Maigret und der faule Dieb

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Z serii: Georges Simenon #57
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Maigret und der faule Dieb
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Der 57. Fall

Georges Simenon

Maigret und der faule Dieb

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Regina Roßbach

Kampa

1

Nicht weit von Maigrets Kopf ertönte ein schrilles Geräusch. Aufgeschreckt und verärgert begann er sich hin und her zu wälzen, streckte einen Arm unter der Bettdecke hervor und schlug durch die Luft. Er wusste, dass er in seinem Bett lag, und auch, dass seine Frau neben ihm war. Sie war schneller wach als er und wartete im Dunkeln, traute sich aber nicht, etwas zu sagen.

Worüber er sich aber täuschte, einige Sekunden lang zumindest, war die Herkunft dieses aufdringlichen und aggressiven Geräuschs. Der Irrtum unterlief ihm immer im Winter, wenn es draußen sehr kalt war.

Er glaubte dann, der Wecker hätte geklingelt, obwohl schon seit seiner Heirat keiner mehr auf seinem Nachttisch stand. Und es war sogar noch länger her, dass ihn das Rasseln eines Weckers so früh aus dem Schlaf gerissen hatte, als er nämlich Ministrant gewesen war und um sechs Uhr in der Morgenmesse ausgeholfen hatte.

Allerdings hatte er das auch im Frühling, im Sommer und im Herbst getan. Warum erinnerte er sich trotzdem immer nur an Dunkelheit, Frost, steife Finger und Winterstiefel, die eine dünne Eisschicht knacken ließen?

Als er sich aufsetzte, stieß er wie so oft ein Glas um, und Madame Maigret machte im gleichen Augenblick die Nachttischlampe an, in dem er nach dem Telefonhörer griff.

»Maigret … Ja …«

Es war zehn nach vier, und wie immer, wenn es besonders kalt war, war es draußen totenstill.

»Hier Fumel, Herr Kommissar …«

»Wie?«

Er konnte ihn schlecht hören. Es klang, als würde der andere durch ein Taschentuch sprechen.

»Hier ist Fumel, vom 16. Arrondissement …«

Der Mann sprach so leise, als hätte er Angst, vom Nebenzimmer aus belauscht zu werden. Da der Kommissar nicht antwortete, fügte er hinzu:

»Aristide …«

Aristide Fumel, natürlich. Maigret war jetzt endlich wach und fragte sich, warum zum Teufel Inspektor Fumel vom 16. Arrondissement ihn um vier Uhr morgens weckte.

Und warum klang seine Stimme so geheimnisvoll und gedämpft?

»Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass ich Sie anrufe … Ich habe sofort meinen Chef benachrichtigt. Er hat gesagt, ich soll die Staatsanwaltschaft anrufen, und dort habe ich den diensthabenden Vertreter erreicht …«

Obwohl Madame Maigret nur die Antworten ihres Mannes hörte, stand sie schon auf, tastete mit den Fußspitzen nach ihren Pantoffeln, zog ihren wattierten Morgenmantel an und ging in die Küche, wo man gleich darauf das Gas zischen und dann Wasser in den Kessel fließen hörte.

»Man weiß ja gar nicht mehr, wie alles ablaufen soll, verstehen Sie? Der von der Staatsanwaltschaft hat mich angewiesen, an den Tatort zurückzugehen und dort auf ihn zu warten. Nicht ich habe die Leiche entdeckt, sondern zwei Beamte auf Fahrradstreife …«

»Wo?«

»Wie?«

»Ich habe gefragt, wo?«

»Im Bois de Boulogne … An der Route des Poteaux … Wissen Sie, wo das ist? Sie geht nicht weit von der Porte Dauphine in die Avenue Fortunée über … Es handelt sich um einen Mann mittleren Alters … In meinem Alter ungefähr … Soweit ich es feststellen konnte, hat er nichts in den Taschen, keine Papiere … Natürlich habe ich die Leiche nicht angerührt … Ich weiß nicht warum, aber das Ganze kommt mir merkwürdig vor, deshalb habe ich Sie lieber angerufen … Aber die von der Staatsanwaltschaft erfahren das besser nicht …«

»Ich danke dir, Fumel.«

»Ich gehe jetzt zurück, manchmal kommen sie früher, als man denkt …«

»Wo bist du?«

»Auf dem Revier an der Fasanerie. Haben Sie vor, zu kommen?«

Maigret zögerte, er lag immer noch in seinem warmen Bett.

»Ja.«

»Wie wollen Sie es erklären?«

»Ich weiß es noch nicht. Mir fällt schon was ein.«

Er fühlte sich gedemütigt, war fast wütend, und das nicht zum ersten Mal in den letzten sechs Monaten. Der gute Fumel konnte nichts dafür.

»Zieh dich warm an. Es ist bitterkalt«, sagte Madame Maigret von der Türschwelle aus.

Er schob den Vorhang beiseite und sah Eisblumen an den Fensterscheiben. Die Gaslaternen hatten diesen besonderen Schimmer, wie man ihn nur bei starker Kälte sieht. Auf dem Boulevard Richard-Lenoir war keine Menschenseele, nicht ein Geräusch war zu hören. Gegenüber brannte nur in einem Fenster Licht, vermutlich war dort jemand krank.

Jetzt zwangen sie einen schon dazu, sich Märchen auszudenken! Sie, das war die Staatsanwaltschaft, die Leute vom Innenministerium, all diese neuen Gesetzgeber, die an den Grandes Écoles studiert und es sich in den Kopf gesetzt hatten, die Welt nach ihren Theorien neu zu organisieren.

Die Polizei war in ihren Augen nur ein kleines Rädchen innerhalb des großen Justizapparats. Man musste ihr misstrauen, sie im Auge behalten, durfte ihr nur eine untergeordnete Rolle zugestehen.

Fumel gehörte noch zur alten Garde, wie Janvier, wie Lucas, wie etwa ein Dutzend anderer Mitarbeiter Maigrets. Alle anderen richteten sich ganz nach den neuen Methoden und Vorschriften und büffelten, um schneller befördert zu werden, pausenlos für irgendwelche Prüfungen.

Armer Fumel, der nie aufgestiegen war, weil er mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß stand und keine anständigen Berichte schreiben konnte.

Man bestand darauf, dass der Staatsanwalt oder einer seiner Vertreter als Erstes benachrichtigt wurde, der vor allen anderen und in Begleitung eines noch nicht ganz wachen Untersuchungsrichters am Tatort erscheinen musste. Diese Herren hielten dann schlaue Reden, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als Leichen zu entdecken, und würden sich mit Kriminellen besser auskennen als irgendwer sonst.

Was die Polizei betraf, für sie blieben allenfalls Hilfsarbeiten übrig.

»Tun Sie dies, tun Sie das … Verhaften Sie den und den, und bringen Sie ihn mir in mein Büro …

Aber stellen Sie ihm keine Fragen! Es muss alles nach Vorschrift laufen …«

Vorschriften gab es unzählige. Das Journal Officiel veröffentlichte so viele verschiedene, teils widersprüchliche Gesetzestexte, dass sie sich selbst nicht mehr darin zurechtfanden. Sie lebten jetzt in der ständigen Angst, etwas falsch zu machen und damit die Einsprüche der Anwälte zu provozieren.

Er zog sich mürrisch an. Warum schmeckte, wenn man so mitten in einer Winternacht geweckt wurde, der Kaffee anders als sonst? Auch der Geruch in der Wohnung war anders, erinnerte ihn an sein Elternhaus, wenn er um halb sechs Uhr morgens aufgestanden war.

»Rufst du im Büro an, dass man dir einen Wagen schickt?«

Nein! Wenn er dort in einem Dienstwagen erschien, würde man ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.

»Bestell mir ein Taxi.«

Man würde ihm die Fahrtkosten nur erstatten, wenn es sich wirklich um einen Mord handelte und er in kürzester Zeit den Täter fand. Nur wenn man Erfolg hatte, wurden einem noch die Taxis bezahlt. Außerdem musste man nachweisen, dass es nicht möglich gewesen war, mit einem anderen Verkehrsmittel an den Tatort zu gelangen.

Seine Frau reichte ihm einen dicken Wollschal.

»Hast du deine Handschuhe?«

Er kramte in den Manteltaschen.

»Willst du nicht eine Kleinigkeit essen?«

Er hatte keinen Hunger. Er schien zu schmollen, und doch waren es im Grunde Momente wie dieser, die er liebte und die ihm nach seiner Pensionierung vielleicht am meisten fehlen würden.

Er ging die Treppe hinunter und fand ein Taxi vor der Tür, aus seinem Auspuffrohr kam weißer Rauch.

»Zum Bois de Boulogne … Kennen Sie die Route des Poteaux?«

»Das wäre ja noch schöner, wenn ich die nicht kennen würde, nach fünfunddreißig Jahren Berufsleben!«

So trösteten sich die Alten nun mal über ihr Altwerden hinweg.

Die Sitze waren eisig. Nur wenige Autos und leere Busse auf dem Rückweg zum Busbahnhof kamen ihnen entgegen. In den Bars brannte nirgendwo Licht. An den Champs-Élysées wurden gerade die Büros geputzt.

»Wieder mal eine Prostituierte ermordet?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht …«

»Bei dem Wetter hätte so eine im Bois auch nicht viele Freier gefunden, würde ich sagen.«

Auch seine Pfeife schmeckte anders als sonst. Er vergrub die Hände in den Taschen und rechnete nach, dass es mindestens drei Monate her war, seit er Fumel zuletzt gesehen hatte. Er kannte ihn seit … ungefähr aus der Zeit seines Dienstantritts, als er in einem Polizeirevier gearbeitet hatte.

Schon damals war Fumel, weil er recht hässlich war, bemitleidet worden. Aber man machte sich auch über ihn lustig, zum einen, weil seine Eltern auf die Idee gekommen waren, ihn Aristide zu nennen, und zum anderen, weil er sich trotz seines Aussehens ständig in irgendwelche Liebesdramen verstrickte.

Fumel hatte geheiratet, aber schon nach einem Jahr hatte sich seine Frau ohne ein Wort aus dem Staub gemacht. Er setzte Himmel und Erde in Bewegung, um sie wiederzufinden. Jahrelang trugen alle Polizisten Frankreichs ihre Personenbeschreibung in der Tasche, und jedes Mal, wenn eine weibliche Leiche aus der Seine gefischt wurde, rannte Fumel ins Leichenschauhaus.

Die Geschichte war zu einer Art Legende geworden.

»Ich könnte wetten, dass ihr etwas zugestoßen ist und dass die Täter mich damit treffen wollten …«

Er hatte ein starres Auge, das heller war als das andere, fast durchsichtig, und das machte es unangenehm, ihn anzusehen.

 

»Ich werde sie immer lieben. Und ich weiß, dass ich sie irgendwann wiederfinde …«

Hoffte er das jetzt, mit einundfünfzig Jahren, noch immer? Es hinderte ihn jedenfalls nicht daran, sich regelmäßig neu zu verlieben. Er blieb jedoch vom Pech verfolgt, denn alle seine Liebesabenteuer führten zu den unwahrscheinlichsten Komplikationen und endeten immer schlecht.

Einmal hatte man ihn sogar – allem Anschein nach zu Recht – wegen einer Prostituierten, die ihn an der Nase herumgeführt hatte, der Zuhälterei angeklagt, und er war nur knapp einer Suspendierung entgangen.

Wie war es möglich, dass er sich in seinem Privatleben so naiv und unbeholfen verhielt und dennoch zu den besten Inspektoren von Paris gehörte?

Nachdem das Taxi an der Porte Dauphine vorbeigefahren und dann rechts in den Bois eingebogen war, sah man schon den Lichtstrahl einer Taschenlampe. Kurz darauf waren am Rand einer Allee Gestalten zu erkennen.

Maigret stieg aus und zahlte die Fahrt. Jemand kam auf ihn zu.

»Sie sind vor denen da«, sagte Fumel, seufzte erleichtert und trippelte, um sich aufzuwärmen, auf dem gefrorenen Boden umher.

Zwei Fahrräder lehnten an einem Baum. Auch die beiden Polizisten traten von einem Fuß auf den anderen. Ein kleiner Herr mit hellgrauem Hut sah ungeduldig auf die Uhr.

»Das ist Doktor Boisrond von der zuständigen Behörde.«

Maigret gab ihm zerstreut die Hand und ging dann auf etwas Dunkles zu, das am Fuß eines Baums lag. Fumel richtete den Strahl seiner Taschenlampe darauf.

»Ich glaube, Herr Kommissar«, erklärte er, »Sie werden verstehen, was ich meine. Ich habe das Gefühl, da stimmt etwas nicht …«

»Wer hat ihn entdeckt?«

»Die beiden Polizisten, sie waren mit den Fahrrädern auf Streife.«

»Wann?«

»Um zwölf nach drei. Sie dachten zuerst, es wäre ein Sack, den jemand da hingeworfen hat.«

Tatsächlich sah der Mann, wie er dort in dem gefrorenen Gras lag, aus wie ein unförmiger Fleck. Er lag nicht lang ausgestreckt, sondern zusammengekauert, fast zusammengerollt, und nur eine Hand ragte heraus, verkrampft, als hätte sie versucht, nach etwas zu greifen.

»Woran ist er gestorben?«, fragte Maigret den Arzt.

»Ich habe mich kaum getraut, ihn anzurühren, bevor die Staatsanwaltschaft kommt. Aber soweit ich es beurteilen kann, hat man ihm mit einem sehr schweren Gegenstand den Schädel eingeschlagen.«

»Den Schädel?«, fragte der Kommissar.

Denn im Licht der Taschenlampe sah er anstelle des Gesichts nur blutiges, geschwollenes Fleisch.

»Ich kann es vor der Autopsie nicht mit Sicherheit sagen, aber ich könnte wetten, dass der Mann die Schläge erst abbekommen hat, als er schon tot war oder zumindest gerade im Sterben lag.«

Und Fumel, der Maigret im Halbdunkel anblickte:

»Verstehen Sie, was ich meine, Chef?«

Der Anzug war von guter Qualität, nicht elegant, aber solide, wie ihn zum Beispiel Beamte oder Rentner tragen.

»Er hat nichts in den Taschen, sagst du?«

»Ich habe sie vorsichtig abgetastet und keinen Gegenstand gefühlt. Und nun sehen Sie mal …«

Fumel leuchtete auf den Boden rings um den Kopf. Es war kein Blutfleck zu sehen.

»Er ist nicht hier ermordet worden. Der Arzt ist der gleichen Meinung, denn bei diesen Verletzungen muss er stark geblutet haben. Man hat ihn also in den Bois gebracht, vermutlich im Auto. Und weil er so zusammengekauert daliegt, muss man sogar annehmen, dass diejenigen, die ihn hergebracht und aus dem Auto gestoßen haben, selbst gar nicht erst ausgestiegen sind.«

Der Bois de Boulogne war ganz still, erstarrt wie die Kulissen eines Theaterstücks, und die in regelmäßigen Abständen aufragenden Laternen zeichneten weiße Lichtkreise in die Finsternis.

»Achtung! Ich glaube, da kommen sie …«

Ein Auto kam von der Porte Dauphine angefahren, ein langer schwarzer Wagen, der offenbar den Weg suchte. Fumel schwang seine Taschenlampe und stürmte zur Autotür.

Maigret rauchte langsam seine Pfeife und hielt sich abseits.

»Hier ist es, Herr Staatsanwalt. Der Polizeikommissar musste noch wegen eines Aufnahmeprotokolls ins Krankenhaus Cochin. Er wird in wenigen Minuten hier sein …«

Maigret hatte den Staatsanwalt erkannt. Es war ein großer, magerer, sehr eleganter Mann in den Dreißigern, der Kernavel hieß. Den Untersuchungsrichter kannte er ebenfalls, auch wenn er bisher selten mit ihm zusammengearbeitet hatte – ein gewisser Cajou, braunhaarig, etwa vierzig Jahre alt und zwischen der neuen und der alten Generation sozusagen in der Mitte. Der Schreiber hielt sich so weit wie möglich von der Leiche entfernt, als fürchtete er, sich von dem Anblick übergeben zu müssen.

»Wer …«, setzte der Staatsanwalt an.

Er bemerkte Maigret und runzelte die Stirn.

»Pardon. Ich habe Sie nicht gleich gesehen. Wie kommt es, dass Sie hier sind?«

Maigret begnügte sich mit einer vagen Geste und der noch vageren Bemerkung:

»Ein Zufall …«

Offensichtlich verärgert richtete sich Kernavel von da an nur noch an Fumel.

»Was ist hier eigentlich los?«

»Eine Fahrradstreife hat vor gut einer Stunde die Leiche entdeckt. Ich habe den Polizeikommissar benachrichtigt, aber der musste wie gesagt aus dringenden dienstlichen Gründen in die Cochin-Klinik und hat mich beauftragt, die Staatsanwaltschaft zu informieren. Gleich darauf habe ich Doktor Boisrond angerufen …«

Der Staatsanwalt hielt nach dem Arzt Ausschau.

»Was haben Sie festgestellt, Doktor?«

»Schädelfraktur, wohl mehrere Brüche.«

»Ein Unfall? Denken Sie nicht, ein Auto könnte ihn überfahren haben?«

»Er ist zuerst mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf und dann ins Gesicht geschlagen worden.«

»Sie sind also sicher, dass es sich um einen Mord handelt?«

Maigret hätte schweigen und sie tun und reden lassen können, was sie wollten. Aber er trat einen Schritt näher.

»Würde man nicht vielleicht Zeit gewinnen, wenn man schon die Spezialisten vom Erkennungsdienst benachrichtigen würde?«

Es war immer noch Fumel, dem der Staatsanwalt Instruktionen gab.

»Lassen Sie einen der Polizisten anrufen.«

Er war blass vor Kälte. Sie alle standen um die Leiche herum und froren.

»Ein Obdachloser?«

»Er ist nicht wie einer angezogen, und bei dem Wetter treiben sich kaum welche im Bois herum.«

»Ausgeraubt?«

»Soweit ich feststellen konnte, hat er nichts in den Taschen.«

»Einer, der auf dem Heimweg überfallen wurde?«

»Es sind keine Blutspuren auf dem Boden. Der Arzt denkt wie ich, dass das Verbrechen nicht hier begangen wurde.«

»Dann handelt es sich wahrscheinlich um eine Art Abrechnung unter Verbrechern.«

Der Staatsanwalt sagte das in so entschiedenem Ton, als bestünde daran kein Zweifel. Man merkte ihm seine Befriedigung an, die richtige Lösung gefunden zu haben.

»Das Verbrechen wird am Montmartre begangen worden sein, und die Schurken sind hergekommen, um die Leiche loszuwerden.«

Er wandte sich an Maigret:

»Ich glaube nicht, Herr Kommissar, dass das ein Fall für Sie ist. Sie haben sicher wichtige laufende Ermittlungen. Wie weit sind Sie mit dem Raubüberfall auf das Postamt im 13. Arrondissement?«

»Ich weiß noch gar nichts.«

»Und die vorherigen Raubüberfälle? Wie viele hatten wir in den letzten vierzehn Tagen in Paris allein?«

»Fünf.«

»Ja, die Zahl habe ich auch im Kopf. Umso überraschter bin ich, dass Sie hier sind und sich mit Kleinigkeiten aufhalten.«

Diese Leier hörte Maigret nicht zum ersten Mal. Die Herren von der Staatsanwaltschaft waren entsetzt über die, wie sie es nannten, Verbrechenswelle, und vor allem über diese spektakulären Raubüberfälle, die sich seit einiger Zeit häuften, wie es in regelmäßigen Abständen vorkommt.

Das bedeutete, dass eine neue Bande sich kürzlich gebildet hatte, eine neue Gang, um das bei den Journalisten beliebte Wort zu gebrauchen.

»Haben Sie noch immer kein Indiz?«

»Nein, keins.«

Das stimmte nicht ganz. Er besaß zwar keine Indizien im engeren Sinn, aber er hatte eine Theorie, die standhielt und die die Tatsachen zu bestätigen schienen. Aber das ging niemanden etwas an, schon gar nicht die Staatsanwaltschaft.

»Hören Sie, Cajou, den Fall übernehmen Sie. Aber wenn Sie mich fragen – sehen Sie zu, dass möglichst wenig darüber an die Öffentlichkeit kommt. Es ist eine banale Geschichte, ein Raubmord unter Gangstern, und wenn sich die Verbrecher jetzt gegenseitig umbringen, ist das für alle nur das Beste, verstehen Sie?«

Er wandte sich wieder an Fumel:

»Sie sind Inspektor im 16.?«

Fumel nickte.

»Wie lange sind Sie schon bei der Polizei?«

»Seit dreißig Jahren. Seit neunundzwanzig genau …«

Und zu Maigret:

»Ist er gut?«

»Ein echter Profi.«

Der Staatsanwalt nahm den Richter beiseite und sprach leise mit ihm. Als die beiden Männer zurückkamen, wirkte Cajou ein wenig verlegen.

»Nun, Herr Kommissar, ich danke Ihnen, dass Sie sich herbemüht haben. Ich werde mit Inspektor Fumel in Verbindung bleiben und ihm meine Instruktionen geben. Wenn ich zu einem gegebenen Zeitpunkt glaube, dass er Unterstützung braucht, werde ich Sie zu mir bitten. Sie haben zu wichtige und zu dringende Aufgaben, als dass ich Sie noch länger hier festhalten möchte.«

Nicht nur von der Kälte war Maigret ganz blass, und er presste so sehr seine Zähne zusammen, dass das Mundstück seiner Pfeife leise knackte.

»Meine Herren …«, sagte er, wie um sich zu verabschieden.

»Haben Sie einen Wagen?«

»Ich nehme mir an der Porte Dauphine ein Taxi.«

Der Staatsanwalt zögerte, war kurz davor Maigret anzubieten, dass er bei ihm mitfahren könne. Doch da hatte sich der Kommissar, nachdem er Fumel noch zugewinkt hatte, bereits entfernt.

Allerdings hätte Maigret ihnen eine halbe Stunde später zweifellos einiges über den Toten sagen können. Er hatte geschwiegen, weil er sich noch nicht sicher gewesen war.

Schon in dem Moment, als er sich über die Leiche gebeugt hatte, war es ihm vorgekommen, als hätte er den Mann schon einmal gesehen. Obwohl das Gesicht vollkommen entstellt war, hätte der Kommissar schwören mögen, dass er es wiedererkannt hatte.

Er benötigte nur noch einen kleinen Beweis, den man finden würde, wenn man den Toten auszog.

Wenn er recht hatte, würde man allerdings auch anhand der Fingerabdrücke zu diesem Ergebnis kommen.

Am Taxistand hielt noch derselbe Wagen, der ihn hergebracht hatte.

»Schon fertig?«

»Zu mir nach Hause, Boulevard Richard-Lenoir.«

»Verstanden. Aber das ist ja wirklich schnell gegangen … Wer ist es?«

An der Place de la République hatte schon ein Bistro geöffnet, und Maigret hätte den Fahrer fast halten lassen, um dort irgendetwas zu trinken, aber aus einer Art Schamgefühl ließ er es sein.

Seine Frau hatte sich zwar wieder schlafen gelegt, hörte ihn aber dennoch die Treppe heraufkommen und machte ihm die Tür auf.

»Du bist schon zurück?«, fragte auch sie verwundert.

Und dann gleich darauf mit besorgter Stimme:

»Was ist passiert?«

»Nichts. Diese Herren brauchen mich nicht.«

Er sprach mit ihr so wenig wie möglich darüber. Es kam selten vor, dass er Angelegenheiten vom Quai des Orfèvres mit nach Hause nahm.

»Hast du noch nichts gegessen?«

»Nein.«

»Ich mache dir dein Frühstück. Nimm doch schnell ein Bad, um dich aufzuwärmen.«

Aber er fror nicht mehr. Auch sein Zorn war einer melancholischen Stimmung gewichen.

Er war nicht der Einzige in seiner Abteilung, der sich entmutigt fühlte. Der Direktor der Kriminalpolizei hatte schon zweimal davon gesprochen, die Kündigung einreichen zu wollen. Eine dritte Gelegenheit für diese Drohung würde er nicht kriegen, denn man suchte schon nach einem Nachfolger.

Umstrukturierung nannten sie das. Gut ausgebildete junge Leute aus den ersten Familien der Republik saßen still in ihren Büros und führten auf der Suche nach mehr Effizienz umfassende Analysen durch. Die Früchte ihres eifrigen Nachdenkens waren prächtige Pläne, die jede Woche in neuen Vorschriften umgesetzt wurden.

Zuallererst sollte die Polizei ein Werkzeug im Dienst der Justiz werden. Ein Werkzeug wohlgemerkt. Und so ein Werkzeug besitzt keinen eigenen Verstand.

 

Die Untersuchung wurde von den imposanten Schreibtischen des Untersuchungsrichters und des Staatsanwalts aus geleitet, von dort aus wurden die Befehle erteilt.

Aber auch für die Ausführung dieser Befehle wollte man nicht mehr die Beamten vom alten Schlag, von denen viele wie Aristide Fumel mit der Rechtschreibung ihre Schwierigkeiten hatten.

Wenn es nun vor allem darum ging, Papier vollzuschreiben – was sollte man dann mit diesen Leuten, die ihren Beruf auf der Straße gelernt hatten, bei der Bahnhofspolizei gewesen waren und Kaufhäuser überwacht hatten, jedes Bistro in ihrem Viertel kannten, jeden kleinen Gauner und jedes Strichmädchen und von denen manche in der Lage waren, mit den Verbrechern in ihrer eigenen Sprache zu diskutieren?

Man brauchte jetzt für alles ein Diplom, musste für jede Karrierestufe eine Prüfung ablegen, und Maigret konnte für seine Ermittlungen nur noch auf die wenigen alten Mitarbeiter aus seiner Truppe zurückgreifen.

Man verdrängte ihn noch nicht ganz. Vielmehr geduldeten sie sich, denn sie wussten ja, dass er sowieso in zwei Jahren pensioniert werden würde.

Dennoch überwachten sie jeden seiner Schritte.

Es war noch nicht hell draußen, und während er frühstückte, gingen in dem Haus gegenüber nacheinander die Lichter an. Durch diesen Telefonanruf war er früher dran als sonst und fühlte sich ein wenig benommen, so wie man sich fühlt, wenn man nicht genug geschlafen hat.

»Fumel, ist das nicht der, der schielt?«

»Ja.«

»Der, dem die Frau durchgebrannt ist?«

»Ja.«

»Hat man sie nie wiedergefunden?«

»Sie soll in Südamerika verheiratet sein und einen Haufen Kinder haben.«

»Weiß er das?«

»Wozu?«

Er kam auch früher als sonst ins Büro, und obwohl es endlich Tag geworden war, musste er seine Lampe mit dem grünen Schirm anmachen.

»Verbinden Sie mich bitte mit dem Revier an der Fasanerie.«

Er hatte kein Recht dazu. Aber er wollte jetzt nicht sentimental werden.

»Hallo? Ist Inspektor Fumel da? Wie? Er schreibt seinen Bericht?«

Andauernd Papierkram, Formulare, verlorene Zeit.

»Bist du es, Fumel?«

Wieder sprach Fumel mit gedämpfter Stimme, als telefonierte er heimlich.

»Ist der Erkennungsdienst fertig?«

»Ja. Sie sind vor einer Stunde gefahren.«

»War der Gerichtsmediziner am Tatort?«

»Ja. Der neue.«

Denn sie hatten auch einen neuen Gerichtsmediziner. Der alte Doktor Paul, der noch mit sechsundsiebzig Jahren Autopsien vorgenommen hatte, war gestorben und durch einen gewissen Lamalle ersetzt worden.

»Was sagt er?«

»Das Gleiche wie sein Kollege. Der Mann ist nicht dort getötet worden. Es besteht kein Zweifel, dass es eine starke Blutung gab. Die letzten Schläge ins Gesicht hat man ihm versetzt, als er schon tot war.«

»Hat man ihn ausgezogen?«

»Zum Teil.«

»Ist dir am linken Arm eine Tätowierung aufgefallen?«

»Woher wissen Sie das?«

»Ein Fisch? Eine Art Seepferdchen?«

»Ja.«

»Hat man seine Fingerabdrücke genommen?«

»Ja. Sie sind dabei, die Kartei durchzusehen.«

»Ist die Leiche jetzt in der Gerichtsmedizin?«

»Ja. Wissen Sie, mich hat das vorhin sehr geärgert. Und ich bin jetzt noch sauer, aber ich habe mich nicht getraut …«

»Du kannst in deinem Bericht schon schreiben, dass aller Wahrscheinlichkeit nach der Ermordete ein Mann namens Honoré Cuendet ist, ein gebürtiger Schweizer aus dem Kanton Waadt, der fünf Jahre in der Fremdenlegion gewesen ist.«

»Der Name sagt mir etwas … Wissen Sie, wo er gewohnt hat?«

»Nein. Aber ich weiß, wo seine Mutter wohnt, wenn sie noch lebt. Ich würde gern als Erster mit ihr sprechen.«

»Das kriegen die raus.«

»Das ist mir egal. Schreib dir die Adresse auf, aber geh erst hin, wenn ich dir einen Wink gebe. Sie wohnt in der Rue Mouffetard. Ich weiß die Hausnummer nicht. Im Zwischenstock über einer Bäckerei, fast an der Ecke der Rue Saint-Médard.«

»Ich danke Ihnen.«

»Bleibst du noch im Büro?«

»Ich habe noch zwei bis drei Stunden mit dem verfluchten Bericht zu tun.«

Maigret hatte sich nicht getäuscht. Aber neben einer gewissen Befriedigung überkam ihn auch ein Anflug von Trauer. Er verließ sein Büro und ging die Treppe zum Zentralregister hinauf, an dem sich gerade Männer in grauen Kitteln zu schaffen machten.

»Wer kümmert sich um die Fingerabdrücke des Toten im Bois de Boulogne?«

»Ich, Herr Kommissar.«

»Hast du schon was gefunden?«

»Gerade eben.«

»Cuendet?«

»Ja.«

Etwas aufgeregt ging er jetzt durch die Flure, bis er das Dachgeschoss des Palais de Justice erreichte. In den Räumen des Erkennungsdiensts fand er seinen alten Freund Moers – ebenfalls über Papiere gebeugt. Noch nie hatte man solche Papierberge aufgehäuft wie in den letzten sechs Monaten. Natürlich war die Verwaltungsarbeit auch früher wichtig gewesen, aber Maigret schätzte, dass sie seit einiger Zeit in allen Abteilungen ungefähr achtzig Prozent der Zeit beanspruchte.

»Haben sie dir die Kleidungsstücke gebracht?«

»Die von dem Mann im Bois de Boulogne?«

»Ja.«

Moers deutete auf zwei seiner Mitarbeiter, die große Papiersäcke schwangen, in denen sich die Kleidungsstücke des Toten befanden. Das war Teil der Prozedur. Es ging darum, alle möglichen Staubpartikel aufzufangen und sie dann zu analysieren, was manchmal wertvolle Hinweise lieferte: auf den Beruf eines Unbekannten, seine Wohnräume, manchmal auch den Ort, an dem das Verbrechen begangen worden war.

»Die Taschen?«

»Nichts. Keine Uhr. Keine Brieftasche, keine Schlüssel. Nicht einmal ein Taschentuch. Überhaupt nichts.«

»Und die Etiketten an der Wäsche und am Anzug?«

»Die sind weder herausgerissen noch herausgetrennt worden. Ich habe den Namen des Schneiders notiert. Brauchen Sie ihn?«

»Jetzt nicht. Der Mann ist schon identifiziert.«

»Wer ist es?«

»Ein alter Bekannter von mir, ein gewisser Cuendet.«

»Ein Verbrecher?«

»Ein stiller Mensch, der stillste Einbrecher, den man sich vorstellen kann.«

»Glauben Sie, es war ein Komplize von ihm?«

»Cuendet hatte nie einen Komplizen.«

»Warum ist er getötet worden?«

»Das möchte ich auch gerne wissen.«

Wie in den meisten Pariser Büros an diesem Tag arbeitete man auch hier bei künstlichem Licht. Der Himmel war stahlgrau, und der Straßenbelag wirkte so schwarz, als wäre er mit einer Eisschicht bedeckt.

Die Leute gingen schnell und dicht an den Häusern entlang, vor ihren Gesichtern bildeten sich kleine Dampfwolken.

Maigret kehrte zu seinen Inspektoren zurück. Zwei oder drei von ihnen telefonierten, die anderen waren wieder einmal mit Schreibarbeiten beschäftigt.

»Nichts Neues, Lucas?«

»Wir suchen immer noch den alten Fernand. Einer glaubt, ihn vor drei Wochen in Paris gesehen zu haben, kann es aber nicht mit Sicherheit sagen.«

Ein Wiederholungstäter. Vor zehn Jahren hatte dieser Fernand einer Bande angehört, die innerhalb weniger Monate eine beachtliche Zahl an Raubüberfällen verübt hatte. Seine genaue Identität hatte man nie feststellen können.

Die ganze Bande war verhaftet worden, und der Prozess hatte fast zwei Jahre gedauert. Der Anführer war im Gefängnis an Tuberkulose gestorben. Einige Mittäter waren noch hinter Schloss und Riegel, aber nun erhielten sie einer nach dem anderen einen Straferlass und kamen wieder auf freien Fuß.

Davon hatte Maigret dem vom »Anwachsen der Kriminalität« alarmierten Staatsanwalt am Morgen nichts gesagt. Er hatte seine eigene Theorie über diese jüngste Raubüberfallserie. Gewisse Einzelheiten ließen ihn vermuten, dass die entlassenen Sträflinge ihre Finger im Spiel hatten. Vermutlich hatten sie sich zu einer neuen Bande zusammengetan.

Es würde genügen, nur einen von ihnen zu fassen. Und auf dieses Ziel arbeiteten seit fast drei Monaten alle verfügbaren Inspektoren mit viel Ausdauer hin.

Die Fahndung hatte sich schließlich auf Fernand konzentriert, der vor einem Jahr freigekommen war. Vor sechs Monaten hatte man seine Spur verloren.

»Was sagt seine Frau?«

»Sie schwört nach wie vor, ihn nicht wiedergesehen zu haben. Die Nachbarn bestätigen ihre Aussage. Niemand hat Fernand in dem Viertel gesehen.«

»Macht weiter, Kinder. Wenn jemand nach mir fragt … Wenn jemand von der Staatsanwaltschaft mich sprechen will …«

Er zögerte.

»Dann sagt, ich bin etwas trinken gegangen. Denkt euch irgendwas aus …«

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