Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen

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Die zwei Mädchen drücken sich an einem Wagen vorbei durch das weit geöffnete Tor und betreten, erneut unbemerkt vom Scharfblick der Wachen, die Stadt.

Die Knaben um Reichenheins Claus haben offensichtlich noch immer ihr Vergnügen vor der Mauer. Kein Hinterhalt verwehrt den beiden Schwestern den Heimweg und so huschen sie, an Roselers Schuhmacherei vorbei, die Gasse hinüber zum elterlichen Haus.

An der Haustür wartet bereits die Prescherin, ohne jedoch auch nur einen Hauch von Ungeduld zu zeigen. „Na, das ging ja schneller als ich vermutete. Seid ihr geflogen oder gab es diesmal gar nichts zu untersuchen?“ In wohldosierter mütterlicher Liebe streicht sie den beiden Mädchen über die Köpfe. „Wir haben nun Zeit. Ruprecht ist eingeschlafen und scheint auf dem Weg der Genesung. Wir lassen ihn jetzt ruhen. Schlaf ist der beste Medikus.“ Sie zieht ihre Töchter in den Garten, wo sie auf der Bank an der Hecke Platz nehmen.

Nachdem Elisabeth die Handhabung der Arznei erläutert hat, kann Johanna ihren Mitteilungstrieb nicht mehr bezähmen und ohne auch nur annähernd genug Luft zu holen, platzt sie die Neuigkeiten heraus. Mehr in schwachen Ahnungen als in notwendigem Verstehen dringt das kindliche Kauderwelsch der Jüngsten in das Bewusstsein der Mutter. „Moment, Moment!“ Die Frau des Tischlers lacht verhalten. „Wie soll ich aus diesem Geschnatter schlau werden?“ Johanna, die ob des Einwurfes verstummt ist, will gerade wieder losplatzen, da hebt Magdalena, Aufmerksamkeit heischend, den rechten Zeigefinger. „Also zum Ersten: Martha von Roselers ist in Ruprecht verliebt.“ Eifrig und mit glühenden Wangen wird durch das Nicken der Mädchen die These zum Fakt erhoben. „Zweitens“, setzt die Mutter fort, „hat die Mechthild komische Sachen von sich gegeben und wollte das Geld nicht annehmen, richtig?“ Wieder nicken die Mädchen eifrig. „Nun, so will ich euch eine Geschichte erzählen, die weit in die Finsternis der entschwundenen Jahre zurückreicht. Vorher sehe ich nach Ruprecht und ob nicht euer Vater endlich zurückfindet.“ Konsequent drückt sie ihre Töchter auf die Bank und geht dann schnell ins Haus.

Wenige Augenblicke später kehrt sie zurück und setzt sich zwischen die zwei Mädchen. „Der Große schläft tief und fest, dass es eine Freude ist. Euer Vater sucht zwar immer noch den Bader oder den Medikus, aber den werden wir wohl nicht mehr brauchen.“ Sie drückt die Töchter an ihre Brust und beginnt, leise zu deklamieren:

„Die Wagen zogen mächtig schwer

durch Täler und über die Berge

vom Saalefluss im alten Land

zum Pleißenland in gewaltiger Stärke.

Der Hildebrand, den Riesen gleich,

führt er die Siedler ohne Zagen,

doch die Hildburga, die weise Fee,

sie wusste stets zu sagen

wie der Götter ihr Begehr

hilft unser Los zu tragen.

Das Volk war niemandes Untertan,

einziger Herr war der König,

der sie in dieses Land geholt,

das kränkte die Fürsten nicht wenig.

Doch war der neue Bauersmann

gekommen zu des Reiches Schutze

Seit an Seite mit des Königs Heer

der Ungarn Mächtigkeit trutzet.

Der Hildebrand ein Bauer war,

das Schwert war ihm nicht geläufig,

da rettet ihn die weise Frau

wie damals nur allzu häufig.

Sie gab ihm den Rudolf mit,

den Recken, den sie gefunden.

Der führt die Bauern in Sturmgebraus,

hat die Ungarn letztendlich geschunden.

Doch als der große Kampf vorbei,

jagt man Rudolf von hinnen.

Den Streit um den ersten Platz im Dorf,

Hildebrand wollt‘ ihn gewinnen.

So verdarb Hildburga, die weise Frau.

Es blieb nicht Rudolf der Hauptmann der Bauern.

Doch alle hundert Jahre sie wiederkehren,

erfahren wir mit Schauern.

Doch wenn dereinst die Gerechtigkeit gesiegt

und nicht das Gold in der Truhe

ist der Menschheit höchstes Begehr,

dann finden die zwei ihre Ruhe.“

Elisabeth kuschelt sich an den Arm ihrer Mutter. „Das war schön, schade, dass es schon zu Ende ist.“ Magdalena erwidert den Druck des Mädchens ganz zart. „Ach, weißt du Lisa, diese Ballade ist noch viel länger. Sie erzählt die Geschichte von unseren Vorfahren seit uralten Zeiten und reicht fast bis in die Gegenwart. Immer wenn etwas Entscheidendes passiert ist, wird ein neuer Teil dazu gedichtet, so dass unsere Geschichte nicht vergessen wird. Leider sind es nur wenige Familien, die dieses Lied weitergeben und so vor dem Vergessen bewahren.“ Elisabeth überlegt kurz und bemerkt dann: „Die Geschichte muss eben aufgeschrieben werden. Du kannst doch schreiben, Mutter, warum bringst du dieses Lied nicht zu Papier?“

Fast mädchenhaft hört sich Magdalenas Lachen an. „Ach Lisa, erstens reicht meine Schreibkunst nicht so weit, dass ich hunderte Strophen niederschreiben könnte und zweitens habe ich gar nicht so viel Zeit, denn Mutter von vier Rangen zu sein, einen Haushalt zu führen und als Meisterin dem Meister zur Seite zu stehen, dass lässt mir die Zeit wie im Fluge vergehen.“

Johanna war bis hierher still, doch nun will sie auf den Punkt kommen. „Die Ballade war ja ganz schön, Mutter. Aber was hat das Ganze mit unserem Kräuterweib zu tun? Und wieso verwechselt diese unseren Ruprecht mit jenem Rudolf?“

„Ach weißt du, die Mutter Mechthild entstammt einer uralten Familie, der nachgesagt wird, ihre Frauen seien sehr weise. Ihre Vorfahren waren wohl mit der Hildburga aus dem Lied verwandt. Wenn es auch nicht sehr gern von unserem Herrn Pfarrer gesehen wird, gehen dennoch viele Menschen zu ihr, wenn sie krank sind, denn sie vermag Kranke zu heilen. Zweifelsohne kann man auch sie zu den weisen Frauen zählen. Als unser Ruprecht auf die Welt kam, war Mutter Mechthilde ganz närrisch vor Freude, denn sie glaubte damals, der Bauerngeneral Rudolf aus unserem Lied wäre in unserem ersten Kind wiedergekehrt. Seit diesem Tag ist mir ganz bang um sie und um unseren Ruprecht. Wenn diese Mär auf die Ohren der heiligen Inquisition trifft, wird man hier Scheiterhaufen errichten. Sprecht also nicht über diese Sache. Es könnte sowohl die Mutter Mechthild als auch unserem Ruprecht zum Schaden gereichen.“ Verschwörerisch zwinkert sie ihren Töchtern zu und schiebt sie dann von sich. „So, Mädels, jetzt gebt Ruhe. Ich muss mich wieder kümmern, von allein erledigt sich meine Arbeit nicht.“

Dieses Ansinnen steht natürlich ganz entschieden gegen die Vorstellungen der wissbegierigen Johanna. Alle Enttäuschungen dieser Welt scheinen sich auf ihrem zarten Gesicht zu verewigen und mit Schmollmund und bettelndem Blick sucht sie die Mutter zu überreden. „Erzähl doch noch, wir helfen dir dann auch und so wird die Arbeit auch noch rechtzeitig fertig.“ Magdalena lässt ihre schön gezeichneten Augenbrauen nach oben schnellen. „Das wöllte ich zu gern sehen, wie du mir bei der Arbeit hilfst, dass ich schneller fertig würde. Bislang ist dir dieser Geniestreich noch nie untergekommen, du verkehrst alle Arbeit zum Spiel, meine Süße. Na ja, spinnen und weben kannst du recht gut, aber eben das muss gerade nicht getan werden.“

Von diesen Worten fühlt sich die Elfjährige über die Maßen hart getroffen. „Das ist gemein, Mutter! Ich habe heute schon die Stube gefegt, den Topf geputzt, die Asche aus dem Herd genommen …“

Weder Häme noch Bosheit liegt im Lachen der Mutter, als sie dem Kind die Haare zerzaust. „Ja, eben, in der Reihenfolge, mein Spatz! Die gefegte Stube ist nun sorgsam und ebenmäßig mit Asche bestreut.“

Puterrot wird Johannas Gesicht und Tränen der Scham treten in ihre Augen. Warum in aller Welt muss solches Ungemach immer ihr widerfahren? Enttäuscht will sie sich abwenden, da springt Elisabeth für sie in die Presche. „So schlimm kann es gar nicht sein. Ich habe gesehen, wie sorgsam das Hannel zu Werke gegangen ist. Hätte sie zu viel Asche aufgewirbelt, wäre ich gewiss deutlich geworden. Aber ich habe einen Vorschlag: wir gehen dir jetzt zur Hand und du erzählst uns heute Abend weiter, denn das interessiert mich auch.“

Magdalena gibt sich, als wäre sie sehr empört und nur die lachenden Augen lassen ihre wahre Gemütslage erkennen. „Was denn, wird das hier eine Meuterei? Ihr seid zu zweit, ich aber bin ganz allein, wie soll ich mich da erfolgreich zur Wehr setzen können? Also gut, ich gebe mich geschlagen. Heute Abend setzen wir uns an das Spinnrad und ich erzähle.“ Jubelnd laufen die Mädchen ins Haus. Bei Preschers wird nicht alle Tage gesponnen, aber wenn, dann ist es für die Mädchen immer wieder ein Höhepunkt. Die Mutter seufzt und wischt sich die Hände am Kittel ab. Die Sorge um ihren ältesten Sohn legt sich schwer auf ihre Brust und nichts von der eben empfundenen Leichtigkeit bleibt in ihrem Inneren zurück.

Leise neigt sich der Tag dem Ende entgegen und die Dämmerung beginnt, die Stadt in ein sachtes Blaugrau zu hüllen – die Zeit, die man die ‚blaue Stunde‘ zu nennen pflegt. Irgendwo in der Nachbarschaft bellt ein Hund seinen Zorn über den Hasen außerhalb seines Reviers in den Abendhimmel. Meister Prescher sitzt allein auf der Bank vor seinem Haus und schnitzt gedankenverloren an einem Holzkloben. Sein Blick irrt durch die Gasse, ohne irgendwo zu verweilen. Nein, ihn interessiert nicht das Stück Holz in seiner Hand, noch das Tun der Nachbarn. Den ganzen Nachmittag ist er durch die Stadt geirrt, ohne den Schreck über den Unfall des Sohnes verwinden zu können. Dabei hat er nicht einen Augenblick den Bader oder gar den Medikus suchen, sondern nur seine unbändige Angst um den Jungen bändigen wollen. Ihm ist klar, dass Magdalena besser als jeder andere das Richtige zu tun weiß. Tatsächlich ist sie mit dem Verletzten zurechtgekommen und hat den Sohn vor dem Vergehen gerettet. Jetzt ist die große Sorge des Tischlers, welche Richtung die Gespräche der Nachbarn nehmen werden. Es sind nicht viele, die über die entfernte Verwandtschaft Magdalenas mit der Mutter Mechthild Bescheid wissen, aber es genügt immerhin, wenn einer der Eingeweihten das Gerücht von Hexenzauber in Umlauf bringt. Es wird das Beste sein, am Sonntag eine große Kerze für die heilige Jungfrau anzuzünden.

 

„Vater, kommst du nicht herein? Es wird langsam kühl hier draußen und du wirst dir eine Erkältung holen!“ Im Schatten der Tür steht Magdalena und blickt auf ihren Gatten. „Nun komm schon und lass dich nicht von den Sorgen auffressen. Ruprecht ist wieder bei Sinnen und erholt sich langsam. Um das Gerede der Nachbarn musst du dir keine Gedanken machen. So oft unser Großer schon verletzt war, ist es für sie ganz logisch, dass ich ihn wieder auf Vordermann bringe. Sie würden sich eher wundern, wenn das nicht gelänge. Komm also herein, schnitzen kannst du auch während wir spinnen.“

Hans erhebt sich fast mechanisch und schüttelt dabei den Kopf – weniger aus Ablehnung als vielmehr aus Verwunderung. Wieso kennt sie immer wieder seine Gedanken?

Die Stube ist von drei Talgfunzeln erhellt, deren Licht bei weitem nicht ausreicht, die finsteren Ecken auszuleuchten. Aber gerade so ist es schön heimelig und beim Spinnen kommt es nicht so sehr darauf an, gut zu erkennen. Weil das Haus nur aus der einen Stube und der Werkstatt besteht, hat die gesamte Familie des Tischlers Anteil an der gemütlichen Atmosphäre. Die Mutter mit den zwei Töchtern bilden mit ihren Spinnrädern ein nahezu gleichseitiges Dreieck, dessen eine Seite sich nach der Schlafstatt Ruprechts öffnet, während in den anderen Seiten einmal der Vater und zur anderen Paul jeweils mit ihrem Schnitzwerkzeug Platz genommen haben. Die Anordnung hat sich im Haus des Tischlers lange schon für solche Abende eingebürgert, nur, dass Ruprecht normalerweise auch auf seinem Schemel sitzt.

Elisabeth, die das Singen über alles mag, hat eine melancholische Weise von Liebe und Abschied zu Ende gebracht und nun richten sich die Augen der Mädchen erwartungsvoll auf Magdalena. Hans, dem die stumme Aufforderung der Töchter nicht entgeht, schmunzelt der Mutter zu. „Na, meine Gute, mir scheint, du hast die zwei Mäuse mit einem Versprechen abgespeist. Was ist es diesmal?“

Scheinbar gequält stößt diese einen herzerweichenden Seufzer aus. „Ach ja, ich habe einen Teil der Rudolfballade vorgetragen und weil sie dann gar so sehr gebarmt haben, wollte ich heute Abend den Vortrag fortsetzen. Nun weiß ich nicht, ob das auch unseren drei Männern zusagt.“

Die Enttäuschung, die Mutters Antwort in das Gesicht Johannas schreibt, lässt sich nicht in Worten ausdrücken und so hakt Paul schnell ein: „Erzähl nur, Mutter. Es gibt keine schönere Geschichte über unser Volk und wir mögen sie alle. Außerdem ist es an der Zeit, dass das Hannel etwas über unsere Herkunft lernt. Ich glaube beinahe, Lisa kennt sie auch noch nicht.“

Der Vater überlegt kurz und wirft dann ein: „Stimmt, als wir sie zuletzt hören durften, waren die zwei Mädchen noch zu klein. Es wird also Zeit, die beiden einzuweihen in die dunklen, dunklen Geheimnisse unserer Vorfahren.“

Während die Schwestern schaudernd die Schultern nach oben ziehen, blickt Hans schmunzelnd in die Augen Magdalenas. Die schüttelt den Kopf und tadelt ihren Gatten: „Na, weißt du Hans, wir haben doch keine dunkle Vergangenheit! Ganz im Gegenteil, sie wird erhellt vom steten Licht reinen Glaubens!“

„Wie wahr, das wollen wir dir gerne glauben – bei Wotan und den Nornen!“ Unter Prusten stößt der Vater den Satz aus, doch die undeutliche Sprechweise lässt nicht zu, dass er verstanden wird und so wirkt sein Lachanfall eher befremdlich auf die Familie.

Magdalena lässt sich nicht stören und gleich darauf tönen die gereimten Worte, Frieden vermittelnd, durch den Raum, lassen vor den Augen der Zuhörer das Bild von den rumpelnden Wagen erstehen, die sich mühselig den Weg über die urwaldbestandenen Berge von Thüringen her an die Chemnitz bahnen.

AUF FREIERSFÜßEN

Der Regen prasselt gnadenlos auf die Stadt hernieder und lässt die befestigte Gasse geradezu im Schlamm verschwinden. Die streng riechenden Abfälle der Anwohner sind längst in den Graben gespült, der der Gasse den Namen gab: „Hinter der Bach“, so wie sich die nächste Quergasse „Uff der Bach“ benennt.

Das Haus des Tischlers Prescher steht ziemlich allein auf seiner Straßenseite. Vorn an der Ecke ist das Anwesen vom Töpfermeister Stange und hinter dem Tischler und dem Gassenende mit dem Schuster Roseler wohnt nur noch der Hans Karte, der Weber. Im Gegensatz dazu ist die andere Seite der Gasse dicht bebaut, ein Haus reiht sich an das andere.

Hans steht in der Haustür und lässt seinen Blick durch die regenverschleierte Gasse schweifen. Ihn stört das Wetter nicht, bislang konnte er noch immer jeder Witterung das Schöne abgewinnen. Die Lücken zwischen den Häusern sind von sattgrünen Sträuchern und Wiesen besetzt, die in den nächsten Jahren neuen Häusern weichen sollen.

Irgendwo hinter der jenseitigen Häuserzeile kräht ein Hahn heiser in den wolkenverhangenen Morgen und erinnert daran, dass auch an solch trüben Tagen die Arbeit getan werden muss. Sachte Schritte in der Gasse lassen den Tischlermeister aufmerken. Wiewohl er eben den Entschluss gefasst hatte, die morgendliche Hafergrütze zu sich zu nehmen und sich dann der Arbeit in der Werkstatt zuzuwenden, interessiert ihn nun außerordentlich, wer durch den strömenden Regen naht. Dabei ist ihm gar nicht recht, dass der im Wildwuchs weit ausgelegte Holunderstrauch in der Brache neben seinem Haus mit dem tropfnassen Blätterwerk den Blick die Gasse hinab versperrt. Als endlich eine Gestalt in seinem Blickfeld erscheint, verhindert der Kapuzenmantel das Erkennen seines Trägers. Der weite Schnitt gestattet nicht einmal den Rückschluss, ob es sich um einen Mann oder ein Weib handelt.

Während Hans noch grübelt, wer durch den Regen stapft, wird er gewahr, dass die Gestalt genau auf ihn zuhält. Kurz bevor sie ihn erreicht, erkennt er unter der Kapuze das Gesicht der Tochter vom Schuhmacher Roseler.

„Nanu, Martha, wer hat dich bei diesem Wetter aus dem Haus getrieben und zu so früher Stunde? Haben wir bei deinem Vater noch Schuhwerk in Arbeit oder steht noch Bezahlung aus? Ein leichtes Lächeln funkelt um die Augenwinkel des Tischlers, hat ihm doch seine Lena gestern Abend von Marthas Seelenleben berichtet. Ihm wäre das Mädchen als Schwiegertochter schon recht, aber so ein Schritt will gut durchdacht sein. Nun aber, da sie hierherkommt, wird er etwas schneller überlegen müssen.

Das Mädchen sieht ihn mit seinen großen Augen ganz und gar unschuldig an und doch zieht ein zartes Rot verräterisch über seine Wangen. „Guten Morgen, Meister Prescher. Die Elisabeth sagte mir gestern, dass sich der Ruprecht verletzt hat und nun wollte ich nachfragen, ob es ihm besser geht.“ Marthas Stimme hört sich etwas heiser an und die atemlose Sprechweise lässt keinesfalls auf Unbefangenheit schließen.

„Geh nur hinein und sieh selbst. Er wird dir eigenständig sagen können, wie es heute um ihn steht.“ Bereitwillig gibt Hans die Tür frei und grient in seinen Bart, als das Mädchen ihm den Rücken zukehrt.

Überrascht blickt Ruprecht auf, als die kalte Zugluft mit dem Mädchen in die Stube kommt. Sein von Stolz diktierter Versuch, sich vom Lager zu erheben, findet jähes Ende in schmerzgebotener Bewegungsarmut. So heldenhaft sein Bestreben war, es ist nur das hämische Kichern seiner Schwestern als Resultat zu verzeichnen.

„Du sollst liegenbleiben!“, tadelt ihn die Mutter vom Herd her. Eben füllt sie die irdenen Schüsseln mit dem Frühstücksbrei und an Martha gewandt setzt sie fort: „Schön, dass du vorbeischaust. Willst du auch einen Schlag Grütze?“

„Nein danke, Mutter Prescherin, ich habe schon gegessen, bevor ich aus dem Haus gegangen bin. Eigentlich wollte ich nur sehen, wie es Ruprecht so geht. Dann muss ich schon wieder los, denn Vater meint, ich könnte am besten das Leder zuschneiden. Glücklicherweise muss ich heute keine Schuhe austragen.“

„Nun hast du gesehen, wie es Ruprecht geht, da kannst du auch wieder heimkehren!“, kommt kess der Einwurf von Johanna, dem prompt ein Schlag von der flachen Hand der Mutter auf das lose Mundwerk folgt. „Johanna!“ Wenn Mutter den Namen schon so ausspricht, dann steht es schlimm um den Seelenfrieden der jüngsten Tochter. „Johanna, sofort entschuldigst du dich für die Frechheit! Sei froh, dass sich jemand um deinen Bruder sorgt!“

„Soll sie doch sagen, dass sie in ihn verliebt ist!“, setzt Johanna nach und entwischt vor dem nächsten Klaps eilig durch die Tür in die Werkstatt.

Marthas Gesicht hingegen nimmt die dunkelste Farbe an und Ruprecht ergeht es nicht anders. Der stottert verlegen: „Also, wie sie darauf kommt. Wenn ich erst wieder auf den Beinen bin, werde ich ihr ordentlich das Fell gerben.“

„Besser wäre es, du würdest dich der Martha erklären!“, mischt sich der Vater ein, der soeben die Stube betreten hat. „Dann wüsste ich nämlich, ob ich mich mit dem alten Michel zusammensetze und die Einzelheiten bespreche.“

Ruprecht fühlt sich von den Geschehnissen überrumpelt. Natürlich findet er die Martha toll und er hat mit ihr auf dem Tanzboden schon so manchen Reigen getanzt, aber so direkt haben sie sich noch nie über Gefühle ausgetauscht. Freilich, vom Alter her passen sie recht gut zusammen. Sie zählt siebzehn Lenze und er ist einundzwanzig Jahre alt. Aber dass das alles jetzt so offen auf dem Brett serviert wird, wo er sich selbst noch nicht richtig im Klaren ist!

Ruprechts Eltern schmunzeln in trauter Einigkeit über ihren Sohn und das Mädchen, die beide nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen.

„Nun bring mal nichts durcheinander, Hans“, versucht Magdalena die Situation zu entspannen. „Vielleicht sollten die zwei erst allein miteinander reden? Aber dazu wäre besser, sie würden miteinander ausgehen und nicht von uns beobachtet werden.“

Mit dunklen Augen sieht Martha zum Fenster hin. Wie peinlich ist das denn? Da hat sie sich über Wochen um Ruprechts Aufmerksamkeit bemüht und der zeigt sich von Blindheit geschlagen. Dann läuft sie ihm nach bis ans Krankenlager und muss diese Situation erleben. Wenn wenigstens die freche Johanna ihren vorlauten Mund gehalten hätte!

„Schön, dass ihr euch solche Gedanken macht“, lässt sich Ruprecht hören. „Vielleicht ist es dienlicher, ihr kümmert euch gar nicht erst darum? So vornehmen Standes sind wir beide nicht, dass wir heiraten müssen, um die Macht unserer Familien zu stärken, Reichtum zu vermehren oder was auch immer. Und zur allgemeinen Kenntnisnahme: Ich mag Martha sehr gern und habe bemerkt, dass sie mich auch mag. Nur bin ich eben kein Weiberheld.“

Wie in Stein gemeißelt stehen die Worte im Raum und weil sie so eindeutig sind, bemerkt der Vater nur: „Na, dann ist alles in Ordnung.“ Und geht in die Werkstatt.

Magdalena umfasst Marthas Schultern: „Komm so oft du kannst!“, und bringt sie vor das Haus. „Du musst dich nicht über die Situation wundern. In dieser Familie wird nicht viel über die Liebe gesprochen und so wirken die Herren alle ein wenig hölzern, wenn es um Herzensangelegenheiten geht.“

Elisabeth, die die ganze Zeit unbemerkt in der Ecke saß, hockt sich neben ihren Bruder. „Es wird Zeit, dass das passiert ist. Ich hatte nämlich schon Angst, dass du so ein alter, verknöcherter Einsiedler wirst, der unausstehlich ist.“

Irritiert blickt Ruprecht seiner Schwester ins Gesicht. „Na, du scheinst dich gut auszukennen. Wie kommst du auf solche Gedanken?“

Sie hebt die Schultern und legt die Hand auf ihre Brust. „Wie sollte ich nicht auf so etwas kommen? Sieh mal unseren Paul an. Der ist vier Jahre jünger als du, genauso alt wie die Martha. Er ist oft mit den Mädchen vor der Stadt und ich habe sogar schon gesehen, wie er die Frida vom Töpfer Nuremberg geküsst hat. Du hingegen schaust einfach weg, wenn dir eine ein Auge zuwirft. Sonst hättest du längst merken müssen, dass Martha in dich verliebt ist.“

Puterrot läuft das Gesicht des Bruders an und schüchtern bemerkt er: „Du bist ein schönes Früchtchen. Aber welches Mädchen sollte es sich antun, mein Weib zu werden? Du siehst selbst, laufend passiert mir irgendwelches Ungemach.“

Resolut wischt die neun Jahre jüngere sein Argument zur Seite: „Natürlich passieren dir die unmöglichsten Dinge. Das ist aber nur deswegen so, weil du stets Angst hast, es könnte etwas geschehen. Würdest du stattdessen den Blick auf die jungen Weiber richten, dann würde ich längst deine Kinder hüten.“

 

Erleichtert zieht Ruprecht Elisabeth an seine Brust. „Du bist mir doch die Liebste von meinen Geschwistern. Hoffentlich magst du mich noch, wenn das mit der Martha und mir etwas wird.“

Es ist gegen Mittag, als endlich der monoton rauschende Dauerregen allmählich nachlässt und schließlich in einen stotternden Nieselregen übergeht. Ein diffuses Leuchten im wattierten Grau des wolkenverhangenen Himmels lässt erahnen, wo sich die Sonne am Firmament befinden muss.

Der kleine Claus von gegenüber hat längst seinen Erkundigungszug angetreten, weil einer seiner Getreuen von gewaltigem Hochwasser des nahen Flüsschens zu berichten wusste. Eben schlägt die Glocke von Sankt Jakobi die zwölfte Stunde, als der erste Sonnenstrahl den Weg durch eine winzig schmale Wolkenlücke findet und suchend nach dem Fenster der Prescherchen Tischlerei tastet.

Gerade will der Meister die Werkstatt verlassen, als er das Leuchten auf dem matten Grund gewahr wird. Gierig nach frischer Luft öffnet er weit die Fensterflügel und freut sich des erkennbaren Wetterumschwungs. „Lena!“, dröhnt seine Stimme durch das Haus. „Öffne die Fenster und Türen, lass die Luft ins Haus, bevor der Rinnstein wieder stinkt!“

Das Leben in der Stadt mag viele Vorteile mit sich bringen, aber der Geruch der Abfälle in den Gassen in Komposition mit dem der Latrinen kann schnell unerträglich werden, zumal wenn die Wetterlage keinen Luftaustausch zulässt. Deshalb gefällt den Städtern ein laues Windchen und Regentage sind nicht unbedingt immer unwillkommen. Heute ist solch ein Tag, wo die Nasen der Bürger verwöhnt werden und so sieht man, Gasse auf und Gasse ab, überall offene Fenster und Türen. Obwohl es an sich eher die beste Zeit für das Mittagsmahl ist, stehen allenthalben die Nachbarn schwatzend beieinander und tauschen sich über den Dauerregen aus, der offensichtlich sein Ende fand.

Die Prescherin sieht diese Gespräche nicht ohne Neid. Aufgrund der leer stehenden Grundstücke fehlen ihr für den Schwatz die direkten Nachbarn und die Minna Zigerin von gegenüber hat ihr eine zu spitze Zunge, vor allem da diese bereits ziemlich eindringlich auf Nurmbergs Emma einspricht. „Hans, ob ich kurz auf einen Sprung bei der Roselerin vorbeigehe?“, ruft sie fragend über die Schulter. „Das Essen muss ohnehin noch ein paar Augenblicke ziehen.“ Doch die so sicher geglaubte Zustimmung von Hans wird ihr verwehrt. „Lass das lieber bleiben! Erstens habe ich jetzt Hunger und nicht erst in zwei Stunden – und so lange pflegt Roselers Hedwig am Stück zu reden. Außerdem wird dir der Alte den Leisten an den Kopf werfen, wenn er nicht rechtzeitig den Löffel in die Schüssel tauchen kann. Bleibe also besser hier. Heute Abend kannst du dich mit der Roselerin zusammensetzen. Da will ich den Michael in den „Heiligen Georg“ entführen“.

Erstaunt wendet sich Magdalena der Stube zu. „Nanu, Hans, woher kommt dieses überraschende Vorhaben? Du gehst doch sonst nicht mit diesem alten Knurrhahn in die Wirtschaft. Es wird hoffentlich nicht wegen der Martha sein – da wäre ich besser mit dabei!“

„Erst einmal, mein liebes Weib, will ich von dem alten Zausel hören, wie er überhaupt zu solch einer Beziehung steht. Da man so etwas aber mit Geduld ausloten muss, gehe ich mit ihm eben in das Wirtshaus.“ Inzwischen hat sich Hans auf seinen Schemel gesetzt und deutet mit dem Kinn auf den Herd. „Komm, Magdalena, mein Magen knurrt.“

„Und ich sagte, das Essen muss noch ein paar Augenblicke ziehen. Außerdem, wo ist Paul? Und die Mädchen sind auch noch nicht vom Brunnen zurück!“, erwidert die Hausherrin zornig. „Versuchst du jetzt, den Haustyrann zu spielen?“

„Was soll das?!“ Der Tischler blickt finster zur Tür, wo sich sein Weib angriffslustig in Position gebracht hat. „Ich wusste nicht, dass wir uns neuerdings raufen müssen. Beruhige dich also! Der Paule ist im Spitzgässchen. Dort täfelt er eine Stube und wird nicht vor Abend zurück sein. Ich aber will nach dem Essen zum Schultheis, dem will ich die Ausstattung für zwei neue Gästezimmer bauen.“

So schnell Magdalena in Rage geraten war, will sie sich dennoch nicht gleich wieder beruhigen. „Und du meinst, wenn du schon einmal in der Wirtschaft bist, kannst du auch gleich deinen Sohn dort verscherbeln? Nee, mein Guter, so geht das nicht. Da habe ich ebenfalls ein Wörtchen mitzureden!“

Gerade will sie zur Tür hinaus und der Forderung ihres Mannes zum Trotz zur Roselerin hinüberlaufen, da meldet sich Ruprecht von seinem Lager: „Das gibt es doch nicht, dass ihr euch um meinetwegen streitet! Ihr müsst überhaupt nicht die Lage ausloten und erkunden, wie Marthas Vater denkt. Ich selbst werde um die Hand der Tochter anhalten und er wird nichts dagegen einzuwenden haben!“

Erschrocken wenden sich die Eltern ihrem ältesten Sohn zu, den sie unter dem Schleier des Eckenschattens gar nicht wahrgenommen hatten. Während die Mutter vor Schreck und Scham ganz bleich ist, poltert der Vater mit rotem Kopf los: „Es hat dir wohl gefallen, deine Eltern im Streit zu beobachten? Aber auch du wirst mit deinem Weib dereinst nicht nur eitel Sonnenschein erleben. Was aber die Vorsprache beim Roseler angeht, da wirst du schön warten, bis ich mit ihm klargekommen bin! Es war so und es bleibt so, unsere Tradition verlangt dies und daran wird auch der Eigensinn deiner Mutter nichts ändern!“

Eben will Magdalena ihre Position kundtun, da springt die Tür auf und die zwei Töchter poltern ins Haus. Misstrauisch mustern sie die Eltern, denn deren Gesichter berichten vom Spiel der Gefühle. Elisabeth versucht umgehend, den Schatten des Streites zu vertreiben und flötet übertrieben lustig: „Uhu, welch eine finstere Stimmung! Dabei sehe ich am Horizont nur Grund zur Freude.“

„Na eben“, stimmt ihr Johanna zu, „wir feiern bald Hochzeit und dann kommen auch gleich die Kinder. Aber jetzt habe ich ganz fürchterlichen Hunger!“

Bei den Worten der Mädchen wirft die Mutter dem Vater einen warnenden Blick zu, den Streit vorerst auszusetzen. Weil der aber seinem Weib das Gleiche signalisieren will, müssen beide laut lachen. „Ach Vater, nicht einmal streiten können wir richtig!“

Als der Tag sich dem Ende entgegen neigt, verdeckt ein azurblauer Himmel mit violettem Dämmerungsschleier die Erinnerung an den verregneten Vormittag. Längst ist Paul aus dem Spitzgässchen zurück und sitzt auf der Bank neben der Tür. Ihm zur Seite hockt Ruprecht, der sich in seiner Sehnsucht nach Sonnenschein vom Krankenlager erhoben hat. Mit leisen Worten hat der seinen Bruder über die jüngste Entwicklung in Kenntnis gesetzt. Paul schmunzelt vor sich hin.

„Das wird aber auch Zeit, Brüderchen! Die ganze Gasse spricht schon darüber, dass Martha hinter dir her ist und du alter Zausel nichts davon merkst.“

Ruprecht sieht prüfend ins Gesicht des Jüngeren. „War das so deutlich? Wieso habe ich das nicht bemerkt? Jetzt lacht sicher die ganze Stadt über mich.“

„Wen interessiert das? Außerdem brauchen die Leute immer etwas zum Tratschen. Die Hauptsache ist, dass ihr zwei euch gut und einig seid. Vor allem kann ich nun viel besser den Weibern nachstellen, denn jetzt werde ich nicht mehr an dir gemessen.“

Das Lach-Duett der beiden hallt durch die abendfriedliche Gasse und findet prompt die kläffende Antwort eines Straßenköters. Als beide sich schniefend wieder beruhigen, bemerkt Ruprecht: „Du magst der Weiber halber nicht an mir gemessen werden, dass verstehe ich. Aber mein Ungeschick wird man immer mit deinem Können vergleichen. Das zu wissen ist auch nicht gerade ein Vergnügen.“