Vom Geist Europas

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Der Rheinfranke Joseph Görres (1776–1848), ein „vielbewegter und vieles bewegender“ Kopf, als junger Mann begeisterter deutscher Jakobiner, delegiert nach Paris (1799/1800) zur Vorbereitung der Übergabe der linksrheinischen Gebiete an Frankreich, Herausgeber des später verbotenen „Roten Blattes“, erlebt sein Damaskus, als er im Nachbarland den Ausbruch der Despotie feststellen muss. „Görres ist wohl der einzige deutsche Denker, der am Modell der Französischen Revolution zu einer Analyse revolutionärer Prozesse überhaupt vorgestoßen ist, die sich mit den Werken Edmund Burkes, Alexis de Tocquevilles und Georges Sorels vergleichen läßt.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2) Ernüchtert und scharfsinnig beginnt er, der vorläufig mit der Kirche gebrochen hatte, über die Wiedergeburt des deutschen Volkes zu spekulieren. Er entwickelt eine eigene Philosophie, Ideen hinsichtlich des Lebens, des Organismus, der Geschlechtlichkeit und Zeugung wie auch der Geburt. Neuplatonische, paracelsische und theosophische Elemente bilden ein eigenwilliges Ganzes. Görres lehrt in Heidelberg, später in München, gibt den „Rheinischen Merkur“ (für Napoleon die „fünfte feindliche Großmacht“) heraus. Er schart Männer wie Joseph von Eichendorff (1788–1857), Anton Friedrich Thibaut (1772–1840), Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1778–1842) um sich und gründet die Keimzelle der jüngeren Romantik. Klar erkennt er den Verfall des Christentums. Seine Ansicht, dass auf Katholizismus und Protestantismus eine Art „drittes Christentum“, eine ecclesia spiritualis auf der Grundlage eines naturmystischen Lebensgefühls folgt, ist eine hochgemute und hoffnungsvolle Vision. Dieser wortgewaltige Feuergeist wird zum nationalen Sprachrohr der Deutschen gegen die Napoleonische Herrschaft und muss schließlich ins Straßburger Exil flüchten, wo 1821 die hochbedeutsame Schrift „Europa und die Revolution“ erscheint. 1824 kehrt er mit seiner Familie zurück zum Katholizismus und wird dessen glühender Verteidiger. Schließlich verfasst er 1837 im Kölner Kirchenstreit die Kampfschrift „Athanasius“. Seine lebenslangen mythologischen Studien finden ihren Niederschlag in dem Riesenwerk „Die christliche Mystik“, welches beinahe auf den Index verbannt worden wäre. Kaltenbrunner bescheinigt Joseph Görres, „ein Mensch mit doppelter Natur“ zu sein, der die Dämonie in der Geschichte, das finstere Reich des Abgrundes, klar erkennt. In gewisser Weise fühlt er sich ihm geistesverwandt, wie folgende Worte bezeugen:

„Görres war eine in hohem Grade rezeptive Natur. Es hat kaum eine geistige Bewegung vor ihm, keine gleichzeitige gegeben, die er nicht auf sich hätte wirken lassen. Er, der nie an einer Universität studiert hatte, war selber eine ganze Universität. Begabt mit einem nichts auslassenden Gedächtnis, hat er sich zu allem, sei es Politik, Philosophie, Mythologie, Medizin, Geschichte, Literatur, Orientalistik und Kirche, einen eigenen persönlich geprägten Reim gemacht. …

Görres wirkte nicht als Fachmann, sondern als Entdecker, Anreger, Liebhaber. Er lebte und dachte gewissermaßen essayistisch. Er war und blieb auf geniale Weise Autodidakt und Dilettant.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2)

Franz von Baader (1765–1841) pflegte eine Katholizität, die wenig mit der römischen Kirche gemeinsam hatte und vielfach antipapistische Kritik einschloss. Er, der ein enger Freund von Johann Michael Sailer war, empfand sich als „Böhme redivivus“. Leopold Ziegler schreibt in dem Vorwort zu seinem zweibändigen Werk „Menschwerdung“, dass Baader gläubiger Katholik, treu anhänglich den kirchlichen Lehrbegriffen, und zugleich der berufenste Adept Böhmes war, tief eingeweiht in echte Alchemie und echte Mystik. Baader überschritt bedenkenlos konfessionelle Grenzen. Seine ökumenischen Bestrebungen umfassten auch die Orthodoxie. Im Geiste religiöser Weltverantwortung verstand er sich als Vermittler zwischen Ost und West. Hineingestellt fühlte er sich in eine Urtradition, die bereits im Paradies beginnt. Kaltenbrunner resümiert: „Die vorsokratische, mittelalterliche und frühneuzeitliche Elementenlehre ist für Baader ebenso wenig abgetan wie die hebräische Esoterik mit ihren Aufschlüssen über die Chochma (Sophia), die Sephirot und den Adam Kadmon, dessen Androgynität nicht Hermaphroditentum bedeutet, sondern ganzheitlich heile, geheiligt aufgehobene, keineswegs aber vernichtete oder verworfene Geschlechtlichkeit.“ („Franz von Baader. Erotische Philosophie“) Eine sehr differenzierte und facettenreiche Darstellung des Lebens und Wirkens dieses der theozentrischen Heiligung der Natur, der Esoterik der Erde und der Ökosophie verpflichteten Denkers bietet sein Bewunderer. Nicht zuletzt ortet er bei Baader jene Geisteshaltung, die gegen die Weisheitsvergessenheit, den intellektuellen Sündenfall des ursprünglich mit der göttlichen Sophia versehenen Menschen ankämpft. So sieht er eine mystisch-theosophische Sukzession, einen spirituellen Strom abseits der Amtskirche. Begeistert berichtete Kaltenbrunner von der Begegnung mit den Baader´schen Schriften um 1960 in München. „Ich habe mich damals durch intensive Lektüre in einem solchen Ausmaß in seine Welt hineinversetzt, daß ich eine Zeitlang ganz in ihr lebte, auch die alltäglichsten Dinge und Begebenheiten mit seinen Augen, im Widerschein seiner Erleuchtungen wahrnahm“.

1988 erhielt Gerd-Klaus Kaltenbrunner den „Wolfgang Amadeus Mozart-Preis für Kulturelle Publizistik“ der Goethe-Stiftung Basel. Er, der sich mit zunehmendem Alter immer häufiger die Frage nach der Berechtigung seiner Texte stellte und gesprächsweise betonte, dass ein Autor für jedes Wort, welches er veröffentlicht, verantwortlich sei, wurde vor allem auch hinsichtlich seiner facettenreichen Darstellungen immer kritischer. Es war ihm bewusst, dass er selbst in offenkundigen Einseitigkeiten, ja in Irrtümern, verborgene Wahrheitskeime entdeckt hatte. Ein historischer Gerechtigkeitssinn veranlasste ihn zu ausgewogenen, oft auch unorthodoxen Urteilen. Stets betonte er, dass nur derjenige, welcher der Dahingeschiedenen gedenkt, seine eigene Geschichte gewinne. Der Text zur Preisverleihung würdigt seine Haltung: „Gegen alle modisch vergänglichen Denkweisen bekennt er sich in seinen Werken zu einem Traditionalismus, der das Verhältnis der Bewahrung und Wandel als einen schöpferischen, dialektischen Prozess versteht. Hoffnung für Gegenwart und Zukunft einer Welt, der die Selbstzerstörung droht, setzt er in einen Fortschritt, der sich auf dem Grunde gültiger Überlieferung entfaltet.“

Dem heimlichen Europa des Geistes sind drei Gestalten verpflichtet, deren konservative Wahrheiten zeitübergreifend wirken.

Der Ire Edmund Burke (1729–1797) verfasst 1790, also zu einer Zeit, in der die Französische Revolution von fast allen tonangebenden Europäern frenetisch begrüßt wurde, seine „Reflections“ („Betrachtungen über die Französische Revolution“). Dieses Buch gilt auch heute noch als Bibel der Konservativen. Hellsichtig arbeitet der Autor die immer wiederkehrenden Grundzüge extremer Umwälzungen heraus. Er prognostiziert illusionslos eine blutige Schreckensherrschaft, Chaos, Terror und die entfesselte Liberalisierung, die in gnadenlose Tyrannei umschlägt. Das Grundmuster aller späteren Revolutionen ist bei ihm vorgezeichnet: die „philosophische Revolution“, die allen politischen Systemveränderungen vorausgeht, und die „akademische Windstille“, die künftige Grausamkeiten legitimiert. Seine Grundsätze konservativer Staatsklugheit sind auch heute noch unvermindert aktuell. Kaltenbrunner zitiert jenen Brief, den Burke an ein Mitglied der Pariser Nationalversammlung schrieb. Es heißt dort: „But what is liberty without wisdom, and without virtue? – Die Menschen eignen sich zur bürgerlichen Freiheit in genauem Verhältnis zu ihrem Willen, ihrem eigenen Appetit moralische Fesseln anzulegen; im Verhältnis, wie sie lieber auf den Rat der Urteilsfähigen und Rechtschaffenen als auf die Schmeicheleien von Lumpen hören; im Verhältnis, wie ihre Liebe zur Gerechtigkeit ihre Habsucht übertrifft. … Es liegt im ewigen Lauf der Dinge beschlossen, dass Menschen von ungezügeltem Charakter nicht frei sein können.“ (zitiert nach „Vom Geist Europas“, Bd. 2)

Der italienische Soziologe und Rechtsintellektuelle Vilfredo Pareto (1848–1923) wird primär mit seinem Hauptwerk „Trattato di sociologia generale“ („Allgemeine Soziologie“) gewürdigt. Es umfasst vier Bände mit insgesamt 2612 Paragraphen und legt Paretos gesamte Theorie dar (I. Band: Handlungstheorie; II. Band: Theorie der Residuen, der emotionalen Grundlage menschlichen Verhaltens; III. Band: Theorie der Derivationen, der pseudo-logischen Erklärungen des auf den Residuen basierenden Verhaltens; IV. Band: Fragen der Gesellschaftsform, des gesellschaftlichen Gleichgewichtes und der Eliten). Kaltenbrunner betont die Eigenart der Klassentheorie Paretos: „Vorauszuschicken ist, daß der italienische Soziologe den Begriff Elite völlig wertfrei, ohne moralische Nebentöne, definiert. Elite besagt bloß, daß sowohl in der Gesamtgesellschaft als auch in jedem ihrer Untersysteme einige wenige eine Macht über ihresgleichen besitzen, die in keiner Proportion zu ihrer Zahl … steht. Eine Minorität fällt Entscheidungen, die alle betreffen. An dieser Tatsache könne eine parlamentarische Demokratie ebenso wenig ändern wie ein Sozialismus mit noch so menschlichem Antlitz. Es verwundert nicht, daß eine solche Lehre … wenig beliebt ist.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 1) Der Uomo universale aus Kandern nennt Pareto einen „gnadenlosen Analytiker“, den man ruchlos des Zynismus, Amoralismus, Elitismus und vor allem Faschismus bezichtigte. Sein Werk sei ein unausschöpfbares Arsenal menschlicher Selbsterkenntnis.

Othmar Spann (1878–1950) begründete einen Universalismus (universalistisch-idealistische Gesellschaftslehre), der sich gegen Rationalismus, Liberalismus, Materialismus und Marxismus richtete, und forderte eine Neuordnung von Staat und Gesellschaft auf berufsständischer Grundlage (Ständestaat). Er war Polaritätsdenker. Sein Begriff „Gezweiung“ kennzeichnet die alles Leben durchdringende Polarität. Ferner gilt er als Begründer der Ganzheitsphilosophie. Kaltenbrunner beklagt, dass Othmar Spann von liberalen Flachköpfen und sozialistischen Schreihälsen als Faschist betrachtet werde. Er gibt der Hoffnung Ausdruck, dieser untypische Vertreter der österreichischen Intelligenz im 20. Jahrhundert „könnte … jene metaphysische Glut wieder anfachen, die wohl in jedem Menschen steckt, doch unter der Asche alltäglicher Selbstverständlichkeiten, angelernter Vorurteile und konventionellen Geredes nur zu oft zu verlöschen droht.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 1)

 

Mit eiserner Disziplin hat Kaltenbrunner persönlich in seinem verschwiegenen Haus im Ölmättle in Kandern jenes bescheidene, zurückgezogene und naturnahe Leben geführt, welches ihm gewissermaßen als Sandkorn im größenwahnsinnig arbeitenden Getriebe der globalen Ökokatastrophe erschien. Immer wieder verweist er daher auch auf faszinierende Denker wie zum Beispiel Emil M. Cioran (1911–1995). Wenngleich er dessen nihilistisches Gedankengut keineswegs teilt, so bestätigt er ihm, ein furioser Kritiker des Fortschrittsglaubens zu sein. Lange bevor das Gerede vom Untergang der Erde en vogue war, geißelte der Rumäne in schmalen Bänden („Lehre vom Zerfall“, „Syllogismen der Bitterkeit“, „Dasein als Versuchung“, „Der Absturz in die Zeit“) den Utopismus seiner Zeitgenossen. Gesprächsweise hat sich Cioran äußerst lobend über Kaltenbrunners essayistisches Werk geäußert.

Europäische Menschen, in denen der abendländische Geist lebendig ist, die über eine seelische Bindung an das Heilige Deutsche Reich verfügen, ortet Kaltenbrunner sensibel in Gestalten wie dem Philosophen und Bibelübersetzer Franz Rosenzweig (1886–1929) und dem ungekrönten König der Münchner Bohème, dem Dichter des George-Kreises Karl Wolfskehl (1869–1948). Letzteren nennt er einen erzdeutschen Juden und erzjüdischen Deutschen. Er zitiert in diesem Zusammenhang Fritz Usinger, der in München als junger Student dem faszinierenden, weit älteren Poeten begegnete und nach dessen Tod im australischen Exil schrieb: „Ich finde es unendlich traurig, daß man dieses herrlichen Mannes in Deutschland so gar nicht gedenkt. Da liegt so ein Mann, der Deutschland über alles geliebt hat, in einem einsamen Grab am anderen Ende der Welt. Welche Liebesqualen muß er ausgestanden haben und mit welchem Gefühl der völligen Verlassenheit muß er gestorben sein! Er hat das gewaltigste Gedicht der deutschen Emigration geschrieben, den ‚Sang an die Deutschen‘. Aber das ist alles so gut wie nicht da, der Mann sowohl, als auch seine Gedichte.“ (zitiert nach: „Vom Geist Europas“, Bd. 2)

Immer wieder hob man hervor, dass Kaltenbrunners kultivierte Sprachschöpfungen einen Lesegenuss par excellence darstellen. Selbstverständlich wurde auch das Gegenteil behauptet: nerviges Namedropping, eigenwillige Diktion. Wie der Essayist selbst immer wieder bekundete, werden große Geister oft von allen Seiten kritisiert. Die Kunst, Sprache so zu gebrauchen, dass neue Aspekte der Wirklichkeit aufscheinen, wird zweifellos in geistigen Debatten geschult. Denkkraft und daraus resultierende geschliffene Formulierung entwickeln sich im vertrauten Umgang mit Philosophie, Psychologie und Literatur. So blitzt in dem Essay über den hellsichtigen, von faustischem Streben beseelten Naturforscher Emanuel Swedenborg (1688–1772) im Gewand des Absichtslosen, ja drollig Verspielten feinster Humor auf. Der makabren, wenngleich sich ernsthaft gebärdenden, durch den Arzt Franz Joseph Gall begründeten Wissenschaft der Phrenologie (Schädelkunde) fiel letztlich Swedenborgs Haupt zum Opfer, um nach unbeschreiblichen Irrungen und Wirrungen schließlich am 6. März 1978 bei Sotheby’s versteigert zu werden. Die kopfjägerische Sammelleidenschaft persifliert Kaltenbrunner: „Vermögende Liebhaber trachteten nicht nur nach verblichenen prominenten Häuptern, sondern verhandelten vorsorglich auch schon mit lebenden Köpfen, um sich deren postmortalen Besitz zu sichern. Empfindsame Schöngeister wurden zunehmend kopfscheu, da sie nicht einmal in geselligen Kränzchen oder intimen Zusammenkünften damit rechnen konnten, vor der Zudringlichkeit sich wissenschaftlich tarnender Skalpjäger gefeit zu sein. … Ob der hellseherische Schwede, der in so vielen okkulten Dingen bewandert war, auch diese Odyssee seines zum Auktionsobjekt herabgewürdigten Schädels vorausgewußt hat? Wenn er aber, so wie es für ihn bis zuletzt feststand, jetzt erdentrückt bei den Cherubim und Seraphim weilt, mit ihnen Gottgeheimnis und Welträtsel spitzfindig erörternd, dann wird er wohl wegen des Schicksals seines irdischen Schädels nicht den himmlischen Kopf verlieren, sondern dafür nur ein ätherisches Lächeln übrig haben.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2)

Zeit und Ewigkeit, Politik und Metapolitik, Staatsformen und Mystik: All dies war dem gelehrten Publizisten und geistigen Abenteurer Kaltenbrunner Allgegenwart. Er übte sich in einer Art mentaler Fechtkunst, die dann wohl auch eine Vielzahl von Namen elegant mit dem scharfgeschliffenen Florett der Sprache berührte. Einerseits verband er mit Namensnennungen eine Art Hommage gegenüber Lebenden und Verstorbenen, andererseits pflegte er einen gewissen gedanklichen Radius damit zu umschreiben. Immer wieder erstaunen seine lebendigen Synthesen, die Zeiträume und unterschiedliche Gestalten wertend umfassen, aber auch Ambivalenzen von Denkern und deren Lebenswerk berücksichtigen. So schlägt er den Bogen bis zu Schellings Identitätsphilosophie und Alfred North Whiteheads Metaphysik.

Diese streiflichtartigen Überlegungen schließen bewusst mit dem Hinweis auf den kurzen, hochkarätigen Essay über den „Homer der Insekten“ Jean-Henri Fabre (1823–1915), Autor der unerschöpflichen „Souvenirs entomologiques“. Dieser begnadete Naturbeobachter und Entomologe (Kaltenbrunner nennt ihn einen eigenbrötlerischen Kauz und eine Figur à la Spitzweg) erforschte mit akribischer Neugier die instinkthaften Lebensgewohnheiten der Insekten. Vom „dämonischen Liebesleben der männermordenden Mantis“ bis zu den keineswegs immer feinen kulinarischen Genüssen der Marienkäfer reichen seine Forschungen. Man stelle sich diesen vom „Geheimnis des Organischen“ ergriffenen Chronisten der Insektenwelt, den kein Geringerer als Adolf Portmann mit dem visionären Höllenmaler Hieronymus Bosch vergleicht und ihm eine analoge Genialität auf naturwissenschaftlichem Gebiet bescheinigt, leibhaftig vor. Gleicht er in seinem Forscherdrang nicht dem entflammten temperamentvollen Idealisten im Ölmättle zu Kandern?

Mit einem uralten Text von Paracelsus (1493–1541) wollen wir unsere Einführung beschließen. Theophrastus Bombast von Hohenheim, ein beispiellos elementenkundiger Mann, gleicht in seiner ärztlichen Theosophie der fernen und doch unmittelbar geistesverwandten Naturforscherin Hildegard und ihrer theosophisch untermauerten Medizin. Der Begriff der viriditas, der Grünheit, spielt bei der Äbtissin eine zentrale Rolle. Und lichtes, sprossendes Grün fand sich als bestimmende Farbe in Kaltenbrunners Haus, in seinem Umfeld. „Vielleicht grünet, was ietzt hierfür keimet, mit der Zeit.“

Sinngemäß schreibt Hildegard in ihrer Lehre von den Welt-Elementen, dass das ganze Weltgefüge im Dienste des Lichtes stehe. Die Erde als Mitte zwischen den übrigen Elementen sei von diesen in ihrer Mitte gehalten und verbunden, zu ihrer Erhaltung beständig gespeist von Grünkraft (viriditas) und Zeugungskraft (fortitudo).

So schließt sich denn der Kreis. Gärtner kennen das beseligende Gefühl, wenn endlich das Saatkorn, welches der dunklen Erde anvertraut wurde, keimt. Nadelspitz durchstößt das neue Leben die harte Kruste. Es mehren sich die Anzeichen, dass jene Goldkörner, welche kundige Leser im Schrifttum des so früh verstorbenen Wahleremiten aufspüren, keimen und grünen werden. Der blühende Lebensraum, gepaart mit dem geistdurchwehten Flair eines büchergefüllten Hauses, erfüllte die letzten Lebenstage des Zeitdiagnostikers Kaltenbrunner. Auf seinen Nachruhm angesprochen hätte er wohl mit Paracelsus geantwortet:

„Selig werden die Leut sein / zu den selbigen Zeiten / denen der Verstand geoffenbart wird werden: Denn alle Herzen der Menschen / was sie auch hervorgebracht haben / wird offenbar / als stünd’s einem jeglichen an seiner Stirn. Auf die selbige Zeit befehl ich auch das Urteil meiner Schriften / dass nichts verhalten bleibe / wie dann geschehen werde. Denn Gott setzt das Licht offenbar / das ist / ein jeglicher wird sehen / wie es geleuchtet hat.“ („Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus“)

Magdalena S. Gmehling

Apollinischer Norden
Die Indoeuropäer: mehr als ein Phantom

sah an den Nord und legte Runen.

Herder

Polarlicht kann uns mit dem Geist verbinden.

Theodor Däubler

In Deutschland erlitt die Indogermanen-Forschung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen schweren Rückschlag. Nach dem Mißbrauch, den der Nationalsozialismus mit sprachwissenschaftlichen und frühgeschichtlichen Theorien getrieben hatte, galt es beinahe als anrüchig, sich mit der Eigenart und Herkunft der Indogermanen zu befassen oder auch nur von „Ariern” zu sprechen. Dabei sind, wie bekannt, beide Ausdrücke (die manchmal fälschlich gleichgesetzt wurden) ursprünglich rein linguistischen Ursprungs und viel älter als die Rassendoktrin Hitlers (die ihrerseits einige prominente nichtdeutsche Wurzeln hat, wie die Namen Arthur Gobineau, Houston Stewart Chamberlain und Ludwig Gumplowicz beweisen). Namhafte Gelehrte fast jeder europäischen Nation, neben Deutschen vor allem auch Engländer und Franzosen, haben die Indogermanistik begründet und aufgebaut. An ihrem Ursprung steht eine triftige Hypothese: die vielfältigen Übereinstimmungen in Grammatik und Wortschatz zwischen geographisch so entfernten Sprachen wie dem Isländischen, Deutschen, Griechischen, Iranischen, Armenischen und dem Sanskrit in Indien lassen sich plausibel nur durch die Annahme einer gemeinsamen Wurzel erklären. Daran schließt sich die naheliegende Frage, ob dieser ursprünglichen Sprachgemeinschaft auch ein „Urvolk” zugrundeliegt, das sich erst später verzweigt habe.

Die politisch-ideologischen Belastungen im Zusammenhang mit dem „Dritten Reich” haben auch mit dazu beigetragen, daß man heute — insbesondere im außerdeutschen Sprachraum — im allgemeinen nicht mehr von „Indogermanen”, sondern von „Indoeuropäern” spricht. Zu den Großmeistern einer solchen Indoeuropäer-Forschung, die sich souverän über zeitgeschichtliche Tabus und akademische Fachgrenzen hinwegsetzt, gehört der Franzose Georges Dumézil, der am 11. Oktober 1986, fast neunzigjährig, in Paris gestorben ist. Schon zu Lebzeiten ein Monument historischer, religionswissenschaftlicher und philologischer Gelehrsamkeit, zählt Dumézil neben dem Rumänen Mircea Eliade und dem Österreicher Othmar Spann zu den ganz großen Universalisten unseres Jahrhunderts. Sein umfassendes Lebenswerk hat dieser Kulturwissenschaftler, der dreißig indoeuropäische Sprachen beherrschte, der vergleichenden Untersuchung der Religion, Kultur und Gesellschaftsform der Indoeuropäer gewidmet.

In Deutschland ist Dumézil leider noch immer fast unbekannt. Es fehlen hier auch brauchbare Übersetzungen seiner Hauptwerke. Soviel ich weiß, sind auf deutsch bislang nur drei seiner Bücher erschienen: „Loki” (Darmstadt 1959), „Aspekte der Kriegerfunktion bei den Indogermanen” (Darmstadt 1964) und „Mythos und Epos. Die Ideologie der drei Funktionen in den Epen der indoeuropäischen Völker” (Frankfurt a. M. 1989); außerdem die eher belletristischen oder „ludi-magistralen” Kleinarbeiten in dem Bändchen der Bibliothek Suhrkamp: „Der schwarze Mönch in Varennes und Divertissement über die letzten Worte des Sokrates” (Frankfurt a. M. 1989). Umso mehr ist es zu begrüßen, daß der junge, aber sehr rührige Karolinger-Verlag in Wien 1986 ein Taschenbuch „Die Indoeuropäer” herausgebracht hat. Sein Verfasser, Jean Haudry, ist ein Schüler des Nestors der französischen Indoeuropäer-Forschung und sein Nachfolger an der angesehenen École Pratique des Hautes Études zu Paris. Die Originalausgabe, deren Manuskript Dumézil durchgelesen hatte, erschien 1981 im bedeutendsten akademischen Verlag Frankreichs, bei den „Presses Universitaires de France”.

Haudrys Band ist ein Abriß oder Kompendium. Präzis gegliedert, auf ideologischen Ballast verzichtend, aber auch die Verlockungen popularisierender Effekthascherei umgehend, stellt er eine Einführung in den gegenwärtigen Stand, in die Probleme, Methoden und Ergebnisse einer Wissenschaft dar, die in den letzten Jahrzehnten einen geradezu abenteuerlichen Aufschwung genommen hat. Dieser Aufschwung ergibt sich nicht zuletzt aus der Zusammenarbeit von Sprachwissenschaftlern, Archäologen, Religionshistorikern, Anthropologen und Experten anderer Disziplinen. Ihrer synoptischen Fähigkeit ist es gelungen, viele einst umstrittene Fragen einer Klärung näherzubringen. Die Resultate erscheinen umso aufregender, wenn man bedenkt, daß man von den Indoeuropäern nicht in der Art berichten kann wie über die alten Griechen, Römer oder Ägypter. Wir verfügen ja über keine historischen Augenzeugenberichte oder Monumente, die uns unmittelbar über ein Volk dieses Namens unterrichten. Schon die bloße Bezeichnung „Indogermanen” ist ein Kunstwort, das erst 1823 von H. J. Klaproth geprägt wurde. Ausgangspunkt ist einzig und allein die erstmals von William Jones im Jahre 1780 erkannte Verwandtschaft der meisten europäischen und mehrerer asiatischer Sprachen, zu denen, wie wir inzwischen wissen, neben dem Sanskrit auch das Hethitische gehört.

 

Schritt für Schritt vorgehend, gelingt es dem auf den Spuren Georges Dumézils wandelnden französischen Forscher, uns eine eigenartige Welt zu erschließen, deren Spuren unter jahrtausendelangen Überlagerungen überlebt haben. Ein bestimmtes geistiges Grundmuster archetypischer Art, das sich immer wieder Geltung verschafft, durchwaltet einen Erdkreis, der von Skandinavien über Litauen und Lettland bis nach Persien und Ceylon reicht. Es ist dies das Schema der Dreigliederung, das wie ein Wasserzeichen beinahe sämtliche Hervorbringungen der indoeuropäischen Völker prägt. Handle es sich nun um die Spitze des Pantheons bei den Griechen, Römern, Kelten, Germanen und Indern, um die Schichtung des gesellschaftlichen Körpers, um das Bild des Kosmos oder die Bevorzugung symbolträchtiger Farben — immer wieder begegnen wir Triaden und „dreifunktionalen Strukturen”: der göttlichen Dreiheit von Zeus, Hera und Athene, der Dreiteilung der Stände in Priester (Weise), Krieger (Wächter) und Landleute (Züchter), der Trias von Weiß, Rot und Schwarz, um bloß diese Beispiele zu nennen. Jean Haudry schließt nicht aus, daß das zentrale christliche Dogma von der Trinität, der Dreieinigkeit Gottes, das Juden und Muslimen so befremdlich ist, sich einer indoeuropäischen „Umfunktionierung” des unerbittlichen semitischen Monotheismus verdanke. Doch auch derjenige, der diese Vermutung für allzu spekulativ hält, wird die Abschnitte über Weltsicht, Königtum, Gemeinschaftsbildung, Institutionen und Ethos der Indoeuropäer mit Gewinn lesen.

Was das Herkunfts- oder Entwicklungsgebiet (mißverständlich oft „Urheimat” genannt) des indoeuropäischen Volkes betrifft, so erinnert Haudry daran, daß viele Indizien auf den Norden weisen. Jedenfalls kommen Gebiete mit warmem Klima schon deshalb nicht in Betracht, weil deren eigentümliche Pflanzenwelt im indoeuropäischen Wortschatz völlig ausgespart ist. Der Mythos von den Hyperboreern, dem Volk der „Übernördlichen”, manche Anspielungen auf „lange Nächte” und zehn Monate währende Winterzeiten in iranischen, indischen und anderen Quellen lassen vermuten, daß diese Sprachgemeinschaft nordischzirkumpolaren Ursprungs ist. Was aber bedeutet Nord? Ist es nicht überaus aufschlußreich, daß alle Himmelsrichtungen nach Sonnenständen bezeichnet werden — mit Ausnahme des Nordens? Nord(en) leitet sich ab vom altnordischen „nor”, und dieses Wort bedeutet: „Felsen”. Es gibt so etwas wie eine indoeuropäischen „Nordzug”, Spuren einer kollektiven Erinnerung an eine Heimat in nördlichen Gebirgen. Dort liegt ja auch die Sommerresidenz des Lichtgottes Apollon. Der Eindruck der steinig nackten Felsengegenden, wie sie die Arktis und Subarktis beherrschen, fand auch seinen Niederschlag in zahlreichen kultischen Eigentümlichkeiten. Der Altar der Artemis auf Delos war zum Beispiel völlig aus Ziegenhörnern zusammengesetzt — eine Besonderheit, die man sonst nur bei arktischen Völkern, einschließlich der Lappen, beobachten kann. Insbesondere Apollon und die von den Römern mit Diana gleichgesetzte Artemis stehen in einem Nordbezug, dessen Anfänge bis in jene Urzeiten hinabreichen, da auf Grönland noch Magnolien blühten.

Ähnliche arktisch-polare Spuren finden sich, worauf Werner Müller aufmerksam macht, auch bei einigen Indianerstämmen. So wenden sich zum Beispiel die Schamanen der kalifornischen Pomo bei allen Riten einmal nach Osten, Süden und Westen, aber dreimal gegen Norden, „denn von dort ist alles ausgegangen”. Am Anfang der Indoeuropäer steht möglicherweise ein steinzeitliches Jägervolk, das dem rauhen Dasein in Schneesteppen gewachsen war und in symbiotischer Weise mit seinen Rentierherden zusammenlebte. Seine erste größere Ausbreitung scheint sich hingegen im südöstlichen Teil Rußlands vollzogen zu haben.

Bemerkenswert sind Haudrys Ausführungen über die indoeuropäische Auffassung vom Kriege. Sie entzieht sich völlig dem modernen Entweder-Oder von „Pazifismus” und „Militarismus” (oder „Bellizismus”). Einerseits gilt Krieg als Normalzustand, Friede als kurzfristige Ausnahme. Diese Haltung erinnert an Heraklits Spruch: „Der Kampf ist der Vater aller Dinge”. Krieg wird geführt, um „Lebensraum” zu gewinnen, zwecks Verteidigung des heimatlichen Bodens, um eine Beleidigung zu rächen, einen Aufstand zu unterdrücken, einen Vasallen drastisch an seine Botmäßigkeit zu erinnern, aber auch um „unverwelklichen Ruhm” zu erlangen. Zugleich besteht die Neigung, Kampf, Streit und Fehde rituell zu zügeln, ja als „Spiel” aufzufassen: als eine Art von Match, bei dem die Götter als Schiedsrichter wirken. Der Krieg ist im Idealfall kein wildes Gemetzel, sondern ein heroisches Meeting, in dem unter Einhaltung zähmender Zeremonien zwei Gruppen — bisweilen stellvertretend für ihre Völker auch nur zwei sich duellierende Könige oder Heerführer — ihre Kräfte auf festliche, beinahe liturgische Weise messen. Der Feind soll besiegt, nicht aber vernichtet oder auch nur entwürdigt werden. Flucht ist nicht von vornherein schändlich, wenn der Kämpfer bemerkt, daß die Schlacht eine für ihn ungünstige Wendung nimmt, weil die Götter ihm diesmal nicht wohlwollen. Wir gewahren hier eine archaische Völkerwelt, der zu unserem Erstaunen der Gedanke eines Ausrottungs- oder Vernichtungskrieges völlig fremd ist. Der Feind gilt nicht als Unhold oder Verbrecher, sondern geradezu als Gefährte, Kamerad und Mitspieler in einem athletischen Wettkampf, der nach strengen Regeln geführt wird. Der Krieg wird nicht als Massenschlächterei verstanden, sondern als eine kultische und kultivierungsfähige Auseinandersetzung agonaler Art. Er ist grundsätzlich ein „gehegter Krieg”, in dem keineswegs alle Mittel zur Bezwingung des Gegners erlaubt sind. Unsentimental ritterliche „Feindesliebe” fiel frühgeschichtlichen Männern, die noch nichts von der Bergpredigt gehört hatten, im Ernstfall leichter als einem im „seichten sumpf erlogner brüderei” (Stefan George) von Humanität und Menschenrechten aufdringlich schwätzenden Geschlecht.

Auch zu solchen durchaus aktuellen, wenngleich vom „Geist der Zeit” verpönten und tabuierten Überlegungen kann das dem Umfang noch kleine, von Thematik, Gehalt und Perspektive her jedoch gewichtige Buch des französischen Gelehrten anregen. Die Indoeuropäer sind nicht länger ein „linguistisches Phantom”, sondern eine unverwechselbare Ausprägung oder kulturelle Selbststilisierung und psychosoziale Lebensform der menschlichen Natur. Ihrer Eigenart wird nur gerecht, wer über den Besonderheiten das Allgemeinmenschliche nicht vergißt und über dem Allgemeininenschlichen sich bewußt bleibt, wie mannigfach die Erscheinungsweisen des Humanen in Sprache, Mythos, Kultur und Gesellschaftsaufbau sein können.