Vom Geist Europas

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Von dem, was damals — ab origine, in illo tempore, en arché — sich gewaltig begab, fällt noch Lichtglanz und Weihesinn auf die menschliche Geschlechtsliebe, auf die beständigste wie auf die flüchtigste Verbindung von Mann und Frau. Jede Liebesvereinigung auf Erden erscheint sub specie aeternitatis als Nachfolge des hieros gamos der Götter, der Myriaden hochzeitlichen Liebesfeste und Liebesbünde der Unsterblichen, denen sich das All verdankt.

Wie ein orgiastischer Katarakt durchzieht eine unaufhörliche Kette von Liebesgeschichten die gesamte Schöpfung. Eros, einer der allerfrühesten und der schönste der Götter, der selbst ewig unvermählt bleibt, ist immer im Spiel, wo Liebe auf Liebe trifft.

Hölderlin beginnt sein Gedicht „Lebenslauf”:

Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt

All uns nieder

„Amor ist es, der uns zusammendrückt”, notiert sich Novalis, und er wiederholt damit, wie Hölderlin, Vergils Ruf (Bucolica 10, 69):

Omnia vincit Amor: et nos cedamus Amori

Alles besiegt Eros: wir auch weichen Eros.

Hölderlin, Novalis und Vergil haben Hesiod gelesen; Vergil trachtete sogar danach, mit seiner „Aeneis” als römischer Homer und mit dem Lehrgedicht über den Landbau „Georgica” sich als lateinischer Hesiod auszuweisen, so wie mit seinen Hirtengedichten als italischer Theokrit.

Der Poimèn-Poietes, der Hirt-Dichter Hesiod ist auch hier der Erste, der Archäus im paracelsischen Sinn des Wortes: samenreich durch die Jahrtausende fortzeugender, in immer neuen Signaturen und Konfigurationen gestaltenüberquellender Lebensdrang, élan vital abendländischer Dichtung, die das Seiende zur Sprache bringt und im Gewande der Schönheit zu denken gibt. Verglichen mit Hesiod ist Homer, obwohl zeitlich der frühere, ein Spätling. Hesiod kennt und nennt viele Gottheiten, die Homer bloß am Rande erwähnt oder völlig verschweigt. Gemessen an Hesiods göttlichen Hochzeiten, sind die Abenteuer der homerischen Olympier leichtfertige Affären, fast schon operettenhafte Travestien à la Jacques Offenbach. Ich sage dies nicht, um Homer herabzusetzen, dessen „Odyssee” zu meinen liebsten Büchern gehört und die durch nie wieder erreichte Schönheiten entzückt, die man bei Hesiod vergeblich suchen würde. Homer wird hier nur genannt, um die unvergleichliche Besonderheit und Eigenart des boiotischen Theogonikers herauszuheben. Hesiods Werk gibt uns Kunde von Hierophanien, die, wäre es verlorengegangen, die ausschweifendste Einbildungskraft eines Phantasiasten nie und nimmer hätte erfinden können. Eben deshalb darf Hesiod gerade in götterlos dürftiger Zeit erwarten, „daß gepfleget werde der feste Buchstab, und Bestehendes gut gedeutet”.

Gaia, die breitbrüstige, allernährende Mutter Erde, zeugt und gebiert den Uranos, den bestirnten Himmel, auf daß sie, bisher trotz aller Geburten jungfräulich ganz und gar, endlich auch die Beglückungen innigster Zweisamkeit erführe:

Es war, als hätt’ der Himmel

Die Erde still geküßt,

Daß sie im Blüten-Schimmer

Von ihm nun träumen müßt.

Dies ist ein letztes, sublimes, sozusagen in zärtlichstes Pianissimo entrücktes Echo Hesiods: die Erde erzeugt den Sternenhimmel, um durch die nächtliche Umarmung des eigenen Sohnes einmal auf die übliche Weise Mutter zu werden.

Der Inzest ist unvermeidlich. In jener kosmischen Frühzeit sind alle Wesen eng blutsverwandt, Töchter und Söhne einer einzigen Mutter. Was manche als Perversität bestürzen mag, dient geradezu der Normalisierung des Weltprozesses. Der außergewöhnliche Folgen zeitigende Mutter-Sohn-Inzest von Gaia und Uranos bewerkstelligt die Beschleunigung der Evolution, eine offenkundige Bereicherung und Multiplikation des Kosmos. Die hierogamische Blutschande, die eine unerhörte Maßlosigkeit zu sein scheint, wirkt als Akt der Berichtigung und Neuordnung des Lebens. Darüber hinaus steigert er dessen Fruchtbarkeit, Fülle und Vielgestalt. Der Inzest fungiert bei Hesiod als Initiative der normalen Sexualität. Geschlechtliche Fortpflanzung, Elternzeugung und schlußendlich sogar Ehe, Familie und Sippentum werden durch blutschänderischen Frevel angeregt, veranlaßt und eingeführt.

Hesiod gibt damit zu verstehen, daß am Anfang so vieler Dinge und Einrichtungen, die uns ehrwürdig und teuer sind, etwas Ungeheuerliches steht. Die Untat als Urheberin guter, lebensnotwendiger oder lebendienlicher Schöpfungen und Werke — ob Kult, Seßhaftigkeit, Städtebau, Staat, Recht, Friedensordnung, Verfassung: läßt sich nicht allemal zu Beginn ein Umsturz, Mord oder sonst ein Tabubruch ausmachen, oft nur in mythischen Bildern überliefert? Der Brudermord bei der Gründung Roms, die Kriegszüge Alexanders als Grundlegung eurasischer Ökumene, die Exzesse der Revolutionen als Feuerzauber der Neuzeit … Eine alte rumänische Ballade, die wahrscheinlich thrakischen, möglicherweise sogar vorindoeuropäischen Ursprungs ist, besingt das Werk des Baumeisters Manole (Emanuel, „Gott mit uns”). Im Traum empfängt er die Offenbarung, daß das von ihm entworfene Haus nur dann dauern könne, wenn ein lebender Mensch in dessen Gemäuer für immer eingeschlossen werde. Dies geschieht denn auch am nächsten Morgen. Der geopferte Mensch als Grund-, Eck- oder Schlußstein dessen, was Bestand haben soll … Man kann diese Legende als sadistische Phantasmagorie kannibalisch-unaufgeklärter Weltalter abtun, um den Preis, daß ihr anzüglicher Sinn verborgen bleibt. Spricht sie nicht mit schauervoller Deutlichkeit unumwunden aus, was Hesiod wußte, was alle ursprünglichen Überlieferungen mehr oder weniger kryptisch bekunden: Kein Gebilde, keine Stiftung, kein Bauwerk hat Dauer, wenn es nicht dem Ungeheuren und Schrecklichen benachbart, wenn es keine Geburt aus tödlich scheinendem Dunkel ist.

Ich behaupte nichts, ich frage nur ahnungsvoll, belehrt durch Hesiod, den Dichter des kosmogonischen Inzests.

Gaia, die Erdfrau, paart sich mit ihrem Himmelssohn Uranos. Hesiod erinnert damit an uralte Mythen, die schon zu seinen Lebzeiten verblaßt und kaum noch verstehbar waren. Er hält fest, daß einst im gesamten östlichen Mittelmeerraum wie in Kleinasien, Ägypten und Mesopotamien Kulte verbreitet waren, in deren Mitte eine Muttergöttin stand, die zu ihrem Geliebten meist ihren eigenen Sohn oder auch Bruder auserkoren hatte. Die Namen des Paares wechseln, aber alle folgen ein und demselben Urbild: Innana und Dumuzi, Ischtar und Tammuz, Anat und Baal, Aschera und El, Astarte und Adonis, Kybele und Attis, Isis und Osiris, Rheia und Kronos … Sogar bei Dante klingt noch abgewandelt etwas davon an, wie überhaupt im katholischen Marienkult, wenngleich, wie sich von selbst versteht, in spiritualisierter, mystisch-allegorischer Form:

Vergine madre, figlia del tuo figlio

Umile ed alta più che creatura

Termine fisso d’eterno consiglio,

Tu sei colei che l’umana natura

Nobilitasti si, che il suo fattore

Non disdegnò di farsi sua fattura.

In der Übersetzung von Stefan George:

Jungfrau und Mutter! Tochter deines sohnes!

Voll demut und voll würde wie kein wesen

Nach vorbestimmtem rat des ewigen Thrones.

Du machtest unsre menschheit so erlesen

Und edel, dass der schöpfer selbst geruhte

Geschöpf zu werden dessen du genesen.

Hesiod erinnert an Zeiten, in denen Mutter-Sohn-Inzucht und Geschwisterehen offenbar nicht grundsätzlich für anrüchig, sondern als heiliges Vorrecht erlesener Ausnahmemenschen erachtet wurden, als imitatio divina der heiligen Hochzeiten, die Gaia und ihr Sohn Uranos feierten.

Durch das hierogamische Beilager von Erde und Himmel entsteht recht eigentlich der Kosmos, wie ihn sich so gut wie alle archaischen Völkerschaften vorstellen: der von den Sternensphären umkreiste, von Regen, Donner und Blitzen befruchtete Boden, der uns trägt, nährt und im Tode wieder aufnimmt. Der biblische Gottvaterfluch, daß Adam zur Erde wiederkehren werde, wie er von ihr genommen sei, lautet in von Hesiod inspirierter matriarchalischer Auslegung schlicht und einfach: Der Mutter bist du ausgeboren, also wirst du zurückfinden zur Mutter … Himmel und Erde, einander herzend, bilden gleichsam das Haus der Welt, den vom Sternengewölbe überzelteten Schollengrund aller Lebewesen, die von oben beleuchtete Weltenhöhle, aus der wir eigentlich gar nicht fallen können, weder im Leben noch im Tode.

Nun aber gibt es kein Innehalten mehr, der Weltprozeß wird erst jetzt völlig entfesselt. Dem heiligen Inzest von Gaia und Uranos entsproßt als erster Titan Okeanos, der von Pontos, dem gewöhnlichen Meer, zu unterscheidende Weltozean, den sich die Alten als die Erde ringförmig umkreisenden Strom vorstellten. Dann gebiert die uranisch befruchtete Erdgöttin die übrigen der insgesamt zwölf Titanen, deren jüngster Kronos ist, „dieses schreckliche Kind”. Hierauf folgen drei hundertarmige Riesen und die ebenfalls gewaltigen Kyklopen, welche später dem Zeus als Schmiede dienen werden.

Uranos wird bange angesichts dieser kraftstrotzenden Brut. Eifersüchtig versteckt er sie tief im Schoß der Erde. Er befördert sie somit auf unvorstellbare Weise zurück in den Leib seiner Mutter und Gattin Gaia. Er mißgönnt ihnen das Licht und zwingt die Mutter der Riesenkinder, auf die Freuden weiterer Geburten und heranwachsender Nachkommenschaft zu verzichten. Damit löst er eine Familientragödie aus, die alle Ehedramen der Welt, von Sophokles’ „Oidipus” über Strindbergs „Der Vater” bis zu Karl Schönherrs „Der Weibsteufel” und Eugene O’Neills „Trauer muß Elektra tragen”, durch ihre kosmogonische Dimension in den Schatten stellt.

 

Die unter der Last der gewaltsam in ihrem Schoß zurückgehaltenen Kinder stöhnende Gaia schmiedet grollerfüllt eine gewaltige Sichel. So wie sie sich zuerst mit ihrem Sohn Uranos verbunden hatte, so verbündet sich die Enttäuschte nun gegen ihn mit dessen eigenen Kindern. Sie fordert Rache für die ihr von Uranos angetane Schande. Die gekränkte Gaia schmiedet nicht nur die Sichel, sondern einen Verschwörerbund. Aber alle faßt Entsetzen, als sie vernehmen, was die in ihrer Würde beleidigte Mutter ihren Kindern ansinnt. Einzig der jüngste der Titanen, „der listenmächtige” Kronos, erkühnt sich, den Frevel des Vaters durch einen anderen zu sühnen:

Mutter, so will denn ich dir dies versprechen und möchte

Gern das Werk vollenden, denn unser verrufener Vater

Kümmert mich wenig, zuerst hat er ja übel gehandelt.

Und dann geschieht etwas Ungeheuerliches, das sich allenfalls mit dem apokalyptischen Krieg zwischen Michael und den abgefallenen Engeln vergleichen läßt. Die Eichendorffsche Mondnachtidylle, wo der Himmel die Erde leise küßt, endet unversehens in einer von der Mutter eingefädelten, vom jüngsten Sohn vollstreckten Bluthochzeit mit äonischen Auswirkungen:

An kam mit der Nacht der gewaltige Uranos, sehnend

Schlang er sich voller Liebe um Gaia und dehnte sich endlos

Weit. Da streckte der Sohn aus seinem Verstecke die linke

Hand und griff mit der rechten die ungeheuerlich große,

Schneidende, zahnige Sichel und mähte dem eigenen Vater

Eilig ab die Scham und warf im Fluge sie nieder

Hinter sich

Der Muttersohn Kronos tötet den Himmelvater Uranos nicht, aber er entmannt ihn. Angestiftet von der Erdmutter, beraubt er ihn des Gemachtes während des nächtlichen Liebesspiels. Aber bei Hesiod mindert nicht einmal eine mutterrächerische, männlichkeitsmordende Meintat die All-Fruchtbarkeit.

Das von Kronos amputierte Geschlechtsglied des Himmelvaters fällt durch die Sphären zur Erde herab. Das ihm entquellende Blut des verstümmelten Uranos sickert in Gaias Schoß. Darauf enstehen schließlich die drei Erinnyen, das waffenschimmernde Riesenvolk der Giganten und, als lieblicheres Gegengewicht zu soviel Entsetzen, die ersten Nymphen, die sogenannten Meliaden, weil sie vorzugsweise in einer Esche (griechisch melia) wohnen. Spätere Zeiten, die den Nymphen und Feen abhold waren, machten dann aus der Esche den Baum, in dem die Hexen hausen, ausgelassene Sabbate abhalten und aus dessen Holz die Stiele der Besen anfertigen, auf denen sie rittlings zum Blocksberg entfahren.

Von der Esche stammen aber sowohl nach Hesiod als auch nach germanischem und iranischem Mythos die Menschen ab. Genauer wäre zu sagen, daß nach Hesiod das Menschengeschlecht des ehernen Zeitalters eschengeboren sei, während der spätantike Enzyklopädist Hesychios von Alexandrien alle Sterblichen diesem Baum entsprungen sein läßt.

Uralt ist ja der Glaube, daß Bäume und Menschen verwandt, daß Blut und Harz im Grunde ein einziger Saft seien. Völker sind Menschenwälder, Wälder sind Baumvölker. Der kosmische Baum, an dem das Schicksal der Welt hängt, ist die dem Odin heilige Esche Yggdrasill. Esche ist aber im Griechischen ein Synonym für Lanze oder Speer. Aus dem Holz, aus dem sie selber zu sein wähnten, fertigten die alten Griechen wie Germanen ihre Waffen an. Bei Homer (Ilias II, 542 ff.) heißt es deshalb:

Rasch ihm folgte sein Volk mit rückwärtsfliegendem Haupthaar,

Schwinger des Speers und begierig, mit ausgestreckter Esche

Krachend des Panzers Erz an feindlicher Brust zu durch-

schmettern.

Die lebenschenkende und holden Nymphen gesellte Esche wird durch männliches Handwerk zum Todesholz. Bäume wie Krieger werden gefällt, sind im Tode: Gefallene. Noch zur Ritterzeit umpflanzten deshalb Fürsten, Grafen und Vögte gerne ihre Burgen mit Eschen. Daran erinnern auch die in deutschen Landen so häufigen Ortsnamen Esch, Eschbach, Eschau, Eschdorf, Eschelbach, Eschelbronn, Eschenau, Eschenberg, Eschenbruch, Eschenhausen, Eschenlohe, Eschenrode, Eschwege, Eschweiler und manche ähnliche. Der ritterliche Dichter des „Parzival”, Meister Wolfram, nannte sich selbst immer „von Eschenbach”. Die vielen Speere, die in den Turnieren, Tjosten und Schlachten des Gralsepos geschwungen und zerbrochen werden, sind ebenso aus Eschenholz wie die Kampfstangen der Helden Homers und der Schaft der Lanze, mit dem der römische Soldat in die Seite des tot am Kreuze hängenden Nazareners stieß.

Wegen des lieblichen Geschmacks des Saftes insbesondere der Mannaesche, den die Zikaden wie Nektar schätzen, galt die Esche den Griechen nicht nur als gewachsenes Nymphäum, Lebensbaum und Waffenholzlieferin, sondern geradezu als „Süßholz”. Die griechischen Namen für Esche (melia) und Honig (meli) sind fast gleichlautend. Die Meliaden sind also honigspendende Manna-Mädchen. In dieser Eigenschaft erinnern die Eschennymphen ans Goldene Zeitalter, das von so manchem Volk mit dem Honigseim zusammengebracht wird. Die ursprünglichste, naturgegebene Speise der Götter, angemessen dem von ihnen genossenen wesenhaften Glück, ist nicht die Ambrosia, sondern der Honig, der wunderbar von selbst aus Blumenblüten und Baumkronen herabtaut. Pasi theois meli, „Allen Göttern Honig”, lautet die Inschrift eines Tontäfelchens aus Knossos, das schon etwa achthundert Jahre alt war, als Hesiod seine „Theogonie” schuf.

Sogar der seines Zeugungsgliedes beraubte Uranos ist noch erstaunlich fruchtbar, bringt durch das grausam vergossene Blut Erinnyen, Giganten und Eschennymphen hervor. Schließlich purzelt der vom Himmel auf die Erde herabgefallene Phallos bergabwärts ins Meer. Hier aber geschieht das Wunder aller Wunder, wandelt sich Entsetzen urplötzlich in Entzücken, abscheuliche Entmannung in anmutsvollste Weibwerdung:

Aber sobald dann die Scham mit der stählernen Sichel geschnitten

Und sie vom Lande gekollert hinab in das brausende Weltmeer,

Trieb sie lange dahin durch flutende Wellen; da hob sich

Weißlicher Schaum aus unsterblichem Fleisch, es wuchs eine Jungfrau

In ihm empor, sie nahte der heiligen Insel Kythere

Erst, doch gelangte sie dann zum ringsumflossenen Kypros.

Trat ans Land die Göttin, die hehre, herrlich und Blüten

Sproßten unter den Schritten der Füße, und Götter und Menschen

Nennen sie nun Aphrodite …

Schaumgeborene Göttin und Kythereia im Kranzschmuck,

Kyprosentstandene auch, weil entstiegen der Küste von Zypern

Und auch Schamerfreute, weil aus der Scham sie entsprungen.

Eros geleitete sie, und der herrliche Himeros (Liebessehnsucht) folgte,

Als die soeben Geborne zur Sippe der Götter emporstieg.

Dieses Ehrenamt und Anteil ward ihr von Anfang,

Unter den Menschen sowohl wie unter den ewigen Göttern:

Jungfräuliches Gekose und frohes Lachen und Arglist,

Süßes Ergötzen und Wonne und Liebe und schmeichelnde Milde.

Dies ist die Geburt der Aphrodite, die Theophanie der „Schaumgeborenen”, denn aphros heißt im Griechischen Schaum. Aus bluttriefendem phallischen Fleisch wird Meeresschaum, und aus schaumgekrönter Woge auftaucht wollustatmend Anadyomene, die Ingestalt lockenden Weibtums, Götter wie Menschen erfreuende Frau Wonne, die die Römer mit Venus in eins setzten, so wie ihre Begleiter Eros und Himeros mit Amor und Cupido.

Eine andere, eine archaischere, gewaltigere Antike führt uns Hesiod vor Augen als die bereits vom Hellenismus, vollends von Ovid gemilderte, ins Spielerische übersetzte Olympierwelt; eine andere Aphrodite als die uns durch die Bilder Botticellis, Tizians, Giorgiones, Raffaels, Tiepolos, Renis, Velasquez’, Poussins und Ingres’ vertraute Schönheitskönigin; eine kosmische Gottheit, die in Anmut und Liebreiz verjüngt übersetzte Gaia, nicht aber das manchmal ein wenig gschamig fröstelnde, manchmal etwas jungmädchenhaft kokette, manchmal sexbombengleich laszive Mannequin, das uns die letzten fünfhundert Jahre abendländischer Malerei so oft beschert haben. Hesiods dem Meer entstiegene Aphrodite heißt auch Urania, „die Himmlische”, nicht weil sie die Patronin unsinnlich vergeistigter, gar frömmelnd jenseitszugewandter Liebe ist, sondern weil sie dem abgeschlagenen Penis des Himmelvaters Uranos entstammt.

Was spätere Dichter Aphrodite-Venus an Reizendem, Lüsternem und Possenhaftem ausschmückend unterstellt und beigefügt haben, kann sich ein findiger Kopf ausdenken, heiße er nun Honoré d’Urfé, Sir Philip Sidney, Claude Crébillon, Christoph Martin Wieland, Jacques Offenbach oder auch Carl Spitteler. Das aber, was Hesiod schildert, ist im strengsten Sinne des Wortes unerfindlich und eben deshalb unergründlich, unausschöpfbarund unvergeßlich. Eine Szene wie die der Geburt der Aphrodite läßt sich nicht ersinnen. Sie muß in unvordenklicher Frühe — en arché, in principio, in origine — eräugt worden sein. Hesiod hat sie entweder selbst „gesehen” oder bezeugt, was lange vor ihm einem anderen visionär offenbart wurde. Nur ein einziger neuerer Dichter, der halbvergessen ist, hat einmal, ohne Hesiod zu nennen, sich der Theogonie genähert; ich meine Wilhelm Heinse:

„Und die Liebe ward geboren, der süße Genuß der Naturen füreinander, der schönste, älteste und jüngste der Götter, von Uranien, der glänzenden Jungfrau, deren Zaubergürtel das Weltall in tobendem Entzücken zusammenhält. Und alle lebendigen Geschöpfe erhaschten in diesem Getümmel ihren Anfang; und vermehren sich nach alter Art immer wieder aus einem kleinen neuen Chaos.”

Dies ist hesiodeisch gedacht, wenngleich mit etwas andern Worten ausgedrückt. Bei Hesiod ist Eros, im Unterschied zu Heinse, nicht der leibliche Sohn der Aphrodite Urania, sondern nur ihr gleichsam an Kindes Statt angenommener Begleiter. Er ist ursprünglicher als die Mutter der Wonne, nicht Uranide, sondern gleichzeitig mit Gaia und Tartaros aus dem „Chaos” hervorgegangen, der erste Lichtstrahl, der wahre „Luzifer” und „Phosphoros”, Lichtbringer und Lichtträger in dunkler Welt, nicht selbst zeugend, sondern Prinzip jeglicher Zeugung, in jeder Umarmung gegenwärtig, fruchtbringender Beschwinger und Bezwinger der Leiber und Seelen.

Und nun Aphrodites Geburt, ein wahrer Sonnenaufgang nach dem schaurigen Gemetzel in grauser Nacht, von Hesiod besungen mit Worten, die später Sappho von Lesbos aufgreifen, fortspinnen und weitersingen wird. Hesiod stiftet Stichwort, Losung und Tonhöhe. Durch die Jahrhunderte hallt der von ihm angestimmte Gesang, fruchtbar wie die in ihm sich aussagende Genesis. Ein Geschlecht sagt es dem andern, ein Dichter vermittelt Lobpreis und Kunde der Götter dem folgenden. Strophe wechselt mit Antistrophe, Chor mit Chor in psalmodierendem Jubel, so daß ein einziges konzertantes Oratorium die Antike durchbraust, symphonisch geordnet: Gesänge, Gebete und Gesichte in eins, Hymnen, Dithyramben und Enkomien der Lyriker und Tragiker, der Rhapsoden und Kitharöden, der Liturgen und Symposiarchen, der Choreuten und Musageten, antiphonischer Lobpreis der seligen Unsterblichen, jeder Antwort und Echo Hesiods, Wechselgesang mit dem Archäus, der im Anfang anstimmend Leitwort und Parole gab.

Aphrodites Epiphanie ist kein Ende, sondern neuer Anfang, ekstatische Erneuerung des Ursprungs, Aufbruch zu neuen Zeugungen, Allbefruchtung und Panspermie. Die goldene Kette der Geschlechter wird weiter und weiter in immer neuen Zyklen, in denen auch Götterweltkriege nur gewittrige Zwischenspiele und vorübergehende Zuckungen sind: Aufbruch und Taumel kosmogonischer Orgien, in denen kein Glied nicht trunken ist, Exzesse der Verschwendung und Preisgabe, liebender Krieg, kriegerische Liebe, bacchantische Protuberanzen eines bleibend chaosgebärerischen Weltalls, das nicht fertig und zu Ende ist, sondern in immerwährender Geburt erzittert. Kampf und Katastrophe erweisen sich wie Liebe und Hervorbringung als Ausdruck ein und desselben Weltgesetzes, des Götter wie Menschen bergenden Kosmos, den weder ein Gott noch ein Mensch gemacht hat, der eine einzige allumfassende Genesis ist, welcher sich sämtliche Wesen verdanken.

 

Hesiod ist ganz und gar Genealoge, der einen Götter-Gotha erstellt, mit heiliger Pedanterie und feierlichem Lobpreis die Verwandtschaft aller Elemente und Wesen rhythmisch entrollend in einem wahrhaften Carmen saeculare. Ob im Himmel, auf Erden oder in der Unterwelt, ob zu Lande, zu Wasser oder in den Lüften, in allem Lebendigen pulst gleiches Blut. Und es gibt für Hesiod nur Lebendiges. Was Tod, Vernichtung und Untergang zu sein scheint, ist bloß Gestaltwandel, Bezähmung und Neuordnung. Die Kleinfamilie ist nichts als ein kümmerlicher Rest. Einander befehdende Völker sind göttlichentsprungene Geschwister, oft Nachkommen morganatischer Mischungen aus frühen Zeiten, da sich noch Unsterbliche sterblichen Frauen, Kronidentöchter sterblichen Jünglingen gesellten. Unsere Verwandtschaft ist größer als wir wähnen. Der Alltag verbirgt uns die Goldfolie der wahren Ahnentafel. In uns allen strömt königliches Blut, bei dem einen mehr, bei dem andern weniger. Wir alle sind Kinder, Enkel und Abkömmlinge, Kognaten, Angeheiratete und Affiliierte einer matriarchalen Dynastie. Jeder einzelne ist ein blühender Zweig vom Mutterstamm, jede Kleinfamilie bloß eine Filiale des Mutterhauses, des unter dem Namen Gaia firmierenden Großunternehmens für Götterproduktion.

Hesiods rhapsodische Genealogie entproletarisiert auch noch den Geringsten von uns, sogar das Kind kleiner Leute ist göttlich versippt. Hesiod aristokratisiert den Menschen, indem er ihn nicht als Erzeugnis eines Töpfers eräugt, sondern als fortzeugende Zeugung einer Mutter, als Ausgeburt und Anverwandten der Gynaikokratin Gaia. Wir müssen nur in die Frühe zurückblicken, um zu gewahren, wie sehr wir verwandt sind. Das ist Hesiods Frohbotschaft.

Den Modernen mögen seine Genealogien und Stammbäume überflüssig weitläufig und ermüdend müßig vorkommen, doch für Hellas stifteten sie ein Gemeinschaftsbewußtsein, wie es Staat und Politik nicht zuwege brachten, sondern nur der begeisterte Dichter.

Wer Hesiod einmal zu lesen begonnen hat, wird von dessen kosmogonischen Ahnentafelbildern sowenig gelangweilt sein wie ein Ikonenliebhaber von der hieratischen Monotonie der im Grunde nur ein einziges Urbild, immer neu abwandelnd, wiedergebenden Kultgemälde. Hesiods Götternamen sind wie kostbar gefaßte Edelsteine in den Text eingesetzt; das verbindet ihn mit sonst so unterschiedlichen Meistern wie dem Georgier Schota Rustaweli und dem Toskaner Dante Alighieri, die ebenfalls immer wieder perlen- und juwelengleiche Metaphern, Antithesen und Wortfiguren aneinanderreihen. Wie Zettel und Einschlag bilden genealogisch-etymologischer Prunk und epische Erzählung das Gewebe des Göttergedichts.

Aphrodite ist beileibe kein Ende, sondern nur Auftakt, Vorspiel und Übergang zu neuen hierodulischen Zeugungen und Geburten. Welch ein Gewimmel von Paarungen, von Göttersöhnen und Göttertöchtern, haarsträubend und schamlos nicht erst für christliche, gar puritanische Geister, sondern schon in der Antike, wenige Jahrhunderte nach Hesiod, nicht mehr recht verstanden, als Pornographie im Gewande der Theologie und pansexualistische Obszönität verunglimpft.

So schon von Heraklit und Xenophanes, die doch wahrlich noch ursprungnahe Denker waren. Bereits ein halbes Jahrtausend vor Christus, kaum zwei Säkula nach Hesiod empfanden einzelne Geister es unerträglich, den Göttern Geilheit, Gattung und Geburt „anzudichten”, was man nun sittenstreng richterlich dem Sänger vorwarf. Man wollte Götter ohne Unterleib, überhaupt leiblose Götter, denaturierte und depotenzierte Götter, sterile und spirituelle Götter, die ganz rein, nicht aber nackt sein sollten. Götter ohne Geschlecht, intelligible Persëitäten und ontologische Hypostasen, nicht aber generative, sich überschäumend fortpflanzende und hoheitlich zügellos über alle Satzungen bürgerlicher Wohlanständigkeit hinwegsetzende Götter.

Hingegen Hesiods überschwängliche Freude am Getümmel theogonischen Werdens! Kaum ist Aphrodite dem Schaum entstiegen, da gebiert die Nacht, die früher schon den Tag und den Äther geboren hat, im Gegenzug eine ganze Brut dunkler Gestalten: Schicksal (Moros), Finsteres Ende (Ker), Tadelsucht (Momos) und Tod (Thanatos), Drangsal (Oizys) und Vergeltung (Nemesis), aber auch Schlaf (Hypnos) und Traum (Morpheus). Obwohl mit Erebos vermählt, bringt sie parthenogenetisch des weiteren hervor die Hesperiden („Abendtöchter”), Moiren („Lebensfadenspinnerinnen”) und weitere Wesen, die sich ihrerseits fortpflanzen: Apate („Trug”), Geras („Alter”), Philotes („Liebeslust”) und Eris („Streit”). Jeder Name emblematisches Bild, heraldische Ikone, zu langbedächtiger Betrachtung stimmendes Mandala!

Nachdem Uranos entmannt ist, gibt sich Mutter Erde ihrem anderen Sohn hin, dem Meergott Pontos. Dieser inzestuösen Verbindung entspringen weitere Kinder, darunter Thaumas (das gestaltgewordene Staunen oder Wunderbare) und der später von Poseidon etwas in den Schatten gestellte weitere Seegott Nereus, von dem es heißt, daß er untrüglich wahrspreche, und der wohl deshalb auf verborgenen Umwegen in den christlichen Heiligenkalender gelangt ist …

Mit Nereus, dessen Mutter zugleich seine Großmutter ist, wird plötzlich alles wieder heiter, sobald er sich mit der Okeanide Doris vermählt. Welch ein Bild: die fünfzig lieblichen Töchter, Nereiden oder Doriden genannt, jede mit Namen begabt! Eine Ernte holdester Ausgeburten, väterlicher- wie mütterlicherseits meerentsprungen, eine Scheune voller Mädchen, in kristallenen Wogen sich ergötzend, letzend und scherzend. Mittelmeerisches Glück, jede Welle sich in einem bezaubernden Antlitz inkarnierend, Wasser gestalthaft geballt, gauklerisch zerfließend und erneut mutwillig spielerisch sich verkörpernd in immer aufs neue entzückenden jungfräulichen Metamorphosen!

Schmeichelndes, trübeloses, schmelzendes Glitzern und Flitzen, Locken und Kosen, Dichter, Leser und Seefahrer berückend, schon Hesiod dazu verführend, daß er einundfünfzig Namen nennt, obwohl er ausdrücklich von nur fünfzig Meernymphen spricht …

Welches Schwelgen in Namen, Taufe der wassergeborenen Kinder, heiligsprechende Schaumschlägerei, überbordende Hagiasmen … Hesiod ward gegeben ein Mund, evokatorisch lobpreisend große wie zarte Dinge und Wesen zu nennen … Welch arioses Rezitativ, diese Perlenkette sinnhaltig wohlklingender Namen: Ploto, „die Schimmernde”; Eukrante, „die Wohlgeführte”; Amphitrite, „die Rauschende”; Eudore, „Schöngeschenk”; Galene, „Windstille”; Glauke, „die Blauglänzende”; Speio, „die Grottige”; Kymothoë, „die Wogenschnelle”; Halia, „Salzflut”; Eulimene, „die vom guten Hafen”; Agaue, „die Hehre”; Erato, „Sehnsuchterweckerin”; Eunike, „Schönsiegerin”; Pasitheia, „Allgöttliche”; Dynamene, „mächtig Andrängende”; Pherusa, „Bringende”; Nesaia, „Inselwohnerin”; Aktaia, „Küstenwohnerin”; Panope, „Allblickende”; Galateia, „Milchantlitz”; Hippothoë, „Stutengeschwinde”; Kymodoke, „Wellenauffangende”; Kymatolege, „Wellenbesänftigerin”; Eione, „Strandmädchen”; Glaukomene, „Blausinnige”; Pontoporeia, „Meerdurchlässige”; Polynoë, „Vielsinnige”; Lysianassa, „Lösende”; Euarne, „Schönquellende”; Menippe, „übermütiges Füllen”; Eupompe, „Wohlbegleiterin”; Pronoë, „Vorsorgliche” …

Welche Fülle der Namen, jeder eine Facette des Meeres in all seinen Anblicken, Stimmungen und Leistungen! Jeder Name der Melusinenlitanei Beschwörung und Entzücken, Muschelmusik und Mannesrausch, nicht erst den gelehrten Antiquar bezaubernd, sondern von jeher griechischen Ohren liturgischer Wohlklang, apostrophischer Schmuck und Arznei halb hypnotisierender, halb aufreizender Harmonien. Goethes „Klassische Walpurgisnacht” im zweiten Teil des „Faust”, Claude Debussys von Mallarmé inspiriertes Orchesterwerk „L’après-midi d’un Faune” und noch Saint-John Perses „Amers” sind Widerhall der maritimen Apotheose Hesiods, der nichts götterleer sich vorstellen, nichts Gottverlassenes schauen kann, wohin immer er blickt. Von Azimut zu Azimut, vom Nadir zum Zenit, ist alles göttervoll, erfüllt von Göttergeburten, von göttlichen Scharen bevölkert, verwaltet und verherrlicht.