Der Professor mit dem Katzenfell

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Zwar taten die meisten Katzen so, als seien sie aristokratischen Geblüts, und möglicherweise waren sie es ja auch; seine Sammi jedoch war eine echte Majestät, eine kätzische Hoheit. Als er sie noch gar nicht richtig kannte, hatte er ihr – ganz Altertumsforscher und Workaholic – den Namen einer aramäischen Prinzessin aus Babylon gegeben, mit der er sich gerade beschäftigte: Sammuramat, die das historische Vorbild für die Semiramis der Griechen war. Wie er jetzt wusste, hätte er keinen passenderen Namen finden können.

Wie schön sie war! Sammuramat trug einen eleganten schiefergrauen Pelz, der entlang des Rückgrats einen Hauch dunkler erschien. Er entstammte mit Sicherheit dem Erbgut eines Kartäusers unter ihren Vorfahren, war aber ungewöhnlich samtig und weich wie Seide. Ihre flaschengrünen Augen passten exquisit zur Fellfarbe – wie zwei große Smaragde zu einem schlicht-aparten grauen Modellkleid.

Das Grau war jedoch keineswegs so einfarbig, wie es auf den ersten Blick erschien: Bei bestimmten Lichtverhältnissen, vor allem unter Halogenleuchten von IKEA, mit denen Schlichtkohl seine Zimmer illuminierte, erschienen auf Sammis Rücken vier dezente, etwa fingerbreite Querstreifen in dunklerem Anthrazit, dazu neun Tiger- oder Leopardenflecken im gleichen Farbton, die sich über den Hinterleib verteilten. Der Professor hatte keine Ahnung, wie dieses »latente« Katzenfellmuster zustande kam. Bei Tageslicht, soviel stand fest, war es unsichtbar.

Zu ihrem grauen Frack trug Sammuramat ein blütenweißes Lätzchen mit gleichfarbigem Halstuch und Stehkragen, und sie hatte ein überaus edles, ebenmäßiges Gesicht.

Daran hatte die symmetrische Verteilung der Farbe Weiß großen Anteil. Ein perfekt gleichseitiges schneeweißes Dreieck stieg von ihrer Brust, wo seine Grundfläche lag, über Hals, Katzenkinn und die Mitte ihrer Wangen empor. Es schloss das kecke Maul, das rosa Schnäuzchen und die wie Getreidehalme auf dem Acker in Reih und Glied in »Furchen« sprießenden Schnurrhaare ein, berührte die inneren Augenwinkel und endete genau zwischen den Augen etwas über Pupillenhöhe in einer filigranen, streng geometrischen Spitze.

Alle Linien waren wie mit dem Lineal gezogen. Ein cremefarbener Rand, der rund um die Augen lief, setzte diese effektvoll vom Fellgrau ab.

Die weiße Pyramide verlieh der dunkel getigerten oberen Gesichtspartie einen besonderen Charme. Auch sie war mitsamt ihrer elegant gebogenen Überaugen-Antennenhaare vollkommen symmetrisch gezeichnet. Vom Kiefergelenk zog sich auf jeder Seite ein maskaraschwarzes liegendes V über das Wangenfell, dessen Schenkel zu den oberen und unteren Augenwinkeln strebten. Es sah wie Kriegsbemalung aus.

Sammis Pfoten hatten rosa Ballen und steckten in adretten weißen Socken. Diese waren etwa gleich lang und gingen alle ein wenig über den »Daumen« hinaus, aber sie hatten einen ziemlich unterschiedlichen Sitz. Der obere Rand der beiden vorderen Kurzstrümpfe hing etwas durch, links deutlich mehr als rechts, als sei das Gummi erschlafft. Die Passform der linken hinteren Socke war perfekt, während der Rand ihres Gegenstücks Zickzackfalten warf.

Das Grauchen entstammte einem Clan kleinwüchsig-molliger Athener Katzen. Sie hatten Sammuramat einen gemütlich-runden Kopf und einen relativ kurzen und drallen Körper vererbt sowie einen auffallend dicken Schwanz mit einem erstaunlich massiven Kern. Er war ebenfalls grau und trug in regelmäßigen Abständen dezente Ringelstreifen.

Schlichtkohl wurde aus seinen Betrachtungen gerissen, denn plötzlich kam Bewegung in den an ihn gekuschelten Katzenkörper. Sammi drehte sich auf den Bauch und robbte in dieser Stellung vorwärts wie ein Soldat unter Beschuss. Sie erreichte seinen Arm und legte ihren Kopf und dann beide Vorderbeine sanft auf seinen Bizeps. Wie sie ihre Pfoten um seinen Arm schlang, hatte etwas Besitzergreifendes. Der Professor klappte das Federbett vorsichtig zu und achtete darauf, dass die Katzennase Frischluft bekam.

Kaum war das geschehen, wurde der Kopf auf seinem Arm ganz schwer, und einer von Sammis Reißzähnen bohrte sich in seinen Arm wie ein Zelthering in eine Wiese. Im gleichen Moment begann die Katze zu schnarchen. Zuerst war es ein leises Pfeifen und Säuseln, das aber bald in ein helles Brummen, Murmeln und Gurren überging. Schlichtkohl lauschte entzückt und vergaß den Zahn völlig. Es war die schönste Einschlafmelodie, die er kannte. Er knipste die Lampe aus.

Mara war ganz anders, als er sie kannte. Ihre Zurückhaltung, die er immer ihrer erzkatholischen Erziehung in einer südamerikanischen Nonnenschule zuschrieb, war verflogen. Sie war geschminkt, trug kirschroten Lippenstift, Lidschatten und ein Parfüm, das nach Tropenblüten, Bergamotte und Zypressen duftete. Sie hatte ihr Hörsaalgesicht abgelegt, war fröhlich und lachte ausgelassen. Er war sehr überrascht und glücklich, wie liebenswürdig und entgegenkommend sie war. Dabei sah sie so toll aus, dass sie jedem Mann im Saal den Kopf verdrehen konnte!

Ihr weißes T-Shirt hob ihre formvollendeten Brüste hervor, deren Straffheit und Größe er im Hörsaal nie bemerkt hatte, und unterstrich ihre südamerikanische Bräune. Sie war wunderschön und machte ihm schöne Augen. Er fühlte einen kaum zu bezähmenden Drang, ihre Brüste zu berühren und legte zur Sicherheit seinen rechten Arm um ihre Schultern.

Er konnte nicht glauben, dass er das alles erlebte, aber gleichzeitig war er sicher, dass es Realität war. Er fühlte sich jung und unwiderstehlich, und er war von einer Glut und Zuversicht, einem freudigen Tatendrang, einem Hunger nach ihr und einem Glücksgefühl erfüllt, das seinen ganzen Körper summen ließ.

In dem perfekten Einverständnis, das zwischen ihnen herrschte, verließen sie nach drei oder vier Gläsern Champagner die Universitätsveranstaltung – er konnte sich nicht erinnern, welchem Anlass sie diente – und traten durch alte hohe Türflügel auf eine große Terrasse hinaus, die bis auf zwei Pflanzkübel mit Palmen leer war. Die Luft war mild, und der Mond war groß und nah.

Er wusste nicht, wie ihm geschah, aber plötzlich drehte sich Mara ihm zu, legte ihm die Arme um den Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er registrierte trunken vor Glück – es war ein Glück, dessen Intensität ihn frappierte, denn er hatte Ähnliches noch nie gefühlt – ihre zärtlichen, am Ende des Kusses drängenden Lippen und deren Vanillegeschmack.

Sie beschwerte sich im Scherz, dass sein Schnurrbart beim Küssen kitzele. Er fasste sich ins Gesicht. Tatsächlich, er besaß einen dichten Schnauzer! Ihm wurde ein wenig schwindlig: Er kannte sich selbst nicht wieder!

Sie gingen eng umschlungen in eine dunkle Ecke der Terrasse. Weil aus dem Festsaal ein Wiener Walzer ertönte, packte Mara ihn, und sie drehten sich ein paar Meter weit im Kreise. Obwohl er normalerweise Walzer hasste, weil ihm dabei schwindlig wurde, bewegten sich seine Beine wie von selbst. Als sie an der Umfassungsmauer angekommen waren, drückte sie ihn an eine Sandsteinfigur und küsste ihn noch einmal. Er spürte ihre Zunge zwischen den Zähnen und bekam eine kräftige Erektion.

Mara bedeckte sein ganzes Gesicht mit kleinen Küssen, zupfte mit den Lippen an seinen Augenbrauen – die er zu seiner Überraschung ebenfalls besaß – und fuhr mit einer Hand durch sein dichtes Haar. »Ich liebe dich!«, flüsterte sie, und ein enormer Schauer aus Glück und Lust pulste durch seinen steifen Penis und den ganzen restlichen Körper.

Es war neu und berauschend, glücklich zu sein, Begierde zu spüren und der Erfüllung so nahe zu sein. Sie nahm seine rechte Hand und legte sie auf ihre Brust. Sie fühlte sich wunderbar an, und Mara küsste ihn leidenschaftlicher. Er überlegte gerade, wie es nur zu erklären war, dass ihm zum ersten Mal in seinem Leben so viel Glück beschieden war, denn er konnte immer noch nicht richtig glauben, was geschah, als eine Klingel schrillte. Das Ende der Veranstaltung war gekommen.

Er wollte Mara umfassen – mochten doch die anderen gehen, sie konnten unbemerkt hier stehen bleiben, und sich noch einmal im Walzertakt drehen – aber sie löste sich wortlos von ihm und ging ohne ein Abschiedswort auf die hohen Flügeltüren zu, die zum Festsaal führten. Er war erstarrt vor Schreck und Unverständnis und stürzte der Geliebten erst hinterher, als sie in der Lichtflut verschwunden war, die aus den Türen auf die Terrasse fiel.

Schlichtkohl lief in den Saal und blinzelte in die vielen Kronleuchter. Mara war wie vom Boden verschluckt. Obwohl sie nur ein paar Meter Vorsprung gehabt hatte und gerade noch die Gespräche vieler Menschen wie ein Brodeln und Brausen aus der Aula gehallt hatten, war der große Raum völlig leer. Band, Bar und Büffet waren fort, und das Parkett glänzte wie frisch poliert. Nur der Walzer ertönte weiter. Wieso, verstand er nicht.

Er verstand gar nichts. Warum war Mara so plötzlich gegangen, ohne einen einzigen Blick, ohne ein Wort? Sein Schmerz über ihren Verlust und seine Sehnsucht nach ihr zerrissen ihm das Herz, und er fühlte sich einsam wie nie zuvor. Er stand verloren in der Tür. Die Tränen quollen in dicken Bächen aus seinen Augen, und die Glocke, die verdammte Glocke, schrillte lauter und lauter. Sie übertönte sogar den Walzer.

Kapitel 2

Sebastian Schlichtkohl tauchte aus den Abgründen seines Traumes empor wie ein Schwimmer nach einem Sprung von einer hohen Küstenklippe aus dunkelblauer Meerestiefe. Sein Herz schmerzte und klopfte so rasend, als wolle es zerspringen. Weil etwas rhythmisch an seiner Brust pulsierte, glaubte er einen panischen Augenblick lang, es habe seinen Körper schon verlassen – und wachte erschreckt auf.

Er bemerkte, dass er haltlos schluchzte, und dass sein Kopfkissen völlig durchfeuchtet war. Es dauerte eine zeitlang, bis der Professor verstand, dass Herzeleid und Zähren – wahrscheinlich auch seine Erektion – Nachwirkungen eines Traumes waren. Er versuchte, sich zu erinnern, welche Monster ihn im Schlaf gequält hatten; aber sein Gedächtnis war leergefegt.

 

Klar war ihm nur, dass er einen Albtraum durchlitten hatte. Es vergingen noch ein paar Sekunden, ehe ihm dämmerte, dass sich Sammi an seiner Brust putzte, der Radiowecker einen Walzer aus dem Kraut-und-Rüben-Programm von Klassik Radio spielte und das Telefon klingelte.

Mutter! Eilig schwang Schlichtkohl seine langen Beine aus dem Bett, rappelte sich hoch, stolperte über seine Pantoffeln und hastete strauchelnd ins Wohnzimmer zum Fernsprecher. Nur seine Mutter rief mitten in der Nacht an, seit sie im Altersheim saß wie im Knast – wofür er sich schuldig fühlte – und wunderlich geworden war. Sie hatte keine Geduld und hängte viel zu rasch wieder ein, statt ein wenig auf die Verbindung zu warten. Wenn sie ihn aber nicht erreichte, machte sie sich die unmöglichsten Sorgen: Sie glaubte, er sei krank, weil er nicht genug esse, liege im Hospital, weil er angefahren worden oder wegen Überarbeitung zusammengebrochen sei.

Er ließ sich mit einer Drehung, die ihm nur teilweise gelang, in den Fernsehsessel fallen, kollidierte bei der Landung unsanft mit der rechten Armlehne, hob aber dennoch den Hörer an sein Ohr. Er erwartete das Pfeifen des Hörgeräts der alten Dame, aber es war Gotthard. Gotthard Hasenklee vom Institut für Organische Chemie, sein einziger echter Freund an der Universität – und erst 6.12 Uhr, wie er auf dem Telefondisplay sah. Er wollte sich melden, aber aus seinem Hals kam nur ein Krächzen.

»Entschuldige, dass ich dich so früh störe, Sebastian«, sagte Hasenklee. Er klang verschnupft und heiser. Hatte er auch einen Albtraum gehabt? fragte sich Schlichtkohl. »Ist schon okay«, antwortete er, und diesmal funktionierten seine Stimmbänder halbwegs normal, »hätte sowieso bald aufstehen müssen.« Das stimmte nicht, aber er mochte den Kollegen und wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte, weil er ihn geweckt hatte. «Was gibt’s Dringendes?«

Hasenklee zog die Nase hoch. »Du, Leo ist tot«, sagte er, und seine Stimme zitterte bedenklich. Schlichtkohl konnte hören, welche Überwindung diese Worte den Kollegen kosteten. »Vergiftet. Als er nicht nach Hause gekommen ist, bin ich heute Morgen um vier los, um ihn zu suchen. Ich musste nicht weit gehen. Er hatte sich noch bis zur Treppe vorn an der Straße geschleppt und war da gestorben – auf der zweiten Stufe.«

Hasenklees Stimme versagte, aber er zwang sich, weiter zu reden. »Ich glaube, ich kenne das Gift – er muss sehr gelitten haben.« Er brach ab, und Schlichtkohl verstand, dass der Schnupen kein Schnupfen war. Es waren Tränen.

Er sah Leo vor sich: ein riesengroßer bildschöner Kater mit Pfoten breit wie Tennisbälle, ein wahrer Herkules unter den Katzen. Main-Coon-Gene hatten sich in ihm besonders vorteilhaft mit den Erbanlagen von ein paar anderen Rassen vermischt und ihm neben seiner massigen Statur auch einen zweifarbigen Körper beschert. Die rechte Hälfte des kleinen Pumas war weiß, die linke schwarz. Weil die Farbverteilung mit Ausnahme der Bauchpartie völlig symmetrisch war und die Trennlinie präzise entlang der Wirbelsäulenmitte verlief, sah er wie gemalt aus. Sein Schwanz war schwarz-weiß geringelt. Leos Kopf war kohlrabenschwarz, hatte schneeweiße Schnurrhaare und Ohren sowie riesige dunkelblaue English blue-Augen.

Leo hatte um seine Schönheit gewusst und gerne ein wenig angegeben und mit Vorliebe für Fotos posiert. Aber sein Aussehen war ihm nicht zu Kopf gestiegen: Obwohl noch im Besitz seiner Hoden, war er, wenn ihn keine Katzenbraut nervös machte, zutraulich und anschmiegsam gewesen, freundlich und friedfertig. Trotz seiner Muskelpakete war er Katzenkämpfen häufig aus dem Weg gegangen, soweit man wusste, oder hatte seine von vornherein hoffnungslos unterlegenen Herausforderer gnädig mit einem zerfetzten Ohr davonkommen lassen. Viel lieber hatte er Hunde vermöbelt – und zu Hasenklees Entsetzen hatte er sich nicht nur mit Dackeln und Terriern angelegt.

Bis auf die Hunde und ein paar eifersüchtige Kater hatten alle Leo geliebt. Selbst Sammi, die andere Katzen verabscheute und mit Utnapischtim nur den Sachzwängen gehorchend eine Art Burgfrieden geschlossen hatte, war bei einem Besuch von Hasenklee in Begleitung seines Katers Leos Charme erlegen.

Aber der schwarz-weiße Herzensbrecher war keine Wohnungskatze gewesen, der ein Balkon als Auslauf genügte; abends gegen acht musste er raus in die gefährliche Freiheit des Barmbeker Straßendschungels und seines Jagd- und Liebesreviers im Hamburger Stadtpark. Zwischen eins und halb zwei war er aber immer durch seine beiden Katzentüren gebollert, hatte sich in der Küche auf sein Trockenfutter gestürzt und war anschließend zu Hasenklee ins Bett gekommen.

Ab und zu hatte er seinem Herrchen von seinen nächtlichen Streifzügen auch ein Geschenk mitgebracht – meist große fette graue oder schwarze Hamburger Kanalratten.

Gotthard hatte Leo geliebt, dachte Schlichtkohl betrübt, so wie er Sammi liebte. Wenn er sich überlegte, wie ihm zumute wäre, wenn er seine Süße tot vor der Haustür gefunden hätte – der arme Kerl musste sich scheußlich fühlen! Man konnte Katzen wie Menschen lieben – oder sogar noch mehr!

»Das ist ja entsetzlich«, sagte er. »Der arme Leo! Tut mir unsagbar leid! Kann ich was für dich tun? Soll ich nach meinem Seminar zu dir kommen – so gegen halb eins? Dir geht’s dreckig, oder?«

»Kann man sagen!«, antwortete Hasenklee. »Danke für das Angebot, aber ich fahre weg. Weit weg. Jetzt sofort. Es muss sein. Habe mich im Institut per E-Mail krank gemeldet.« Er schnupfte ein paar Mal. »Ich rufe dich an, weil ich deine Hilfe brauche. Ich habe seit fünf oder sechs Monaten ein Ferkel, ganz seltene Rasse – ein Mangalitza-Wollschwein. Sie ...« er versuchte zu lachen, aber es klappte nicht, »sie ist knapp ein halbes Jahr alt, ziemlich klein für ihr Alter und heißt Brunhilde. Sie ist stolz auf ihren Namen.«

Er schnäuzte in ein Taschentuch. »Sie ist blitzgescheit, sehr gelehrig und macht kaum Dreck oder Arbeit, und sie ruiniert auch keine Möbel, wenn man sie nicht alleine in ein Zimmer sperrt, aber sie hasst Autofahren. Ich kann sie ohnehin nicht mitnehmen. Sei so nett und kümmere dich um sie. Am besten holst du sie nach dem Seminar ab – mit der U-Bahn, die verträgt sie nämlich. Ich stelle sie solange in ihrer Kiste in meinem Keller unter – du weißt, wo mein Fahrrad steht. Ich habe dir geschrieben, was du wissen musst.« Er schnupfte wieder. »Sie hat sich mit Leo gut vertragen, ist also mit Katzen vertraut.« Noch ein Schnupfenanfall. »Geht das in Ordnung?«

»Na klar!« brachte Schlichtkohl heraus. Er wollte noch etwas Nettes über Leo sagen und etwas Zorniges über die Leute, die Hauskatzen vergifteten, und er wollte seinen Freund fragen, wo er hinfahre und wann er zurückkomme; aber Gotthard fiel ihm ins Wort. »Entschuldige, Sebastian, ich muss sofort los. Habe weit zu fahren. Es geht echt um Minuten. Lies den Brief, da steht alles drin!« Er hängte ein.

Schlichtkohl hielt den tutenden Hörer noch eine Zeit lang ratlos in der Hand. Er verstand zwar, dass Hasenklee nach dem Tod seines geliebten Katers traurig war und die leere Wohnung verlassen wollte, um anderswo über den Schmerz hinwegzukommen; aber wieso diese Hast?

Und: Was hatte Hasenklee mit Leo gemacht? Er würde niemals wegfahren und die Leiche seines Katers zurücklassen! Gotthard würde es sich nicht nehmen lassen, in aller Form von dem toten Gefährten Abschied zu nehmen.

Er sah Gotthard vor sich: Mittelgroß, schlank und südländisch dunkel, durchtrainiert, charmant und freundlich. Hasenklee war ein begnadeter Tänzer und ein erstklassiger Schauspieler, und warum er statt beim Theater bei der Organischen Chemie gelandet war, verstand keiner seiner Freunde, am wenigstens Schlichtkohl, der Gotthard hin und wieder – meist nach einer Enttäuschung mit Mara – um sein gutes Aussehen, sein Bewegungstalent und seine Eleganz beneidet hatte.

Er schüttelte den Kopf. Welch ein Morgen! Erst dieser wirre Traum, der ihn so erschüttert hatte, dann Hasenklees Anruf! Hoffentlich ging der Tag nicht so weiter! Er entleerte seine Blase und suchte Sammi.

Im Schlafzimmer war sie nicht, auch nicht im Wohnzimmer. Plötzlich packte ihn eine wilde Angst, ihr könnte etwas passiert sein, und er hastete ins Gästezimmer. Hier war sie auch nicht. Oder doch? Er knipste das Licht an, kniete sich hin und schaute unters Bett: Utnapischtim lag auf seinem Polster aus Einkaufsbeuteln und funkelte ihn mit zurückgelegten Ohren fluchtbereit an. Die grafitgraue Haube, die den in sein Schädeldach implantierten walnussgroßen »Stecker« bedeckte, sah aus wie eine winzige Chamulka, ein »Judenkäppi«.

»Entschuldigung, Pischti!«, sagte der Professor. »Kein Grund zur Panik. Ich hab nur Sammi gesucht. Schlaf schön weiter! Es ist alles in bester Ordnung!« Aber der Kater stand auf, Angst in seinen riesengroßen braunen Augen, kroch mit eingezogenen Beinen und sich nach ihm umblickend, zur anderen Seite des Betts, und schoss davon, dass die Teppichbodenfasern durch die Luft stoben.

Schlichtkohl wünschte, wie so oft, er könne Pischti helfen. Er hatte den großen dünnen, schwarzbraun gefleckten Kater mit den mühlradgroßen Augen aus einem Institut für Epilepsieforschung gestohlen und ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. Versuchstiere wurden nach Abschluss der Experimente routinemäßig eingeschläfert.

Er war bei einem Besuch der Tierlabors und der Versuchstierhaltung eines internationalen Pharmakonzerns, den ihm Gotthard ermöglicht hatte, auf den Kater aufmerksam geworden. Als er von einem Mitarbeiter des Multis, der ihm mit Bedacht nur relativ Unverfängliches zeigte, in den Wohnraum der »Steckerkatzen« geführt worden war, hatte ihn Pischti auf seine Weise begrüßt. Von einer kleinen Plattform an der Spitze eines Kletterbaums hatte er ihm eine Unzahl von Nasenküsschen gegeben.

In der weiß gekachelten Kammer, die von einem kleinen Radio beschallt wurde (»Damit sie sich an menschliche Stimmen gewöhnen können!« hatte sein Führer gesagt), war ein bunter Schwarm von etwa zwanzig Katzen herumstolziert. Alle hatten gesund und wohlernährt ausgesehen, und einige waren ihm sogar maunzend um die Beine gestrichen. Aber sämtliche Tiere trugen auf der Schädeldecke den eigelbgroßen flachen Hügel aus Zement – oder was immer es war – mit einem oder zwei Steckerschlitzen.

Durch diese Schlitze schoben Forscher Minielektroden ins Katzenhirn. Sie reizten bestimmte Areale mit elektrischen Impulsen, sodass die Tiere einen epileptischen Anfall erlitten. Auf diese Weise testeten die Wissenschaftler, ob und wie gut Antiepileptika wirkten – Medikamente gegen die Fallsucht.

Er hatte damals gleich gewusst, dass er den Kater befreien musste. Er hatte vorgegeben, begriffen zu haben, wie unersetzlich die Tierversuche seien und das in einem Artikel zum Ausdruck bringen zu wollen. Für »Recherchen« war er mehrfach in dem Labor aufgetaucht. Er hatte sich die Tastenkombination des Zahlenschlosses gemerkt, das den Katzenraum öffnete. Drei Wochen später hatte er sich unter dem Vorwand, Durchfall zu haben, von seinem Wächter entfernt, den Raum geöffnet, den Kater gepackt, mit Äther betäubt, in eine Reisetasche gesteckt und aus dem Institut getragen, seine blutenden Kratzwunden sorgfältig verbergend.

Die Laborleitung wusste wahrscheinlich, wer der Dieb war; man hatte aber nichts unternommen. Schlichtkohl nahm an, dass man Aufsehen scheute.

Pischti gab weiterhin Dutzende von Küsschen, wenn er auf einem erhöhten Ansitz hockte; aber er ließ sich auch nach zwei Jahren noch nicht anfassen. Die Haube aus weichem Leder, die ihm Schlichtkohl genäht hatte und die von Klettband auf dem Stecker festgehalten wurde, trug er allerdings klaglos.

In der Küche fand der Professor Sammi endlich. Eifrig schleckte sie ihren selbstgemachten Joghurt. Ihr ganzer Körper verriet die Konzentration, mit der sie zu Werke ging. Er schien im Moment der ersten Zungenberührung mit der Dickmilch mitten in der Bewegung eingefroren und war wie eine Sehne gespannt. Sogar der Schwanz stand starr waagerecht in die Luft, halbhoch mit einer Kurve im letzten Drittel – eine trinkende Bronzestatue.

Auf einmal machte Sammi eine Pause. Sie setzte nur ein oder zwei Schlabberschlucke lang aus, aber schon war die »Bremse« gelockert, die Schwanz und Körper hydraulisch arretiert hatte. Der Schwanz sank, seine Linkskurve öffnete sich. Doch da ging das Schlabbern weiter, und wieder setzten Standbild-Starre und Stock-Steife ein. Zwei Zentimeter über dem Boden kam der Schwanz zum Stillstand. Sammi war wieder zu einem Standbild mit wieselflinker Zunge geworden.

 

Kein Wunder, dachte der Professor. Er hatte seine Mieze oft genug beobachtet und erkannt, dass sie beim Trinken drei- bis viermal pro Sekunde das Mäulchen öffnete, die Zunge herausschnellen ließ, sie krumm wie eine Schöpfkelle in die Milch tauchte, zurückzog, an den Lippen, am Gaumen oder wo auch immer abstreifte und wieder ausfuhr. Das Dreiecksmaul arbeitete so rasch, als stritte sie sich lautlos auf sizilianisch. Da sie auch häufig schluckte, war Trinken eine überaus beeindruckende Koordinationsleistung, die ohne ein Höchstmaß an Konzentration undenkbar war.

Vor ein paar Monaten hatte die Katze damit begonnen, an ihrem Milchschälchen nur zu nippen und den Rest so lange unberührt zu lassen, bis er zu einer Art Joghurt geworden war. Schlichtkohl war überzeugt, dass Absicht dahinter steckte. Auf jeden Fall war das Prinzesschen sehr erbost gewesen, als er zu Anfang – damals hatte er die feline Fermentation noch nicht als gezielte Aktion durchschaut – die Näpfe mit dem vermeintlich ungewollten Überrest weggenommen und ausgespült hatte.

»Schmeckt’s?«, fragte er. Keine Antwort. Beim Essen sprach man nicht, bedeutete das wohl. Also wartete der Professor, bis seine Katze ihr Mahl beendet hatte und ihren Kopf schüttelte, dass er wie ein Flugzeugpropeller zu einem Schemen verschwamm und winzige Dickmilchtropfen in alle Himmelsrichtungen davonstoben. »Hat’s geschmeckt?« wiederholte er seine Frage. Sammi schaute auf und sagte stimmlos und mehr gehaucht als gesprochen, aber mit großer Bestimmtheit: »Ja–a!!!«

Ein Schwall von Zuneigung und Liebe durchströmte Schlichtkohl. Er bückte sich und streichelte ihr zärtlich über Kopf und Rücken, den sie ihm prompt entgegenwölbte.

Das »Ja–a!!!« war eine Variation von Sammi Monopol–Laut »A!!!« und wurde von der Katze meist zur Bestätigung eingesetzt. Er glaubte nicht, dass es auf dem Erdball noch eine Katze gab, die »Ja–a!!!« oder »A!!!« sagen konnte. Auf jeden Fall war ihm auf keiner seiner Reisen und auf keiner Katzenshow dieses offene, gehauchte, beinahe wegwerfende, meist stimmlose A, das Sammi mit Verve vortrug – ja, beinahe ein wenig ausspie – je zu Ohren gekommen.

Bei aller Einmaligkeit war das »A!!!« ein Mehrzwecklaut. Sammi sagte »A!!!«, wenn man sie weckte – hier bedeutete es so etwas wie »Huch!« – und wenn sie zu ihm kam, um Zärtlichkeit zu tanken. Dann war es wohl ein freundliches »Sei mir gegrüßt!« oder »Na endlich bist du wieder da!« »A!!!« war auch angesagt, wenn er ihren Brekkies-Napf vor dem Schlafengehen noch einmal unter ihren kritischen Augen auffüllte – für den kleinen Hunger in der Nacht. Hier war es ein Laut der Zufriedenheit und bedeutete etwa »Na also!«

Je nach Bedeutung war die Aussprache des »A!!!« ganz verschieden. Es konnte staunend, erschreckt, heiter, abwehrend, dankbar, interessiert, ja sogar neutral klingen. Und tadelnd: Wenn er Sammi beispielsweise von ihrer Lieblingsdecke hob, obwohl sie gerade so bequem auf ihr ruhte, war das »A!!!« ein sanfter Protestlaut. Dann bedeutete es wohl »Hee! Was soll das?«

Am liebsten hörte Schlichtkohl die einzige stimmhafte Version des »A!!!« – ein zärtliches, piepsig-helles Stück Katzenbabysprache, das Sammi nur in Momenten großer Zuneigung und heißen Katzenglücks benutzte.

Der Professor füllte die beiden Katzennäpfe nach den Vorlieben der Stubentiger. Sammi fraß neben Thunfisch, den sie sehr liebte, und einer Reihe von Leckerbissen nur exquisites Futter aus kostspieligen kleinen Dosen mit französischer Aufschrift. Sie rührte allein »Mousse« an – eine luftig-lockere Breizubereitung, die der Hersteller »Pastete« nannte. Alle Sorten, die Bröckchen enthielten, verschmähte sie; denn sie leckte ihr Essen auf und ließ alles liegen, was die Zunge nicht ins Maul befördern konnte.

Die Zähne benutzte sie nur in Ausnahmefällen – wenn es warmes Hühnerfleisch, den Fettrand von gekochtem Schinken oder geräucherte Makrele gab. Dann aber brach das Raubtier durch, und Sammi packte und schüttelte die »Beute« wie eine Wildkatze einen frisch gefangenen Vogel.

Aber sie war sehr pflegeleicht. Der Professor musste nur daran denken, »Mousse« und Katzenkuchen vorrätig zu halten – und ihre Mahlzeiten – mit Ausnahme der ersten Portion aus einer neu geöffneten Dose – mit etwas Sonnenblumenöl anzurühren. Darauf bestand Sammi, die ansonsten sehr bescheiden war und pro Portion selten mehr Pastete vertilgte als zwei gehäufte Teelöffel.

Dabei war sie keineswegs dünn. Schlichtkohl führte Sammis Zurückhaltung am Futternapf und ihre Rundlichkeit auf einen überproportionalen Katzenkuchen–Verzehr zurück oder auf ihre altersbedingte Bequemlichkeit. Immerhin war seine Süße schon 14. Wenn er daran dachte, dass sie das zur Hundertjährigen machte, wenn man wie bei Hunden ein Tierjahr sieben Menschenjahren gleichsetzte, fühlte er Wellen panischer Verlustangst, aber auch Hochachtung und Bewunderung. Denn man sah Sammi ihr Alter nicht an. Sie hätte auch fünf sein können. Gab es bei den Menschen Greisinnen, mit einem Jahrhundert auf dem Buckel, die wie fünfunddreißig wirkten?

Pischti war genauso wählerisch wie Sammi, obwohl er kein Feinschmecker war: Er bestand auf der Billigmarke Topic von Aldi, die man ihm möglicherweise im Labor gegeben hatte. Welche Leckerbissen der Kater mochte, wusste der Gelehrte nicht: Utnapischtim schlang sein Futter hastig herunter, wenn er sich alleine glaubte – und verzog sich wieder unters Bett.

Schlichtkohl hatte ihm mehrfach etwas Räucherlachs oder ein Stückchen Hühnerschenkel an sein Versteck gebracht. Das verschreckte Tier hatte zwar einen langen Hals gemacht und interessiert geschnuppert, aber nichts angerührt. Pischtis Misstrauen war unendlich.

Der junge Kater – er war zwischen drei und vier Jahren alt – fraß wie ein Scheunendrescher, war aber mager wie ein äthiopischer Marathonläufer. Der Professor vermutete, dass Sport ihn so schlank erhielt. Pischti war ein Sprinter und Meisterspringer. Er ging nur selten im Schritt durch die Wohnung, sondern rannte meist mit Höchstgeschwindigkeit, und er konnte mit einem Satz aus dem Stand vom Boden auf die Oberkante einer Wohnzimmertür springen.

Der Altorientalist nahm an, dass der Kater vor allem dann »trainierte«, wenn er die Wohnung verlassen hatte. Wahrscheinlich flog er dann wie ein Vogel von der Tür zur Gardinenstange, zum Bücherregal und zurück! Nur gut, dass die Schädelwunde ihn nicht zu behindern schien!

Schlichtkohl füllte die Wasserschälchen und die Brekkies-Näpfe seiner beiden Haustiere auf, fischte Urinknollen aus beiden Toiletten und schaute auf die Küchenuhr: Es war 6.27 Uhr. Es reichte vollkommen, wenn er um kurz vor elf im Institut am Allendeplatz war, überlegte er. Das bedeutete, dass er spätestens um halb elf in der U-Bahn sitzen musste – was wiederum hieß: kurz nach neun Uhr aufstehen.

Er ging ins Bad und blickte in den Spiegel. Ein nettes offenes Gesicht schaute ihn an. Die gerade Nase und die Ohren waren stattlich dimensioniert, aber seiner Größe durchaus angemessen. Die meerblauen Augen blickten freundlich und klug, und obwohl der ein wenig spöttisch geschwungene Mund seine Winkel pessimistisch nach unten bog, sorgten die schönen Lippen, die Lachgrübchen auf beiden Wangen zusammen mit dem wohlgeformten Kinn für einen angenehmen Gesamteindruck. Der Mann sah liebenswürdig aus, kultiviert, sensibel und scharfsinnig. Ein Hauch jungenhafter Schüchternheit sorgte dafür, dass das Gesicht nicht zu gescheit wirkte.