen der Blutzirkulation können diesen natürlichen Prozess zu jeder Zeit des Lebens beschleunigen.

Der Prozess des Sterbens

Zu wissen, dass das Leben zu Ende geht, dass das Sterben beginnt, ist traurig und erleichternd zugleich, und nicht immer ist einem diese Gewissheit gegeben. Ein Jahr bevor meine Mutter starb, war als Reaktion auf eine neue Chemotherapie ein Zustand erreicht, in dem meine Mutter nur noch völlig entkräftet im Bett liegen konnte und auf Pflege angewiesen war. Wir wussten nicht, woran wir waren. Würde sie diese Schwäche, diese völlige Teilnahmslosigkeit, die wie eine Agonie wirkte, überstehen, oder lief es auf das Ende hinaus? Nach drei Wochen Bettlägerigkeit erholte sich meine Mutter wieder, sodass sie sogar einige Monate später noch einmal einen Urlaub an ihrem Lieblingsort antreten und genießen konnte. Sowohl meine Mutter als auch wir, die wir mit dem Schlimmsten gerechnet hatten, brauchten einige Zeit, um zu begreifen, dass sie noch einmal mit dem Leben davongekommen war.

Dieses Beispiel zeigt auch, dass es nicht möglich ist, den Prozess, der sich gerade vollzieht, vorherzusehen. Kein Arzt kann sagen, wann ein Verlauf nicht mehr umkehrbar ist. Ein erfahrener Arzt wird sich nicht festlegen, wenn er gefragt wird: »Wie lang dauert es noch?« Es gibt kaum verlässliche Anhaltspunkte dafür, was der Körper eines Menschen alles aushält. Laborwerte, die mit dem Leben kaum vereinbar erscheinen, Wochen ohne Nahrung, Metastasen in den lebenswichtigen Organen sagen vielleicht aus, dass ein Mensch sterben wird, aber es ist nicht möglich, vorherzusagen, wann das sein wird.

Menschen, die dem Tod nahe sind, haben heute die Möglichkeit, auf eine Weise medizinisch versorgt zu werden, die dem Prozess des Sterbens einen Teil seines Schreckens und seiner Belastungen nehmen kann.

Insbesondere die medikamentöse Behandlung von Schmerzen ist in einer so differenzierten und individuellen Weise möglich, dass niemand mehr Qualen aushalten muss. Von den einfachen Schmerzmedikamenten, die jeder aus der Behandlung von Kopfschmerzen kennt, bis hin zu hoch wirksamen Opiaten können Ärzte aus einer großen Zahl an Wirkstoffen auswählen. Das 3-Stufen-Schema der WHO bietet dabei eine Orientierung, nach der vorgegangen werden sollte. Wirkstoff und Dosis der Medikation werden nach einer festgelegten Vorgehensweise gesteigert, mit dem Ziel, am Ende Schmerzfreiheit zu erreichen. Dabei können Medikamente aus anderen Wirkbereichen – wie Antidepressiva, Anxiolytika (angstlösende Medikamente) oder Cortisonpräparate – zusätzliche Unterstützung geben, je nachdem, wie sich der Zustand eines Sterbenden entwickelt.

Zu den Symptomen, die über die Schmerzen hinaus den Zustand des Sterbenden erschweren und zu unnötigem Leiden führen, gehören Atemnot, Angst und andere neuropsychiatrische Symptome wie Verwirrtheit und Unruhe. Auch hier können Medikamente, wenn sie überlegt eingesetzt werden, Linderung verschaffen, ohne dass der Betroffene zu sehr in seiner Wachheit beeinträchtigt würde. Erfahrene Palliativmediziner und Pflegedienste sind in der Lage, eine Behandlung im Sinne des Patienten zu gewährleisten. Es ist wichtig, sich dort Hilfe zu holen, da es weder für den Sterbenden noch die Angehörigen gut ist, wenn diese sich im Glauben, alles selbst bewältigen zu können, zu viel zumuten.

Von denen, die den Sterbenden begleiten, seien es die Angehörigen, die Pflegenden oder die Ärzte, erfordert es ein hohes Maß an Feinfühligkeit, um den Zustand des Menschen am Ende seines Lebens so aufmerksam wie möglich erfassen zu können. Wahrnehmen, was ist: die Mimik und Gestik, die Atmung, die Körpersprache erfassen und beschreiben können, ohne daraus schon Interpretationen abzuleiten. Aus der Beschreibung kann sich dann in der Kommunikation unter den Berufsgruppen und den Angehörigen die Schlussfolgerung entwickeln, an deren Ende die Behandlung steht. Die Menschen im Umkreis des Sterbenden sind herausgefordert, sich miteinander – und wenn es möglich ist – mit dem Sterbenden auszutauschen. Das ist schwieriger, als es sich hier liest. Die Betroffenheit der Angehörigen, der Arbeitsdruck unter dem die Pflegenden und die Ärzte stehen, erschweren die Kommunikation oft. Die Herausforderung liegt darin, für einen Augenblick das Eigene zurückstellen zu können: Die Angst oder auch die Wut, die man als Angehöriger empfindet, die Überforderung und Belastung auf der Seite der professionellen Helfer.

 

Selbst wenn die Kommunikation gelingt, bleiben viele Entscheidungen, die getroffen werden müssen, schwierig. Dazu gehören vor allem die, die sich mit den Möglichkeiten lebensverlängernder Maßnahmen befassen. Sehr häufig geht es dabei um die Frage nach der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Die Begriffe Verhungern und Verdursten stehen dann schnell im Raum und damit die eigenen Vorstellungen, die man als Gesunder davon hat, wie es ist, wenn man nicht genug zu essen und zu trinken bekommt. Die Maßstäbe eines gesunden Menschen lassen sich allerdings nicht einfach auf einen Sterbenden übertragen. Der Stoffwechsel eines Menschen am Ende seines Lebens ist ganz anders ausgerichtet, als von einem, der noch in allen Lebensprozessen steht. Man spricht beim Sterbenden von einer katabolen Stoffwechsellage, d. h., dass der Stoffwechsel sich auf einen Abbau der eigenen Körpersubstanz eingerichtet hat und damit grundsätzlich anders funktioniert als der anabole, aufbauende Stoffwechsel eines Gesunden. Einem Sterbenden Nahrung und Flüssigkeit zuzuführen wie einem Menschen in der Mitte seines Lebens, belastet ihn und wird subjektiv als unangenehm erlebt. Der Körper kann in diesem Zustand mit den normalen Mengen nichts mehr anfangen. Daher ist auch die Nahrungs und Flüssigkeitszufuhr durch eine Magensonde nicht angemessen.

In den letzten Wochen, als mein Vater zu Hause war und es für uns Außenstehende klar war, dass er sterben würde, kam es immer wieder vor, dass er sagte: «Jetzt hätte ich gern eine schöne Flasche Bier.« Wenn dann einer von uns das Bier geholt und ihm ein Glas eingeschenkt hatte, trank er vorsichtig ein oder zwei Schlucke. Dann seufzte er verzückt und stöhnte vor Vergnügen: »Das war gut!«, und dann war es gut. Mehr wollte er nicht, nur diesen Schluck, diesen Geschmack. Durch nichts hätten wir ihn dazu gebracht, mehr zu trinken. Es ging nicht mehr um die Menge, es ging um das Erlebnis, das er noch einmal haben wollte.

Insbesondere wenn die Flüssigkeitszufuhr nicht mehr möglich ist, weil der Sterbende zu schwach zum Schlucken ist, sollte man nicht versuchen, ihn zum Trinken zu animieren. Die Gefahr des Verschluckens und damit des Eindringens von Flüssigkeit in die Lunge ist zu groß. Dennoch ist es unbedingt wichtig, durch eine konsequente Mundpflege dafür zu sorgen, dass die Schleimhäute feucht sind und sich keine Beläge bilden. Das Auswischen des Mundes mit Wasser oder Tee oder auch mit Eis, das man selbst im Gefrierfach aus Wasser in einem schmalen Glas an einem Holzstiel herstellen kann, erleichtert den Zustand sehr, weil dadurch kein Durstgefühl entstehen kann.

Ebenso bedeutend ist die Lagerung, die dafür sorgen sollte, dass der Betroffene sich wohlfühlt und dass keine Druckstellen entstehen. Wechseldruckmatratzen und verstellbare Pflegebetten erleichtern es, öfter die Position zu ändern. Nicht jedes Mal muss aber die Lage vollständig verändert werden. So wie wir manchmal nur ein wenig unsere Position auf einem Stuhl verändern, um wieder bequem zu sitzen, reicht es oft aus, Beine, Arme oder Kopf nur ein paar Zentimeter zu bewegen und durch diese kleine Veränderung dem Kranken wieder eine positivere Wahrnehmung zu ermöglichen.

Medizinische Hintergrundinformationen

Den folgenden Hinweisen liegen die beiden bereits erwähnten Bücher von Michael de Ridder: »Wie wir sterben wollen« und Gian Domenico Borasio: »Über das Sterben« zu Grunde, in denen die jeweiligen Themen aktuell und ausführlich dargestellt werden. Die Seitenangaben beziehen sich auf die jeweiligen Kapitel, in denen das Thema ausführlich behandelt wird.

Sterben als natürlicher Prozess betrifft den ganzen Menschen mit Leib, Seele und Geist. Jede medizinische Intervention muss den ganzen Menschen und sein Wohl im Blick haben.

Der Wille des Patienten steht über dem medizinisch Machbaren: Nach dem Patientenverfügungsgesetz vom 1. September 2009 ist die Autonomie des Patienten und seine Entscheidungen hinsichtlich seiner medizinischen Behandlung bindend, selbst wenn er sich damit schadet ( de Ridder, Seite 181).

Der Wille des Patienten kann in einer Patientenverfügung verbindlich festgelegt werden, aber auch mündlich neu formuliert werden oder aus der vertrauenswürdigen Wiedergabe des Willens des Patienten bestehen, wie er sich zu Zeiten, als er bei vollem Bewusstsein war, darüber geäußert hat ( de Ridder, Seite 201–205; Borasio, Seite 140 ff.; hier im Buch, Seite 37 ff., 145 ff.).

An dieser Willensäußerung muss sich jede Begleitung, auch die der Angehörigen und ehrenamtlichen Begleiter, orientieren.

Der Übergang von der kurativen zur palliativen Behandlung

Ethische Begleitung zum Wohle des Patienten muss erkennen, wann eine auf Heilung angelegte (kurative) Behandlung und/oder lebensverlängernde Maßnahmen dem Patienten nicht mehr dienen. Im Gegensatz zu dem immer noch häufig zu hörenden Satz: »Leider können wir nichts mehr für sie tun«, ist die Medizin auch dann noch gefragt, wenn keine Aussicht auf Heilung mehr besteht.

Die Palliativmedizin ( Borasio, Seite 51 ff. und Seite 176 ff.; zur aktuellen Situation de Ridder, Seite 232 ff.) hat zusammen mit der Hospizbewegung erst seit den 70er-/80er-Jahren des letzten Jahrhunderts ihre Aufgabe darin gefunden, Sterben als natürlichen Lebensabschnitt anzusehen, dessen Probleme so weit wie möglich auch medizinisch zu begleiten und zu lindern sind. Der Arzt, der den bevorstehenden Tod akzeptiert, kann mit medizinischen Mitteln ein schmerzfreies, angstfreies und so lange wie möglich bewusstes Leben und Sterben ermöglichen ( Borasio, Seite 67 ff.; de Ridder, Seite 97 ff.). Dazu gehört auch der sinnvolle und gut dosierte Einsatz von Morphinen, vor allem bei Schmerzen und Atemnot ( Borasio, Seite 132 ff.; de Ridder, Seite 232). Studien belegen, dass eine individuell angepasste Dosierung auch von stärksten Schmerzmitteln nicht Leben verkürzend, sondern eher Leben verlängernd wirkt ( Borasio, Seite 163 f.).

Homöopathische Heilmittel und andere Hilfen aus der Alternativmedizin können helfen, den Sterbeprozess zu begleiten und z. B. den Einsatz von Morphinen und Psychopharmaka herauszuschieben und zu mindern ( Gisela Holle; Dr. Annette Prollius; Gudrun Huber/ Christina Casagrande).

Die allgemeine palliative medizinische Begleitung kann stationär auf Palliativstationen oder im Hospiz oder auch durch ein entsprechend weitergebildetes Netzwerk (Hausarzt, Facharzt, Pflegeeinrichtung, psychologische und seelsorgerliche Betreuung u. Ä.) ambulant geschehen. »Die allermeisten Sterbevorgänge (die Schätzungen gehen bis zu 90 %) könnten mit Begleitung von geschulten Hausärzten und gegebenenfalls Hospizhelfern problemlos zu Hause stattfinden« ( Borasio, Seite 25).

Seit 2007 besteht bei den Krankenkassen ein Recht auf eine spezialisierte, ambulante Palliativversorgung (SAPV, de Ridder, Seite 232), allerdings nur für die Patienten, die »hinsichtlich ihrer Krankheitsschwere und des Betreuungsaufwandes« einen besonderen Betreuungsbedarf haben ( Borasio, Seite 42 ff. und Seite 199, Anmerkung 3.3).

Ein allmählicher Verzicht auf feste Nahrung und ein Nachlassen des Durstgefühls gehören ebenso wie das zeitweise Wegdämmern und zunehmende Schwäche zum natürlichen Sterbeprozes. Der Satz: »Man kann doch niemand verhungern und verdursten lassen«, gilt nicht für Sterbende. Ein Sterbender, der die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeiten immer mehr einschränkt, erleichtert intuitiv oder bewusst seinen Sterbeprozess.

Umgekehrt erschwert eine dauerhafte Zufuhr von Nahrung über eine Sonde (PEG) das Sterben und führt zu erschwerenden Nebenwirkungen, ohne die Lebenszeit zu verlängern ( Borasio, Seite 107 ff.; de Ridder, Seite 61 ff.).

Die wichtigste Nahrung am Lebensende ist menschliche Nähe und Fürsorge, was der Mensch dann noch braucht, sollte ihm auf natürlichem Weg gegeben werden, da so zusätzlich sein Bedürfnis nach Begleitung, sozialem Kontakt und Zuwendung erfüllt wird.

Wann ist ein Mensch tot? »Der Eintritt des Todes ist kein Moment, sondern ein Prozess« ( de Ridder, Seite 47 ff.). Der Tod kann durch das Versagen unterschiedlichster Organe oder einer Kombination daraus eintreten ( Borasio, Seite 15 ff.), was im Alter ein natürlicher Vorgang ist, der keiner vorangehenden Krankheit bedarf.

Die Medizin kennt verschiedene Anzeichen, die den Tod eines Menschen bestätigen: den Herz-Kreislauf-Tod, den Atemstillstand, den Hirntod, die Leichenstarre, die Totenflecke. Aufgrund der in den letzten Jahren enorm gewachsenen medizinisch-technischen Möglichkeiten sind Herz- und Atemstillstand dann nicht mehr aussagekräftig, wenn der Körper mittels Maschinen »am Leben gehalten« wird. Dann gilt der vollständige Ausfall jeglicher Hirntätigkeit (Hirntod) ( Borasio, Seite 20 ff.; de Ridder, Seite 48 ff.) als Zeichen des eingetretenen Todes. Dies ist wichtig als Voraussetzung zur Organentnahme bei Organspenden. So weit die momentane wissenschaftlich anerkannte Definition. Manche Ansichten sehen im Hirntod noch nicht den endgültigen Abschluss des Sterbeprozesses. Erst wenn der Körper erkaltet ist, die Leichenstarre eingetreten oder Totenflecke sichtbar sind, ist für sie die Trennung von Körper und Seele vollzogen.