Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen

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„Nun barme nur nicht gar so“, sucht Paul den Bruder zu besänftigen, „es genügt, wenn du dich nur auf dein Tun konzentrierst und die Gedanken nicht abschweifen lässt. So könntest du dir manchen Ärger ersparen.“

Eben wollen sich die Brüder erheben, um ins Haus zu gehen, da naht von der Stadtbefestigung her der krumme Schatten eines vom Alter gebeugten Weibes. In der Gassenmitte schlurft müden Schrittes die Mutter Mechthild heran. Verwundert blicken ihr die Jungen entgegen. „Gott zum Gruße!“, lässt sich Ruprecht hören. „Wenn du zu unserer Mutter willst, dann ist das der denkbar ungünstigste Augenblick. Sie sitzt drüben mit der Roselerin zusammen und wird so schnell nicht wieder hier sein. Der Vater aber sitzt beim ‚Ritter Georg‘ und hält sich die Kehle geschmeidig.“

Die Alte winkt müde ab. „Den Vater suche ich nicht und die Mutter interessiert mich nicht zuvorderst. Deinetwegen bin ich hierhergezogen, so du der Ruprecht bist. Ich erkenne dich kaum wieder, denn ein paar Jahre sind seit unserem letzten Zusammentreffen ins Land gegangen. Nun, da du hier vor der Tür sitzt, kann ich annehmen, dass es dir besser geht, oder?“

Ruprecht stimmt ihr zu: „Tanzen kann ich zwar noch nicht wieder, jedoch, wenn ich schön langsam mache, schaffe ich es auch bis vor die Tür.“

„Schön vorausgesetzt, dass ich dich stütze!“, wirft Paul ein. „Aber immerhin, ohne deine Kräuter wäre er schließlich nicht von seinem Lager hochgekommen.“

Ein zaghaftes Lächeln lässt Mutter Mechthilds Gesicht leuchten. „Versuchst du etwa, mich zu bezirzen, Paulchen? Halte dich lieber an die Jungfern in der Gasse. Aber wenn du etwas Gutes für mich tun willst, einen Becher Wein würde ich gewiss nicht ablehnen.“

Paul lacht ihr offen ins Gesicht. „Bezirzen wollte ich dich nicht, Mutter Mechthild, nur ehrlich wollte ich sein. Es wird dich gewiss freuen, dass deine Kräuter helfen? Komm in die Stube herein. Hier draußen wird es zu kühl, um den Wein zu genießen.“ Übertrieben eifrig reißt er die Tür auf und gewährt ihr den Vortritt, bevor er, den Bruder stützend, ins Haus folgt.

Sowie das Kräuterweib die Schwelle überschreitet, strafft sich Mechthilds Figur. Als werfe sie die Last arbeitsreicher Jahre von sich, streckt sie sich und ist auf einmal fast so groß wie die beiden jungen Männer. Die Runzeln verlieren ihre scharfen Konturen und es steht da ein Weib unbestimmten, aber gewiss nicht hohen Alters.

Überrascht blicken die Brüder auf Mechthilde. „Also, ich hätte schwören mögen, dass du eben noch viel älter warst“, bemerkt Ruprecht, worauf das Weib freundlich nickt. „So soll es auch sein. Als Kräuterweib muss man alt sein, sonst zweifeln die Leute an der Wirksamkeit der Mittelchen. Außerdem fallen dann die Vorwürfe der Pfaffen nicht gar so hart aus.“

„Darauf würde ich mich nicht verlassen“, widerspricht Ruprecht, „man hat es immer eiliger, Leute als Ketzer zu verurteilen und dem Feuer zu überantworten, wobei es sich gut von einer alten Hexe spricht. Es scheint manchmal sicherer, die Gaben zu verbergen, Mutter Mechthild.“

Die Alte blickt scharfen Auges in das Gesicht des jungen Mannes. „Es ist gut, dass du dir Sorgen um mich machst, Ruprecht, aber wir haben schon ganz andere Sachen miteinander erlebt. Erinnerst du dich nicht, Rudolf?“

Missmutig schüttelt Ruprecht den Kopf. „Ruprecht werde ich genannt, Mutter Mechthild. Und an gemeinsame Erlebnisse von größerer Bedeutung vermag ich mich auch nicht zu erinnern. Da muss ich sehr klein gewesen sein.“

„Wie es auch gewesen sein mag, Ruprecht hat sicher recht mit seiner Warnung. Mit der heiligen Inquisition ist nicht zu spaßen. Vor Kurzem erst haben wieder Scheiterhaufen zu Zwickau und zu Freiberg gebrannt“, mischt sich Paul ins Gespräch und drängt den Bruder wie auch die Alte auf die Bank am Herd, jedem einen Becher mit Wein übergebend.

„Ihr möget recht haben mit eurer Sorge“, stimmt Mechthild zu. „Aber es sind zu viele, die von meiner Kunst des Heilens wissen. Wie sollte ich diese auch verbergen, solange ich zu den Kranken gerufen werde? Heilerin ist man, um zu heilen. Und so lange mich der Herr Pfarrer selbst zu den Kranken holt, sollte ich sicher sein, oder?“

„Trotzdem musst du schlau und vorsichtig sein“, drängt Ruprecht. „Du solltest deine Hütte wie einen Fuchsbau versehen, mit mehreren Ausgängen und immer ein Versteck bereit haben. Wie wäre es mit den Höhlen im Katzberg?“

Die Alte nickt zu seinen Worten sehr verständnisvoll. „Oh ja, die Höhlen haben uns schon sehr geholfen. Du kennst dich darin bestens aus.“

„Nicht besser als Paule und all die anderen Leute der Stadt, soweit sie hier aufgewachsen sind.“

Gern hätte Mutter Mechthild noch ein wenig mit Ruprecht gesprochen. Sie ist sich ganz sicher, dass dieser mit ihr in einem früheren Leben bereits zusammen war. Irgendetwas muss ihm in Erinnerung sein, verborgen unter dem Alltagswissen der Gegenwart und zweifelsohne wird sie diese Erinnerung freilegen können.

Leider zeigen die beiden Brüder recht wenig Interesse an der Fortsetzung des Gesprächs, zumindest in der angedachten Richtung. So nimmt sie sich fest vor, ein andermal die Unterhaltung mit Ruprecht allein zu führen, wenn niemand dabei ist. Die zu erwartende langwierige Heilung der Wunde wird ihr gewiss manche Gelegenheit dazu bieten und dann würde die Anwesenheit Pauls den Gedankenfluss nicht stören.

„Mir scheint, es dauert eine Weile, bis eure Mutter nach Hause findet. Was hat sie so Wichtiges mit der Roselerin zu bereden, dass sie bis in die Nacht wegbleibt?“

Diese Frage mag Ruprecht ein wenig unlieb sein. Errötend schluckend, erwidert er: „Es geht um mich, ich will um die Hand der Martha anhalten. Deswegen sitzt der Vater mit dem Schuhmacher im Wirtshaus und die Mutter leistet der Roselerin in deren Hütte Gesellschaft.“

Die Mutter Mechthild freut sich sichtlich und tätschelt Ruprechts Arm. „Na, das ist eine gute Nachricht. Offensichtlich hältst du dich recht streng an den Zeitplan. Pass nur auf, dass du sie nicht aus Versehen Ariela nennst, sie könnte es dir übelnehmen.“

Ruprecht ist sich nicht so recht im Klaren, ob die Alte nicht wirr redet. Wieso sollte er sich an irgendeinen Zeitplan halten und warum sollte er seine Martha plötzlich Ariela nennen? Grübelnd nickt er dem Kräuterweib zu, als es sich verabschiedet und nimmt dessen Verschwinden in der nächtlichen Gasse gar nicht wahr. Selbst den Bruder und dessen misstrauisches Gesicht ignorierend, erhebt er sich ächzend vom Schemel und begibt sich in schiefer Haltung in seine Ecke, wo er sich stöhnend auf seinem Lager niederlässt. Nur wenige Augenblicke später verrät kaum hörbares Schnarchen, dass sein aufgewühlter Geist im Traumland auf Wanderschaft geht.

Schattenhaft und unsagbar langsam poltert das schwere Gespann zu Tale. Die Zugrinder rutschen wiederkäuend auf den Knien vor dem Wagen her. Der krächzende Gesang der alten Hildburga lässt den Habicht eilig davonfliegen, wohingegen klug dreinblickende Raben die zerfahrene Straße säumen. Am Fuße des Berges biegt sich die endlose Tafel unter einem Festmahl, wie er es nie zuvor gesehen hat. Ein weiß gekleideter Alter führt eine feengleiche Schönheit mit hüftlangem, pechschwarzem Haar heran und nimmt an derer statt die singende Hildburga mit sich. Ariela schmiegt sich an ihn und hat plötzlich Marthas Züge. „Wenn du mir Treue gelobst, dann wird unser Weg ein Weg des Glücks sein“, raunt sie vielversprechend in sein Ohr.

Ein Strohhalm hat sich durch das Laken gebohrt und sticht Ruprecht schmerzhaft in die Wange, wovon er jäh aus dem Schlaf gerissen wird. Von drüben dringt das Schnarchduett der Eltern herüber, die also offensichtlich inzwischen auch nach Hause gefunden haben. Pauls gleichmäßiges Atmen kündet von ruhigem Schlaf. Johanna schmatzt wie gewohnt zu ihren Träumen, einzig von Elisabeth ist nichts zu hören. Lauschend richtet er sich auf, um die Schlafgeräusche der Älteren seiner Schwestern zu orten, da hört er dicht bei seinem Lager das Rascheln von Stoff. „Ruprecht, bist du aufgewacht? Ich bin es, die Lisa!“ Ihre kalte Hand schiebt sich unter seine Decke und legt sich auf seinen Arm. „Bestimmt hast du schlecht geträumt, so wie du gestöhnt hast. Dabei riefst du nach einer Hildburga, einer Ariela und dann nach deiner Martha. Da wollte ich dich wecken, denn eine Braut sollte nicht im Alptraum vorkommen. Außerdem brauchst du Ruhe zur Genesung.“

Ruprecht legt seinen Arm um seine Schwester und zieht einen Teil seiner Decke über den mageren Mädchenkörper, der sich dankbar in den warmen Stoff kuschelt.

„Ich habe zwar komisch geträumt, aber nichts Schlechtes“, flüstert er ihr ins Ohr. „Der Rudolf aus dem Rudolflied war ich und habe die weise Hildburga gegen die junge Ariela eingetauscht, aus der dann meine Martha wurde und dann bin ich aufgewacht.“

In der Dunkelheit der nächtlichen Hütte leuchten sacht die großen Augen Elisabeths. „Vielleicht hat die Mutter Mechthild recht und du bist früher der Rudolf aus der Sage gewesen. Das wäre toll, oder?“

Sie kann Ruprechts Lächeln nicht sehen, doch nimmt sie es an der Klangfarbe seiner Stimme wahr. „Das mag alles sein, aber wir wissen es nicht und werden es wohl auch nie erfahren. Aber jetzt müssen wir schlafen, also ab auf dein Lager!“

Entschlossen zieht er ihr die Decke weg und sie huscht eilig in der Finsternis davon.

So herrlich wie sich der gestrige Tag verabschiedet hat, genauso jungfräulich rein zeigt sich der Himmel des neuen Morgens. Die Nacht brachte kaum Abkühlung und so stellen sich die Bürger der Stadt nur wenig erfrischt und kaum ausgeruht den Erfordernissen von heute. Solche warmen Nächte sind an sich selten vor Sankt Johannis und passen eigentlich eher in den August, aber in diesem Jahr scheint alles ein wenig anders zu sein.

Im Hause des Tischlermeisters Prescher herrscht geschäftiges Treiben. Um den Tag zu verschönen und die Trägheit aus den Gliedern der Familienmitglieder zu vertreiben, hat die Hausfrau beschlossen, dass das Frühstück heute im Garten eingenommen wird. Die allgemeine Zustimmung drückt sich nun in der gemeinschaftlichen Vorbereitung aus. Schnell haben der Vater und Paul mit breiten Bohlen auf zwei Holzböcken die Tafel gerichtet. Während die Mutter das weiße Leinen auf dem Tisch glatt streicht, tragen die Töchter bereits die Teller, Schüsseln, Becher und Krüge heran. Ruprecht, der in diesem Gewusel eher ein Hindernis für die anderen wäre, öffnet inzwischen weit die Fenster der Stube und der Werkstatt, um die abgestandene Luft mit all den Ausdünstungen zu vertreiben, denen die intensiven Gerüche der Kräuter unter der Decke längst nicht mehr beizukommen vermögen.

 

Es ist nur wenig Zeit vergangen, seit Mutter die Idee offenbarte, da sitzt die Familie einträchtig im Garten. Der Vater spricht das Tischgebet, begleitet vom Gesang der Vögel und vom Summen der Insekten im Blumenbeet. Im zarten Hauch des Windes legt sich der Duft der Pfingstrosen wie ein Seidentuch über die Hungrigen und liebkost die strapazierten Städternasen.

„So sollten wir öfter essen, mein Schatz“, bemerkt der Hausherr und wirft seinem Weib einen liebevollen Blick zu. Die jedoch lächelt keck und bemerkt weise: „Würden wir das öfter tun, dann wäre so ein Mahl im Freien nichts Besonderes mehr und der Mehraufwand wäre nur noch eine Belastung. Also lassen wir die Variante als Ausnahme, die dem heutigen Tage angemessen ist.“

„Mein Gott, Mutter, was drückst du dich heute gewählt aus. Willst du gar eine vornehme Dame werden?“ Johanna kann ihre Verwunderung nicht verbergen. Elisabeth, deren Geist noch ein wenig wendiger scheint, tritt der Schwester gegen die Wade. „Denke mit, Hannel! Wenn die Eltern gestern mit Roselers gesprochen haben und die Mutter den Tag heute als etwas Besonderes bezeichnet hat, dann kann das nur was heißen, na?“

„Gut überlegt, du schlaue Maid!“, lobt der Vater Elisabeth. „Ich bin gestern mit dem alten Roseler übereingekommen, dass der Ruprecht die Martha heiratet. Die Roselerin hat zu eurer Mutter gar gesagt, dass sie schon lange darauf warten, dass der Ruprecht um Marthas Hand anhält.“

„Im Nachhinein kann man vieles erzählen“, brummt Paul dazwischen. Wie ich die alte Tratschtante kenne, hätte sie über die Unmoral der Jugend gewettert so wie Ruprecht das Maul vor ihrer Tür aufgemacht hätte und das die Tradition gebietet, dass die Eltern erst verhandeln, zu welchem Preis die Kinder verschachert werden.“

„Nun halte mal die Luft an, Junge!“, mahnt der Tischlermeister. „So schlimm ist die Hedwig Roseler nicht. Ihr Mann ist sehr maulfaul und so spricht sie eben mit den Nachbarinnen, stimmt es, Mutter?“

Die Prescherin schmunzelt fröhlich. „Ihr seid beide im Recht. Sie tratscht für ihr Leben gern und hat normalerweise niemanden im Hause, der ihr antwortet. So kam ich eigentlich gestern nur dazu, einen schönen Abend zu wünschen und dann, mich zu verabschieden. Die restliche Zeit hat sie gesprochen. Von Martha habe ich nur das Surren des Spinnrades gehört.“

„Und feiern wir heute die Verlobung?“, meldet sich neugierig Johanna zu Wort. „Da müssen wir uns sputen. Heute in der Früh war der Himmel blutrot und ihr wisst ja: Morgenrot – Schlechtwetter droht!“

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden!“, wendet Ruprecht ein. „Es freut mich ungemein, wenn sich so eins zum anderen fügt, aber ich wäre gern auch mit einbezogen worden. Darf ich wenigstens erfahren, was die zwei Väter beschlossen haben?“

So ernst Ruprecht das Anliegen auch ist – und ganz sicher nicht unbegründet – sorgt es doch für allgemeine Heiterkeit.

„Ach du Ärmster“, die Mutter antwortet in glucksender Sprechweise, „mir scheint, dich geht es am ehesten etwas an und dennoch hält man dich ahnungslos!“ Eilig wischt sie die Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Entschuldige, wir wollten dich nicht übergehen.“

Der Vater erachtet es für angemessen, höchstselbst über den autoritären Ratschluss der Familienoberhäupter aufzuklären. „Also, der Michael Roseler und ich, wir sind übereingekommen, dass du die Martha heiraten wirst. Ein Problem bleibt dabei, wovon ihr leben wollt. Als Tischler wirst du es nimmer zum Meister bringen bei deinem Ungeschick. Also bliebe die Schuhmacherei, aber davon verstehst du gleich gar nichts. Nun hat der Roseler gute Verbindungen zum Rat und er will versuchen, dich als Stadtschreiber unterzubringen. Zu irgendetwas muss Mutters Mühe nutze sein und so hat sie dir das Schreiben nicht umsonst beigebracht.“

Mit großen Augen blickt Ruprecht seinen Vater an. Er wird also tatsächlich nicht die Werkstatt erben! Wenngleich er selbst seine Zweifel an der Eignung zum Tischlermeister hatte, ist ihm die Verkündigung als Fakt höchst widerwärtig.

Paul bemerkt wohl, was in seinem Bruder vor sich geht. „Nimm es hin wie ein Mann, Großer. Du weißt, dass der Vater recht hat. Ich will dir nichts wegnehmen, aber als Tischler habe ich die besseren Aussichten auf den Meisterbrief.“

Der Prescher nickt zu den Worten seines Zweitgeborenen. „So habe ich es mir auch überlegt. Um dir aber eine gewisse Sicherheit zu geben, erhältst du Zeit deines Lebens einen Anteil am Gewinn der Tischlerei. Der wird zwar nicht als Lebensunterhalt reichen, aber als Schreiber verdienst du auch.“

Langsam, als sei es eine bittere Medizin, schluckt Ruprecht die Enttäuschung hinunter. Er weiß um die Tatsachen und er wird nicht mittellos dastehen. Ganz im Übrigen ist der Stand des Schreibers sehr geachtet.

„Stadtschreiber zu sein ist eine besondere Ehre!“, wirft die Mutter ein. „Dabei kannst du nebenbei den Schulmeister unterstützen, soweit der dies zulässt. Immerhin könnte er dagegen sein, weil du das Rechnen und Schreiben nach alter Tradition bei mir gelernt hast, aber vielleicht sieht er das nicht so verbissen und dann wirst du irgendwann der Schulmeister sein?“

Ruprecht winkt entsetzt ab. „Bleib mir nur damit vom Leib! Ich werde mich doch nicht mit den verwöhnten Bälgern der Pfeffersäcke herumschlagen, deren wohlgestaltete Mütter sich weder das Rechnen noch das Schreiben je zu eigen machten, weil sie nur mit ihren Gulden protzen und ansonsten das Geld zum Fenster hinauswerfen.“

„Nun halte die Luft an, Sohn!“, knurrt der Vater böse. „Nicht jeder Händler schwelgt im Geld und deren Weiber sind zumeist sehr ehrbar! Nimm dir den Caspar Pegnitzer. Ist dessen Familie vielleicht von der Art, wie du sie beschreibst?!“

Erschrocken zieht der Gescholtene den Kopf zwischen die Schultern. „Um Gotteswillen, nein! Die habe ich nicht gemeint. Aber vorn in der Langen Straße gibt es Beispiele genug, zumal in neuen Steinhäusern.“

„Sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst. Wären deine Hände nicht so ungeschickt, dann wäre die Schulmeisterei hier gar kein Thema.“ Der alte Prescher will nicht nachgeben. „Was weißt du vom Tagewerk eines Kaufmannsweibs?“

Ruprecht zuckt mit den Schultern. So genau hat er darüber noch gar nicht nachgedacht. Kann deren Tagewerk so viel anders sein als das der Mutter, die von früh bis spät zu rackern hat? „Na gut, auf der faulen Haut liegen können sie auch nicht. Aber Mutter hat nicht einen Deut weniger zu tun und hat uns allen dennoch der Reihe nach das Schreiben und Rechnen beigebracht. Warum ist das nicht auch bei den Kaufleuten so üblich?“

Endlich legt der Vater seine bärbeißige Miene ab und lächelt mit unverkennbarem Stolz sein Weib an. „Weil deine Mutter nicht einfach klug, sondern sehr klug ist. Deshalb passt sie so gut zu mir. Sie findet immer den schnellsten Weg zu einer Lösung. Das kommt, weil sie schon, wie auch ihr, als kleines Kind mit Spaß an das Lernen herangeführt wurde. Dadurch erkannte sie die Vielfalt der Möglichkeiten. Wer das Rechnen erst spät erlernt, der hat damit viel mehr Not. Wie soll derjenige seinen Kindern dann die Freude daran vermitteln? Nicht anders ist es mit dem Schreiben. Es ist schon ein gelungener Zug unseres Rates gewesen, als er Ende des letzten Jahrhunderts die Stelle des Schulmeisters schuf. Übrigens ist nicht gesagt, dass du zu dessen Gehilfen überhaupt taugst. Über Wissen zu verfügen ist das eine, Wissen zu vermitteln aber ist das andere, das Schwerere.“

Die Mutter legt dem Meister die Hand auf den Arm. „Darum müssen wir uns kaum Sorgen machen“, meint sie, „der Große hat seit jeher sein Wissen recht gut weitergegeben. Da hat er deutlich mehr Geschick als im Handwerk.“

„Das hast du mir schon mehrfach gesagt, Mutter. Aber was hätte mir das bei unserem Tagewerk genützt? Von der Schulmeisterei wird man nicht satt, wenn die Eltern nicht gut zahlen. Gehört aber die Schule der Stadt, dann sieht das ganz anders aus, dann gibt es aus dem Stadtsäckel ein festes Handgeld.“

Ruprecht folgt der Zwiesprache mit gefurchter Stirn. „Ihr seid gut. Eben hieß es noch, ihr wollt versuchen, mich als Stadtschreiber unterzubringen, da quält euch schon der Gedanke, wie ich zum Schulmeister werden könnte. Wäre es nicht erst einmal von Wichtigkeit, die Schritte bis zur Hochzeit zu klären? Wie soll das vonstatten gehen?“

Tief atmet der Vater ein. „Deine Stelle als Stadtschreiber ist der erste Schritt, mein Sohn, denn bevor überhaupt die Eheschließung angebahnt wird, muss klar sein, wovon du deine Familie ernährst. Sobald du eingestellt bist, wird das Aufgebot bestellt.“

„Und wenn ich die Stelle nicht bekomme, dann wird es nichts mit der Hochzeit?“

„Erzähle doch nichts, der Roseler hat seine Hand darauf gegeben, dass es klappt.“ Entschlossen klopft der Vater mit den Knöcheln auf den Tisch, als könne er damit den Plan zum Fakt erheben.

„Na, das lass ich mir gefallen!“, tönt es in diesem Augenblick vom Weidenrutenzaun herüber. „Erst habe ich gedacht, ihr säßet zum gemeinsamen Frühstück, aber nun scheint es mir eher wie zum Reichstag in der Kaiserpfalz.“ An der Pforte zeigt sich die gebeugte Gestalt Mutter Mechthilds. „Darf ich mich zu euch wagen oder störe ich gar zu sehr?“

Mit staunenden Augen erwidert die Hausherrin: „Komm nur heran, Muhme. Nur selten führt dich dein Weg in die Stadt und nun kommst du gleich zweimal so kurz hintereinander? Das wird doch nichts Schlimmes zu bedeuten haben, hoffe ich.“

Schwer atmend kommt die Alte näher. „Ach was, ich will nur nach dem Ruprecht sehen und ein wenig mit euch schwatzen. Das hatte ich eigentlich gestern Abend schon vor, aber du warst nicht zu Hause, Magdalena.“

„Mein Weib darf doch auch einmal ausgehen“, mischt sich Hans ein. Ihm ist die Tante der Hausherrin immer etwas unheimlich und die Fähigkeiten, die ihm bei seiner Frau so gut gefallen, machen ihm bei der Alten eher Angst.

„Keine Bange, lieber Hans, ich werde nicht lange bleiben. Aber meine Neugier musst du schon erst stillen und mein Geschwätz ertragen.“ Ein hohles Kichern folgt den durchaus nicht witzig gemeinten Worten. Leise ächzend lässt sie sich auf dem angebotenen Hocker nieder. „Ihr habt es euch hier recht gemütlich gemacht“, meint sie und beäugt aufmerksam das Umfeld. „Es ist der richtige Platz, um sich über die alten Zeiten und die Zukunft auszutauschen. Oder was meinst du, Magdalena?“

Die aber weist das Ansinnen energisch zurück. „Das werden wir auf gar keinen Fall tun, Mutter Mechthild, denn das ist nichts für gespitzte Ohren neugieriger Töchter, welche die Zusammenhänge noch gar nicht zu erfassen vermögen. Du wirst uns also erst in aller Ruhe essen lassen und dann werden die Mädchen davonziehen.“

Wütend klopft die Alte mit den Knöcheln auf die Tischplatte. „Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst, Magdalena, aber du kannst deine Töchter nicht davor bewahren, dem Ruf ihrer Bestimmung zu folgen. Seit alters her sind die Weiber unserer Linie berufen, als weise Frauen dem Volk zur Seite zu stehen.“

„Schweig endlich, Alte!“ Mit zorngerötetem Gesicht herrscht der Tischlermeister das Kräuterweib an. „Die Lena hat ausdrücklich gesagt, dass wir reden können, sobald die Jungfern fort sind. Was setzt du ihnen dann jetzt dieses vergorene Zeug sündhaften Geredes vor?! Willst du, dass sie in Flammen vergehen, weil sie ein falsches Wort verloren?!“

Harten Blickes bringt ihn Mechthild zum Schweigen. „Den richtigen Augenblick für die Eröffnung solchen Wissens gibt es nicht, Hans. Außerdem müssen die Jungfern spätestens jetzt erlernen, mit den Kräutern und Wurzeln umzugehen. Wenn man zu spät mit dem Lernen beginnt, dann bleibt nur Stückwerk haften und das kann zu großem Schaden führen.“

Der von Zweifeln gefüllte Vater winkt wenig befriedigt ab. „Ich weiß nicht, warum du das tust und was du letztendlich bezweckst, aber es gefällt mir nicht, dass du meine zwei Töchter und meinen ältesten Sohn für dich beanspruchst. Was ist bei den Dreien anders als bei Paul, der dich glücklicherweise gar nicht kümmert?“

 

Magdalena, die bleich und leeren Blickes der Auseinandersetzung gefolgt ist, nimmt jetzt wieder die Umwelt wahr und mischt sich ins Gespräch. „Da es nun einmal gesagt ist, können Lisa und Hannel auch den Rest unseres Geheimnisses erfahren: Die Muhme Mechthild hat es ganz richtig gesagt, ich stamme in direkter Linie von den weisen Frauen unseres Volkes ab, so wie die Mutter Mechthild auch oder vor Jahrhunderten eben die Mutter Hildburga. Wir erben unser Wissen von unseren Müttern und geben es an unsere Töchter weiter. So steht uns von Kindesbeinen an Wissen zur Verfügung, das andere Menschen nie erlangen können. Wir müssen nur lernen, dieses Wissen wahrzunehmen und richtig zu gebrauchen. All dies ist natürlich den Leuten um uns unbegreiflich und so vermeinen sie oftmals, Hexerei zu erleben. Darum verbergen wir größtenteils unsere Gabe, vor allem vor der Kirche, obwohl wir gute Christen sind.“

Johanna, die bislang eher ehrfurchtsvoll dem Gespräch gefolgt ist, blickt mit großen, runden Augen auf die Mutter. „Was denn, bin ich etwa eine Hexe? Aber ich will niemandem etwas Böses antun und wenn ich schon einmal unartig bin, dann nicht aus Bosheit! Nie und nimmer will ich eine Hexe sein!“

Ängstlich umfängt das Mädchen den Leib seiner Mutter und presst sich an sie. Diese aber fährt ihm tröstend über das Haar. „Natürlich bist du keine Hexe und du wirst niemals eine sein. Du bist auch nicht bös, sondern höchstens einmal ungezogen, so wie alle anderen Kinder. Aber du, deine Schwester und ich, wir haben altes Wissen unseres Volkes zu bewahren, vor dem andere Menschen vielleicht Angst haben, weil sie glauben, wir könnten mit diesem Wissen Macht über sie gewinnen. Deshalb soll von unserem Wissen nie jemand je erfahren, der nicht zu unserem Kreis gehört, noch nicht einmal unsere Nachbarn – auch nicht die Martha. Einzig, dass wir etwas von Kräutern und Wurzeln verstehen, das dürfen sie, denn dieses Wissen ist auch anderen Leuten gegeben.“

„Ich habe aber nie bemerkt, dass ich mehr wüsste als andere“, wendet Elisabeth ein. Irgendwie erscheint ihr das Gespräch sehr unwirklich, eher wie ein seltsamer Traum und sie meint, gleich aufwachen zu müssen. Mutter Mechthild nickt ihr zu. „Das will ich dir gern glauben, denn all dein Denken und Tun ist dir selbstverständlich. Aber hast du nicht immer schon vorher gewusst, wenn die Chemnitz über die Ufer tritt, wenn im Juni der Hagelschlag die Ernte vernichten würde? Diese Gabe bleibt deinen Nachbarn vorenthalten. Wenn mich nicht alles täuscht, hast du sogar der Bertha, dem Weib vom Steinmetz Meier den Schmerz aus dem Kreuz genommen, als sie nicht mehr allein vom Brunnen hochkam. Glaubst du, das hätte die Elsa Lexmer gekonnt, die deine Freundin ist? Es wird höchste Zeit, dass ihr erlernt, mit diesen Gaben umzugehen, damit ihr nämlich keinen Schaden anrichtet.“

Paul hat aufmerksam die Belehrung verfolgt und ohne es zu bemerken, sucht er mit dem kleinen Finger in der Nase ein störendes Kribbeln zu beseitigen. Dabei bemerkt er nachdenklich: „Bislang dachte ich immer, die Kenntnis der Herkunft unseres Volkes sei das Geheimnis unserer Familie und ich war sehr stolz, zu diesem illustren Kreis zu gehören. Nun aber wird mir offenbart, dass vielmehr die Weiber unserer Familie das Besondere sind und ich mehr oder weniger der Kehricht der Familie bin. Das schmeckt mir so gut wie Bitterkraut.“

„Quatsch nicht solchen Unsinn!“, begehrt der Vater auf. „Weder du noch ich sind hier Kehricht. Wir sind als Schutz den weisen Frauen zur Seite gegeben und das ist Ehre wie Verantwortung genug. Du wirst darauf achten, dass deine Schwestern auch dann nicht verderben, wenn sie selbst eine Familie haben und deren Männer vielleicht nicht stark genug sind, ihre Weiber zu beschützen. Unklar ist mir nur, welche Rolle deiner Meinung nach unser Ruprecht spielt. Sag es uns, Mutter Mechthild.“

Die Alte zupft sich verlegen am Ohr. „Nun ja, ganz sicher bin ich mir da noch immer nicht. Aber seit seiner Geburt sehe ich immer wieder Hinweise, dass er der Wiedergänger ist. Die Hildburga hat seinerzeit in Rudolf, dem Bauerngeneral, eine Sicherung zur Wahrung unseres Wissens hinzugefügt, weil sie den christlichen Priestern nicht so recht über den Weg traute. Alle paar Generationen erscheint er nun in neuer Gestalt und prüft, ob das Wissen noch vorhanden ist, welches uns mitgegeben wurde. Gleiches tut die alte Hildburga auch selbst und mir wurde nachgesagt, dass ich deren Inkarnation sei. Wenn es so wäre, bedeutete dies aber, dass heute die Gefahr besonders groß ist, alles Wissen zu verlieren.“

„Es ist schon ein wenig gruselig, was du uns da erzählst“, bemerkt Paul und lehnt sich zurück. „Da habe ich einen etwas älteren Bruder und dann kommt jemand des Weges und behauptet, dass es sich um den schlappen Altersunterschied von über fünfhundert Jahren handelt. Das scheint mir etwas sehr weit hergeholt. Und was soll erst die Martha denken? Ist der Altersunterschied der Brautleute nicht arg groß?“

Jetzt ist es Ruprecht nicht mehr möglich, sich aus dem Gespräch herauszuhalten. „Lasst mir die Martha aus dem Spiel! Von diesem ganzen Kauderwelsch will ich nichts mehr hören! Wenn hier ein Lauscher um die Ecke stand, wird es garantiert einen großen Hexenprozess geben und da kann ich mir auf alle Fälle Schöneres vorstellen.“

Der Tischlermeister nimmt die Worte seines Ältesten als Abschluss der Debatte und erhebt sich. „Stimmt, es ist genug gesprochen. Mutter klärt noch mit Mechthild, wie die Mädchen an das nötige Kräuterwissen kommen. Der Paule geht mit mir nach Sankt Johannis ins alte Holzlager und Ruprecht versucht einen Rundgang durch die Gasse, damit er wieder auf die Beine kommt. Die Lisa und das Hannel helfen der Mutter, zuvor aber streichen sie die Stühle in der Werkstatt für den alten Pegnitzer!“ Entschlossen winkt er dem Zweitältesten, ihm zu folgen und wendet sich der Gartenpforte zu. Als auch die Töchter des Hauses verschwinden wollen, gebietet die Mutter Einhalt. „Es ist recht, wenn der Vater euch eine Aufgabe gestellt hat. Das heißt aber nicht, dass wir hier alles stehen und liegen lassen. Erst räumt ihr die Reste des Mahls ab, wie es sich gehört.“

Die langgezogenen Gesichter der Schwestern zeigen deutlich, wie sie zu diesem Ansinnen stehen, jedoch die Miene der Mutter verrät die Sinnlosigkeit jeden Widerstandes und so tragen sie, wenig erfreut, die Schüsseln und Teller ins Haus. Inzwischen wendet sich Magdalena der Mutter Mechthild zu: „Ich fand es nicht gut, wie du dich in unser Familienleben eingemischt hast. War es nicht deutlich genug gesagt, dass die Mädchen außen vor bleiben sollten?“

„Meine liebe Magdalena, du vergisst offensichtlich deinen Rang in der Hierarchie! Du kannst nicht einfach festlegen, was du wann und wie zu tun gedenkst. Wir haben eine wichtige Aufgabe übernommen und zu erfüllen. Wenn wir nachlässig werden, dann geht unser Wissen und damit die Seele unseres Volkes verloren! Wohin das führt, siehst du in deiner Umgebung am besten. Es gibt keinen Einklang mit der Natur, der Medikus hat nur Scheinwissen und doktert mit irgendwelchen Mittelchen herum, weil die Soutanenträger jede Mixtur als Hexenzauber verschreien und medizinische Forschung verbieten. Man hätte etwas von den Muselmanen lernen können als Konstantinopel an sie fiel, aber die nannte man des Satans, so wie auch uns. Also müssen wir klüger sein und für die nächste Generation bewahren. Deshalb werden Elisabeth und Johanna ab dem nächsten Montag bei mir den Gebrauch der Kräuter, Blüten und Wurzeln erlernen, du aber führst sie in die Magie der Steine, den Einfluss des Mondes und der Sterne ein, denn das verstehst du besser als ich. Es wäre doch gelacht, wenn wir aus diesen zwei zarten Pflänzchen nicht zwei mächtige Bäume des Wissens machen könnten, die den widerwärtigsten Problemen der Gegenwart und Zukunft zu widerstehen vermögen.“