Aus den Akten der Agence O

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II Wo eine Traubenschere zweckentfremdet wird und wo einem Rumpunsch eine unerwartete Bedeutung zukommt

Alle Gäste sind gegangen, einer nach dem anderen. Das Restaurant ist praktisch leer. Jetzt riecht es nur noch nach abgestandenen Küchendünsten, Wein und Kaffee.

Drüben in einer Ecke nahe der Tür hat Émile Barbet abgelöst, nachdem sie gemeinsam zu Mittag gegessen haben; gut gegessen sogar, denn es gab Schnecken, und Émile hat zwei Dutzend verspeist. Unglaublich, was sich Émile, so lang und dünn, wie er ist, alles einverleiben kann – selbst die reichhaltigsten Speisen, die am schwersten zu verdauen sind und vor denen sogar der stärkste Magen zurückschreckt.

»Geh zurück ins Büro«, sagt er zu Barbet. »Sag dem Chef, dass ich noch nicht weiß, wann ich zurück sein werde.«

Hat er zu viel gegessen? Oder ist ihm die halbe Flasche Bordeaux in den Kopf gestiegen? Um sicherzugehen, bestellt er einen schwarzen Kaffee. Aber natürlich muss er dessen Wirkung mit einem Glas vom besten Cognac des Hauses abmildern.

Auf der anderen Seite des Raums hat die junge Frau aus La Rochelle ein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche gezogen und sich eine ägyptische Zigarette angesteckt. Über die leeren Tische zwischen ihnen hinweg sehen sie sich an. Auf dem Fußboden liegt immer noch etwas Sägemehl. Die Kellnerin hat mit dem Saubermachen angefangen; sie fegt den Boden und wechselt die Tischdecken. Aber die beiden sitzen ihr immer noch im Weg, und es ist bereits drei Uhr nachmittags.

Als Émile angekommen ist, hat er gar nicht erst irgendwelche Tricks versucht. Er ist direkt auf Barbet zugegangen, der in seiner Ecke saß und versucht hat, sich hinter einer Zeitung zu verstecken.

»In Ordnung!«, hat er gesagt. »Wie ist sie hergekommen?«

»Mit dem Taxi. Leider!«, hat Barbet geseufzt, denn wenn sie mit der Metro oder dem Bus gefahren oder nur ein kleines Stück gelaufen wäre, hätte er leicht herausfinden können, was sie in ihrer Tasche hat.

Unter anderem Namen, der der Polizei bestens bekannt ist, war Barbet früher als berühmter Taschendieb tätig. Er hatte sogar eine Art Schule in der Nähe der Porte Clignancourt in Montmartre, wo er eine Puppe mit Glöckchen benutzt hat, die die Schüler filzen mussten, ohne sie zum Klingeln zu bringen.

Aber jetzt ist er anständig geworden. Warum? Nun, das geht niemanden außer Émile und ihn etwas an.

»Hat sie irgendwelche Telefongespräche geführt? Hat sie jemanden getroffen?«

»Nein. Sie ist nur einmal zur Toilette gegangen. Ich bin ihr bis zur Tür gefolgt. Aber anstandshalber musste ich ja draußen warten.«

Sie guckt zu den beiden rüber, und Émile ist sicher, dass sie ihn erkannt hat. Wenn man bedenkt, dass sie ihn im Büro in der Cité Bergère nur äußerst kurz gesehen hat, muss sie demnach heute Morgen in der Menge vor dem Juwelier gestanden haben.

Was soll’s! Mit manchen Leuten hat es einfach keinen Sinn, Versteck zu spielen.

»Du kannst gehen, Barbet.«

Jetzt sitzen sie und er allein im Restaurant, zwischen ihnen die gesamte Länge des Raums, und hin und wieder scheint es fast so, als lächelten sie sich an. So sehr, dass eine der Kellnerinnen, die allmählich ungeduldig wird, zu ihrer Kollegin sagt:

»Ich möchte gern mal wissen, warum die sich so anstellen. Sollen sie die Sache doch einfach anpacken, um Himmels willen! Früher oder später landen die eh zusammen im Hotel …«

Um zehn nach drei fragt Émile mit der Art von Schüchternheit, die er in der Öffentlichkeit fast immer an den Tag legt, und mit einer übertriebenen Höflichkeit, die gut zu seinem Aussehen passt:

»Ach, bitte, Mademoiselle, könnte ich vielleicht noch einen Cognac bekommen?«

Auf der anderen Seite des Raums ruft die junge, angeblich aus La Rochelle stammende Frau ihrerseits:

»Würden Sie mir bitte ein paar Trauben bringen? Und einen Rumpunsch!«

»Angezündet?«

»Natürlich angezündet.«

Sie bekommt ihre Trauben mit einer leicht gebogenen Traubenschere. Die Kellnerin entfacht ein Streichholz, um den Rum anzuzünden, der eine dunkle Schicht im Glas bildet.

Dann zieht die Unbekannte, nachdem sie Émile einen langen Blick zugeworfen hat, demonstrativ ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, schneidet mit der Traubenschere eine Ecke ab und lässt das Stückchen Stoff in den brennenden Alkohol fallen.

»Was machen Sie denn da?«, platzt es aus der Kellnerin heraus.

»Nichts. Nur ein altes Hausrezept.«

Dabei lächelt sie Émile einladend an. Émile steht auf und durchquert das Restaurant.

»Darf ich?«, fragt er.

»Bitte sehr«, antwortet sie. »Mademoiselle! Bringen Sie das Glas von Monsieur an meinen Tisch …«

Und einen Moment später in der Küche grinst die Kellnerin über das ganze Gesicht.

»Was hab ich gesagt? Stellen sich dermaßen an! Und dann landen sie doch beieinander wie alle anderen auch. Jetzt aber mal los! Bloß raus hier! Sollen machen, was sie wollen, solange sie mir nicht beim Putzen im Weg rumsitzen …«

»Ich glaube nicht, dass wir die Ehre hatten, einander vorgestellt zu werden?«, sagt sie.

Und während sie es sagt, bläst sie einen Mundvoll Rauch in sein Gesicht. Er seinerseits hat das Gesicht etwas zur Seite gedreht, aus Rücksichtnahme, denn er denkt an die zwei Dutzend Schnecken, die förmlich in Knoblauch schwammen.

»Es sei denn«, antwortet er, »Sie sind wirklich die Tochter des Notars aus La Rochelle.«

Sie lacht und entspannt sich. Was soll’s! Auch ihr wird klar, dass sie es nicht länger mit Torrence zu tun hat und dass es zwecklos ist, weiter Spielchen zu treiben.

»Ist der Safe auch nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden?«

»Der Umschlag wurde rechtzeitig entfernt.«

»Ist Ihr Chef, Torrence, darauf gekommen?«

»Monsieur Torrence«, antwortet er im Vortragston, als läse er es aus einer Werbebroschüre vor, »ist ein Mann, der alles sieht, alles weiß und an alles denkt.«

»Und trotzdem nicht helle genug ist, um zu merken, wenn seine Taschen geleert werden. Ich frage mich, ob nicht Sie irgendwo im Raum versteckt waren und derjenige sind, der … Aber kommen wir zur Sache. Haben Sie vor, den ganzen Nachmittag hierzubleiben?«

»Ich bestehe nicht darauf …«

»Legen wir also die Karten auf den Tisch … Zuerst hat mich ihr bärtiger kleiner Kumpel beschattet. Dann haben Sie ihn abgelöst. Nach dem, was ich über die Agence O und ihre erfolgreich gelösten Fälle gehört habe, wäre es wohl kindisch zu glauben, dass ich Sie durch einen Hinterausgang oder durch Umsteigen in der Metro abhängen kann. Sie haben die erste Runde verloren, aber die zweite gewonnen.«

»Ich verstehe nicht …«, stotterte er, die Unschuld in Person, ganz das Bild eines geohrfeigten Mannes.

»Sie hatten das Taschentuch. Ich hab’s mir zurückgeholt. Zufälligerweise habe ich nichts dagegen, Ihnen zurückzugeben, was davon übrig ist. Das Wäschereizeichen hat sich in meinem Rumpunsch aufgelöst. Also, jetzt sind Sie an der Reihe, mich zu beschatten. Und deshalb kann ich nirgendwo hingehen. Was für ein Spaß!«

»Um ehrlich zu sein«, seufzt er, »finde ich das gar nicht so übel.«

»Sie vielleicht nicht«, sagt sie. »Mademoiselle! Die Rechnung bitte!«

»Beide zusammen?«

»Wie kommen Sie darauf? Der Monsieur kann seine selbst bezahlen.«

Was würde Torrence sagen, wenn er sie so sehen könnte! Nicht länger die junge Dame oder zumindest eine verdammt abgebrühte junge Dame. Dennoch hat sie eine gewisse Würde, etwas, das man bei Leuten, mit denen Polizisten und selbst Privatdetektive normalerweise zu tun haben, selten antrifft.

»Sind Sie manchmal gesprächiger?«, fragt sie.

»Niemals.«

»Schade. Wir halten die Kellnerinnen von ihrer Arbeit ab. Bezahlen Sie Ihre Rechnung, und dann lassen Sie uns gehen! Ich nehme an, die Richtung ist Ihnen egal? Unter diesen Umständen sollten wir zur Seine runterlaufen. Dort ist es ruhiger.«

Sie wissen nicht, dass ihre Kellnerin gerade eine Wette verloren hat. Sie hat geschworen, dass die beiden im erstbesten Stundenhotel in der Rue de la Bastille verschwinden würden. Stattdessen schlendern sie langsam den Boulevard Henri-IV hinunter.

»Sie möchten doch unbedingt wissen, wo ich hingehe, wo ich herkomme und für wen ich heute Morgen gearbeitet habe, stimmt’s?«, fragt sie. »Das ist es doch, oder? Sie sind mir gefolgt, und Sie werden mir auch weiter hinterherschnüffeln. Und ich für meinen Teil bin fest entschlossen, Ihnen keinerlei Informationen zu geben. Mit anderen Worten: Ich werde nicht nach Hause gehen und keinen Kontakt zu Leuten aufnehmen, die ich kenne.«

Verärgert wendet sie sich zu ihm um und fährt ihn an:

»Warum zum Teufel stecken Sie sich nicht endlich Ihre Zigarette an?«

»Verzeihen Sie … Eine alte Angewohnheit … Ich zünde sie nie an.«

Sie hatte gedacht, dass es mit ihm ein Leichtes sein würde, und dabei hat sie noch nie einen so leidenschaftslosen Typen getroffen wie diesen großen rothaarigen jungen Mann, der ihr mit einer derart außergewöhnlichen Entschlossenheit hinterherläuft.

»Aber warum behalten Sie sie dann im Mund?«

»Ich weiß nicht. Wenn es Sie wirklich stört …«

»Warum geben Sie sich als Detektiv Torrence’ Fotograf aus?«

»Wie bitte? Was meinen Sie damit?«

»Versuchen Sie nicht, mir was vorzumachen. Heute Morgen hatten Sie eine dicke Kamera um den Hals. Sie haben so getan, als würden Sie Fotos machen. Aber Sie haben vergessen, die Kappe von der Linse zu nehmen …«

Er lächelt und gibt zu:

»Nicht schlecht …«

»Was machen Sie in der Agence?«

»Ich arbeite dort.«

 

»Und höchstwahrscheinlich sind Sie unterbezahlt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Sie tragen Anzüge von der Stange, die einlaufen, wenn es regnet.«

Sie haben die Île Saint-Louis erreicht. Sie seufzt.

»Ich frage mich, was ich mit Ihnen machen soll. Von der Tatsache, dass ich gerne meine Kleider wechseln würde, mal ganz abgesehen.«

»Das bezweifle ich nicht.«

»Warum sagen Sie, dass Sie es nicht bezweifeln?«

»Weil Sie das Kostüm in Eile angezogen haben, in letzter Minute, sodass Sie keine Zeit mehr hatten, die Falten aus den Ärmeln zu bügeln. Normalerweise kleiden Sie sich sorgfältiger, vornehmer vermutlich, denn Sie haben Ihre Strümpfe nicht gewechselt, und Sie tragen Strümpfe für hundertzehn Franc das Paar. Ein bisschen teuer für die Tochter eines Provinznotars.«

»Sind Sie vielleicht Strumpfexperte?«

Er senkt den Blick und wird rot.

»Wie dem auch sei«, sagt er, »Ihr Komplize oder Ihre Komplizen erwarten Sie und fangen an, sich Sorgen zu machen. Ich möchte gerne mal wissen, wie Sie denen mit mir auf den Fersen eine Nachricht zukommen lassen wollen. Sie müssen schließlich auch einen Platz zum Schlafen finden. Sie müssen …«

»Schöne Aussichten!«

»Das wollte ich auch gerade sagen …«

Gedankenverloren beobachten sie eine Kette von Lastkähnen, die ein Schlepper flussaufwärts zieht.

»Andererseits«, fährt Émile in seiner angeborenen Demut fort. »Wenn Sie nicht in Ihrem eigenen Bett schlafen, werden wir es morgen früh wissen.«

Sie schaudert, sieht ihn an und sagt:

»Erklären Sie mir das.«

»In Anbetracht des Stadiums, das wir inzwischen erreicht haben, wäre es taktlos von mir, diese Bitte abzuschlagen. Folgen Sie für einen Moment meinem Gedankengang. Wenn das Taschentuch, das während des Diebstahls im Juwelierladen verloren wurde, ein ausreichend schlagender Beweis war, um Sie zu dieser Tat heute Morgen zu veranlassen …«

»Beeilen Sie sich! Es ist kalt hier draußen.«

»Ich wollte sagen, dass es zwei Arten von Wäschereizeichen gibt. Die für private Kunden; die sind nicht so kompromittierend. Aber moderne Wäschereien haben einen großen Kundenstamm. Darum benutzen sie für die Wäsche der großen Hotels besondere Zeichen …«

»Das ist unsinnig!«, fällt sie ihm ins Wort.

»Trotzdem sind Sie blass geworden! Wie dem auch sei, ich nehme an, dass Sie und Ihr Komplize oder Ihre Komplizen in einem Hotel wohnen, wahrscheinlich in einem der größeren. Das Wäschereizeichen hätte uns auf Ihre Spur gebracht. Jetzt ist es nur noch Teil eines Punschs, den hoffentlich niemand trinken wird! Ich würde vorschlagen, wenn Sie nichts dagegen haben – es ist wegen der Schnecken, die ich gegessen habe –, in die kleine Bar dort zu gehen und an der Theke ein Bier zu trinken?« Sie folgt ihm herablassend.

»Zwei Bier vom Fass!«

»Das erklärt immer noch nicht, warum Sie, falls ich heute Nacht nicht in meinem Bett schlafe, wissen …«

»Nun, Sie haben gesehen, dass ich meinen Kollegen weggeschickt habe.«

»Der, der so aussieht wie ein Hund auf Entenjagd?«

»Genau. Er und ein paar andere haben jetzt viel Arbeit vor sich. Morgen früh werden wir dann die Namen und Beschreibungen aller Frauen Ihrer Altersgruppe haben, die in Pariser Hotels registriert sind und die die Nacht nicht in ihrem Zimmer verbracht haben. Auf Ihr Wohl! Wirt, was schulde ich Ihnen?«

»Ich habe Ihnen vorhin eine Frage gestellt.«

»Haben Sie das? Ich erinnere mich nicht …«

Sie laufen wieder den Fluss entlang.

»Was verdienen Sie in der Agence O? Was würden Sie sagen, wenn …«

»Das hängt davon ab, wie viel Sie bei sich haben.«

Sie nimmt ihn beim Wort und öffnet ihre Handtasche. Sie sind an der Spitze der Insel angekommen, von der aus man oben Notre-Dame sehen kann. Der Nebel hat sich gelichtet.

»Wenn ich Ihnen …«

Sie zählt die Scheine. Dreißig … vierzig …

»… fünfzigtausend Franc geben würde?«

Sie ist außer sich vor Freude. Auf keinen Fall kann dieser schlecht gekleidete junge Mann, der aussieht wie ein armer Angestellter, ein solches Vermögen ablehnen.

»Sie müssen nur die Metro verpassen, die ich nehmen werde …«

»Aber dann«, antwortet er ruhig, »hätten Sie gar kein Geld mehr bei sich. Nein, bestimmt nicht! Fünfzigtausend Franc ist alles, was Sie in Ihrer Tasche haben. Und wenn Sie Ihren Komplizen nicht wiederfinden würden? Wenn er Angst bekommen und schon das Weite gesucht hätte?«

Sie kann sich ein leises Lächeln nicht verkneifen.

»Sie lehnen ab? Ist es nicht genug?«

»Es ist zu viel und nicht genug. Ich bin nicht gut im Rechnen. Die Arbeit gestern Nacht hat Ihnen Schmuck im Wert von achthunderttausend Franc eingebracht. Und letzten Monat in der Rue de la Paix zwei Millionen. Der Einbruch am Boulevard Poissonnière …«

»Ich frage Sie zum letzten Mal. Ja oder nein?«

Daraufhin flüstert er, unbeholfen galant:

»Ich genieße Ihre Gesellschaft viel zu sehr.«

»Es wird Ihnen noch leidtun.«

Jetzt tut sie so, als beachtete sie ihn überhaupt nicht mehr. Sie überquert die Brücke und hält ein Taxi an. Ohne auf eine Einladung zu warten, steigt er gleich mit ein. Das Taxi hält vor einem Geschäft für Damenunterwäsche in der Rue Saint-Honoré.

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie …«

»Oh, ich liebe feine Unterwäsche«, versichert er ihr.

Er folgt ihr von Abteilung zu Abteilung. Als sie zur Kasse gehen, fragt die Verkäuferin:

»Wohin sollen wir die Ware schicken?«

Und plötzlich kommt ihr eine Idee, und sie platzt heraus:

»Geben Sie alles dem Diener meines Mannes hier.«

Schuhe … Seidenstrümpfe … Hin und wieder wirft sie ihm einen ironischen Blick zu, aber er ist nicht das kleinste bisschen verunsichert und hält die Pakete gut fest, außer als er seine Brille putzen muss.

»Haben Sie noch immer nicht genug?«, fragt sie.

»Oh, das macht mir gar nichts aus. Nur, dass nicht alles ins Taxi passen wird.«

Fünf Uhr … sechs Uhr … Als der Taxifahrer an einer besonders verkehrsreichen Kreuzung warten soll, wirft er ihnen böse Blicke zu und folgt ihnen bis zur Ladentür.

»Welches Hotel? Tja, mal sehen … Hôtel du Louvre.«

Und dann, im Hotel angekommen, fragt sie nach einem Zimmer. Émile bleibt hinter ihr stehen.

»Doppelzimmer?«

»Nein. Ein Einzelzimmer. Nur für mich«, antwortet sie.

»Und für Monsieur?«

»Ich brauche keins«, stottert Émile.

Sie ist äußerst gereizt. Oben im Zimmer, wo sich die Pakete auf dem Bett türmen, bebt sie fast vor Wut.

»Wie lange soll das noch so weitergehen?«

»Ich glaube, es ist das Beste, wenn wir runter an die Bar gehen und einen Cocktail trinken. In diesem Hotel gibt es eine exzellente amerikanische Bar«, antwortet Émile.

»Oh, jetzt sind Sie Barexperte, was?«

»Ebenso sehr wie für Strümpfe, Madame Baxter.«

Das ist der Name, den sie an der Rezeption angegeben hat.

»Und ein noch größerer Experte, wenn es um Juwelendiebe geht. Sie machen wirklich einen Fehler, wenn Sie mich nicht auf einen Manhattan an die Bar begleiten.«

Fassungslos folgt sie ihm in die Bar. Es ist schwer, sich den zurückhaltenden Monsieur Émile in einer amerikanischen Bar vorzustellen, und doch scheint er sich dort absolut wohlzufühlen und belehrt sogar den Barmann über die Anteile für den Cocktail.

»Wie Sie wissen, meine kleine Dame …«

»Ich verbiete Ihnen, mich ›meine kleine Dame‹ zu nennen.«

»Wie Sie wissen, meine liebe Freundin.«

Sie macht den Mund auf, um wieder zu protestieren, aber ihr ist klar, dass sie bei ihm nicht das letzte Wort haben wird. Selbst wenn man ihn ohrfeigte, bis er rot wäre wie ein Hummer, auf ihm herumtrampelte und ihn bösartig verfluchte, würde er niemals seine Gelassenheit oder seine eigenartige Selbstsicherheit verlieren; Letztere war umso eigenartiger, da sie mit dieser verblüffenden Bescheidenheit einherging.

»Sie sind jung …«, fährt er fort.

»Und was ist mit Ihnen?«

»Ich? Wenn Sie wüssten! Wie auch immer. Sie haben sich den härtesten Beruf ausgesucht, der zwar oberflächlich betrachtet die größten Dividenden abwirft, ganz sicher sogar, wenn man an den Wert der Juwelen denkt. Aber welches Risiko Sie dabei eingehen! Und abgesehen davon, was bekommt man schon für gestohlenen Schmuck, selbst bei den ehrlichsten Hehlern – wenn man sie so nennen kann? Es ist so ein harter Beruf, dass sich nur sehr wenige der seltenen Spezialisten darauf einlassen, und die Polizei kennt ihre Arbeitsweisen …«

»Wollen Sie damit sagen, dass der Einbruch gestern Nacht …«

»Der von gestern Nacht und die zwölf anderen, die ihm in den letzten Monaten hier in Paris vorangegangen sind … Also, bis vor ein paar Tagen hätte ich schwören können, es wäre das Werk von Glatzenteddy … Barkeeper! Noch mal das Gleiche, bitte!«

»Warum sagen Sie, dass Sie’s bis vor ein paar Tagen hätten schwören können?«

»Weil ich … Nein, entschuldigen Sie, weil mein Chef, Monsieur Torrence, der auf seine eigene Art ein sehr außergewöhnlicher Mann ist, so klug war, mit der New Yorker Polizei Kontakt aufzunehmen, und dabei herausgefunden hat, dass Glatzenteddy immer noch im Gefängnis sitzt. Die Nachricht hat uns erst gestern erreicht, aber es besteht kein Zweifel.«

»Haben Sie irgendeinen Beweis, dass ich nicht Glatzenteddy bin, oder seine Komplizin?«, spöttelt sie.

»Glatzenteddy, mein kleines Kind …«

»Vorher haben Sie mich Ihre ›kleine Dame‹ genannt.«

»Ja, und es könnte vorkommen, dass ich Sie einfach nur ›Kleines‹ nenne! Und jetzt trinken Sie aus. Was ich sagen wollte, Glatzenteddy hat nie mit Komplizen zusammengearbeitet, weder männlich noch weiblich. Die wenigen erfolgreichen Juwelendiebe – diejenigen, die man als internationale Größen bezeichnen kann – haben immer alleine gearbeitet. Aber Glatzenteddy hat es mit dieser Regel bis zur Perfektion getrieben.«

Sie lacht eisig.

»Sie klingen wie ein Lehrer …«

»Wie ein Dorfschullehrer, stimmt’s?«

Manchmal ist sie sich nicht mehr ganz sicher. Er hat so eine komische Mischung aus Demut und Stolz an sich, aus Autorität und Bescheidenheit. Und sein Blick …

»Was glauben Sie«, fragt er, »ist der gefährlichste Zeitpunkt für einen Juwelendieb?«

»Sie scheinen mehr darüber zu wissen als ich.«

»Wenn er den Schmuck verkauft. Alle wertvollen Juwelen haben eine Identität, eine Bezeichnung, mit der man sie, wohin auch immer, nachverfolgen kann. Deshalb hat sich Glatzenteddy auch nie mit Kleinkram abgegeben. Wenn er ein Ding dreht, dann im großen Stil. Drei oder vielleicht auch sechs Monate lang raubt er die Juwelierläden einer einzigen Stadt aus, sagen wir Paris, London, Buenos Aires oder Rom. Er leistet gute Arbeit, erledigt sie schnell und verfährt immer nach derselben Methode. Aber solange er sich in dem jeweiligen Land aufhält, nimmt er sich sehr genau davor in Acht, auch nur eins der gestohlenen Stücke dort an den Mann zu bringen.

Glatzenteddy ist auf seine Art ein Großhändler. Wie man so hört, hat er genug Kapital, um eine Weile auf der Ware sitzenzubleiben. Wenn er genug Beute gemacht hat, verschwindet er. Keine Spur mehr von ihm. Die internationalen Polizeikräfte warten vergeblich auf sein Wiederauftauchen.

Er tätigt seine Verkäufe weit weg, sagen wir auf einem anderen Kontinent, und viel, viel später. Dann hat er genug in der Hand, um ein paar Jahre friedlich zu leben. Ich möchte wetten, dass er irgendwo auf der Welt unter einem anderen Namen verehrt und respektiert wird, vielleicht sogar als Bürgermeister in seiner Stadt oder in seinem Dorf.

Und dann, wenn ihm das Geld langsam ausgeht, macht er Pläne für einen neuen Feldzug. Er nimmt sechs bis zwölf Monate Urlaub …«

Émile kippt seinen Drink hinunter und bestellt noch einen.

»Also«, fährt er fort, »wenn die amerikanische Polizei mir – Pardon, ich meine natürlich meinem Chef, dem ehemaligen Inspektor Torrence – nicht garantiert hätte, dass sich Glatzenteddy momentan hinter Gittern befindet, nun, dann hätte ich für meinen Teil jedenfalls schwören können, dass …«

In diesem Moment passiert etwas Ungewöhnliches. Die junge Dame legt ihre Hand auf seinen Arm und fragt ihn:

»Wer sind Sie eigentlich?«

»Meinen Sie nicht, dass ich Ihnen diese Frage stellen müsste? Sie wissen doch, dass ich nur ein Laufbursche der Agence O bin.«

 

»Also wenn alle Laufburschen so sind wie Sie, dann möchte ich gerne mal wissen, was der Chef für einer ist.«

»Ich auch.«

»Aber andererseits, wenn Sie der Chef sind, warum geben Sie sich dann als …«

»Hören Sie, an dem Punkt, an dem wir jetzt angelangt sind – und ich habe inzwischen drei Manhattan getrunken, von den vier Cognacs im Quatre Sergeants und dem Bier in dem Café an der Île Saint-Louis ganz zu schweigen –, kann ich Ihnen genauso gut gestehen, dass es eben meine Methode ist. Wenn ich Sie heute morgen befragt hätte …«

»Wäre ich auf der Hut gewesen …«

»Vielleicht. Oder andersherum, ich wäre auf der Hut gewesen. Wie Sie wissen, bin ich wirklich sehr schüchtern, und …«

»Und ich versuche, Sie mit fünfzigtausend Franc zu kaufen!«

»Haben Sie irgendeine Idee, wo wir zu Abend essen könnten? Ich habe gesehen, dass Sie ein Abendkleid gekauft haben. Über Ihre Figur können Sie sich wirklich glücklich schätzen. Aber wenn wir uns fein machen, muss ich Sie mit zu mir nach Hause nehmen, und Sie müssen dann mit meiner Mutter warten, bis ich …«

»Sagen Sie, Monsieur Émile …«

»Was?«

»Wenn Sie könnten, würden Sie mich dann festnehmen?«

Die Unterlippe der jungen Dame zittert. Sie fühlt sich schön. Zwischen den Flaschen hindurch kann sie sich im Spiegel hinter der Bar sehen. Ihre Augen glänzen, ihre Lippen beben. Und zeigt ihr Begleiter, der neben ihr sitzt, nicht sogar ein bisschen Interesse an ihr?

Sie erwartet seine Antwort, ihre Finger haben sich verkrampft. Und die Antwort kommt prompt wie ein Schlag ins Gesicht.

»Ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Haben Sie denn überhaupt kein Herz?«

»Mein Vater, Mademoiselle, wurde umgebracht, und zwar von … Ach, vergessen Sie’s, das ist nicht die Art von Geschichte, die man in so einem Rahmen erzählt. Aber ich möchte noch was hinzufügen, wenn es Sie davon abhält, eine Dummheit zu begehen. Falls Sie vorhaben, mich abzuschütteln, hätte ich keine Bedenken, Sie ins Bein zu schießen – und in ein sehr schönes obendrein. So sehr bin ich davon überzeugt, dass Sie in die Einbrüche verwickelt sind, die …«

»Schwein!«, faucht sie und tritt ihm gegen das Schienbein.

»Und jetzt«, fragt er, »ziehen wir uns zum Abendessen um, oder nicht? Soll ich meine Mutter anrufen, damit sie meinen Smoking zurechtlegt, oder …«

»Sie haben doch sicher nicht vor, in meinem Zimmer zu bleiben, während ich mich umziehe.«

»Unglücklicherweise habe ich genau das vor. Aber wenn Sie es wünschen, können Sie mich hinter einen Paravent in die Ecke neben der Tür verbannen.«

Fünf Minuten später befinden sie sich im Hotelfahrstuhl auf dem Weg nach oben zur Suite 125.