Ein tödliches Spinnennetz

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Einige Tage darauf fand die angekündigte Firmenveranstaltung statt. Sie begann am späten Nachmittag mit einem Gartenfest auf der Dachterrasse des Bürogebäudes. Es waren ein großer Pavillon, Beleuchtung und sogar Grünpflanzen aufgestellt worden. Es sah tatsächlich ein wenig nach Garten aus, wenn nur die bröckelnde Fassade des Nachbargebäudes nicht so dicht vor uns sichtbar gewesen wäre. Es gab, wie konnte es anders sein, Currywurst mit Fritten, Erbseneintopf, Limonade und Kaffee, ja selbst Bier war zu haben. Säuselnde Musik aus der Stereoanlage erklang.

Kurt Offermann erschien fröhlich und stolz in Begleitung einer Frau. Er stellte mich Bianca Mohr, Finanzchefin von Lohr & Cie., vor. Sie war nicht mehr die Jüngste, kleine Fältchen versuchte sie zu verdecken, ihre Brille verstärkte den Eindruck eines entschlossenen Gesichts, ihr Alter vermochte ich nur schwer einzuschätzen. Ich dachte, dass sie so um die fünfzig Jahre alt sein könnte. Frau Mohr war tadellos gekleidet, schwarzes Kostüm mit unauffälligem Schmuck. Darin kam sie mir mit ihrer schlanken Figur sehr streng vor. Ihr Blick zeigte, dass sie sich durchzusetzen wusste. Offermann berichtete an sie. Möglicherweise existiert hier ein Interessenskonflikt, den ich im Auge behalten sollte, dachte ich mir.

Bianca Mohr fragte mich, wie ich mich eingelebt hätte und wie mir meine »Truppe« gefalle. Dabei betonte sie das Wort »Truppe« in einer speziellen Art, die mich aufhorchen ließ. Während Offermann sich zwischenzeitlich kurz mit einem seiner Leute unterhielt, nutzte ich die Gelegenheit für einen Vorstoß.

»Nach allem, was ich in der Kürze der Zeit feststellen konnte«, erklärte ich Frau Mohr, »gäbe es Möglichkeiten, meine Mitarbeiter effektiver und konstruktiver einzusetzen. Ich würde gern unter Beweis stellen, dass das möglich ist.«

Sie blickte mich erstaunt an und fragte, ob ich darüber mit Herrn Offermann gesprochen hätte. Ich bejahte, glaubte allerdings verstanden zu haben, dass man meinen Mitarbeitern nicht viel zutraute und deshalb lieber keine Versuche riskieren mochte. Ich vermied, meinen tatsächlichen Eindruck von Offermann preiszugeben. Ohne weiter darauf einzugehen, bedankte sie sich und wünschte mir noch viel Spaß an diesem Abend. »Minchia! Verdammter Mist!« Am liebsten hätte ich jetzt laut geflucht!

Pronti, attenti, via! Auf die Plätze, fertig, los!

Am nächsten Morgen fand ich einen Zettel auf meinem Schreibtisch. Ich sollte mich unverzüglich bei Offermann melden. Er empfing mich stehend, die Hände auf seinem Schreibtisch aufgestützt.

»Was fällt Ihnen ein? Was bilden Sie sich nur ein? Sie sind kaum ein paar Tage hier. Wie kommen Sie dazu, Frau Mohr so einen absurden, ja lachhaften Vorschlag zu unterbreiten? Hatte ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?«, fuhr er mich heftig und lautstark an. Wieder hatte seine Stimme diesen schrillen Klang. Ich nutzte eine Atempause von ihm und ergriff das Wort.

»Halten Sie mich tatsächlich für so unhöflich, dass ich eine von Frau Mohr gestellte Frage nicht beantworten würde? Darüber hinaus habe ich, sicher in Ihrem Sinne und wahrheitsgetreu erklärt, dass Sie, Herr Offermann, mich eindeutig wissen ließen, dass Sie nicht viel von meinem Vorschlag halten.« Bewusst hatte ich mit normaler Stimmlage reagiert. Mit einer zusätzlichen Provokation würde ich hier nichts erreichen. Dabei sah ich ihn so unschuldig wie nur möglich an, obwohl ich mich maßlos über ihn ärgerte.

Nun lief er dunkelrot an. Es sah aus, als ob sein Kopf kurz davor war zu platzen. Wutentbrannt schrie er mich an, dass ich noch heute einen Termin bei Frau Mohr bekäme und damit die Gelegenheit, meinen Vorschlag entsprechend seinen Wünschen wieder abzublasen. Er bestand darauf, dass keinerlei Änderungen am bisherigen Abteilungsauftrag vorgenommen würden. Ich würde an ihn, Offermann, berichten und sollte auf keinen Fall auf die Idee kommen, daran zu rütteln, das würde mir nicht gut bekommen. Hörte ich richtig? Hatte der Mann mir eben lautstark und auch für jeden außerhalb seines Büros vernehmlich gedroht?

Als ich sein Büro schon einige Schritte hinter mir gelassen hatte, hörte ich ihn immer noch hinter mir her schimpfen. Der Kampf zwischen Offermann und mir war eröffnet.

»Kommen Sie herein!«, rief Frau Mohr. »Nehmen Sie Platz. Was Sie mir gestern erzählten, hat mich ein wenig irritiert, aber dann auch neugierig gemacht. Sie beschrieben, dass man kein Vertrauen in Ihre Mitarbeiter hat. Erklären Sie mir, warum das nicht so sein sollte. Nach dem, was man mir bisher erzählte, tut man dort doch nichts, was nutzbringend ist, und ich habe streng genommen nicht verstanden, warum die Abteilung nicht aufgelöst werden sollte.«

Eigentlich wollte ich sie fragen, warum sie die Auflösung der Abteilung nicht anwies, wenn sie diese Meinung vertrat. Doch ich hielt mich zurück und erklärte ihr, dass in der Abteilung viel Nützliches getan würde. Allerdings, die Ergebnisse aus diesen angeordneten Prozessanalysen und -bewertungen hätten in der Vergangenheit offenbar niemanden interessiert und würden deshalb auch nicht berichtet. Dass ich damit das Verhalten von Offermann zur Diskussion stellte, war mir durchaus bewusst. Bianca Mohr sah mich erstaunt an, ohne auf diese Aussage einzugehen.

»O. K.«, sagte sie gedehnt. »Sind Sie in der Lage, mir so kurz es geht aufzuzeigen, was Sie sich nun vorstellen?«, forderte sie mich auf und schaute auf die Uhr.

Eine knappe Stunde später gab sie mir grünes Licht für meinen Vorschlag.

Zurück in meinem Büro. Ich dachte über das eben erlebte Gespräch nach. Wieso hatte sie die Abteilung nicht geschlossen, wenn sie die Leute für unfähig hielt? Wieso hatte sie Offermann nicht gestoppt, als der meine Managerposition neu besetzen wollte? Überhaupt, was für eine Beziehung hatten die beiden? Ich saß an meinem Schreibtisch und überlegte. Ich brauchte möglichst bald, außer meinen eigenen, auch andere Augen und Ohren, die mich unterstützten.

Am nächsten Morgen begrüßte ich wieder alle Mitarbeiter persönlich und fragte, wie es ihnen ginge und nahm als Letzten Müller mit in mein Büro. Ich hatte extra Kaffee und Plätzchen auf den Tisch gestellt und bat ihn, Platz zu nehmen. Dann erklärte ich, wie ich meine Aufgabe sähe und dass ich gern wissen würde, was er darüber denke.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er auftaute. Zuerst vermied er, mich anzusehen, doch mehr und mehr kam er aus sich heraus. Wenn er zuerst auf Fragen nur reagierte, so saß er bald auf der Stuhlkante, fuchtelte mit seinen Händen, so wie ich es nur von meinem Vater kannte, und aus seinem Mund quollen die Ideen nur so heraus. So sollten wir die Ergebnisse der vergangenen Prüfungen und Analysen neu bewerten und gegebenenfalls für erneute Prüfungen heranziehen. Beispielhaft nannte er Vertriebsprozesse und Finanz. Plötzlich schwieg er jedoch und erklärte, das alles habe doch keinen Sinn.

Ich schüttelte den Kopf und fragte wieso?

»Das will doch niemand haben, niemand will das wissen!«, erklärte er trotzig, stand abrupt auf und verließ das Büro. Ich sah ihm nach. Wieso zum Teufel hatte man diese Menschen so tief verunsichert? Wieder nahm ich mir meine Ausarbeitungen vor und baute einige der von Müller vorgebrachten Ideen mit ein.

Am nächsten Tag die gleiche Prozedur. Ich begrüßte alle, fragte nach ihrem Befinden und bat Müller wieder in mein Büro. Widerwillig betrat er den Raum und blieb vor mir stehen. Ich erklärte ihm, dass ich über seine Worte lange nachgedacht hätte und ich wäre wirklich dankbar, wenn er mir helfen würde. Ich bräuchte ihn und auch die anderen, um ein gemeinsames Ziel für uns alle zu definieren. Außerdem wäre es nicht meine Art, so schnell aufzugeben.

Müller sah mich an und setzte sich. Ich schob ihm einige Charts zu – Schaubilder mit Tabellen, Diagrammen, Texte und Grafiken – und bat ihn, sie durchzusehen. Vorsichtig nahm er die Blätter in die Hand und las.

»Kann ich die mit zu mir nehmen?«, fragte er. Ich nickte und erklärte, er solle sie nur nicht außerhalb unserer Abteilung zeigen oder außerhalb darüber sprechen. Er nahm die Charts und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Bald standen seine Kollegen und Frau Schulze um ihn herum und eine lebhafte Diskussion entstand. Immer wieder sahen sie dabei in meine Richtung. Ich sah Kopfschütteln, Gemaule, aber auch die eine oder andere Bemerkung nach dem Motto »Lasst es uns doch probieren!« An dem Tag verließ ich mein Büro pünktlich und ließ die Kollegen diskutierend allein. Sie hatten in der Hitze des Gefechts den Büroschluss vergessen, und ohne meine Anwesenheit diskutierten sie vielleicht offener miteinander.

Am nächsten Morgen lagen die Charts auf meinem Schreibtisch. Ich sah, dass mehrere Notizen, in unterschiedlicher Handschrift, vorgenommen worden waren. Nicht schlecht, dachte ich erfreut und wartete gespannt auf meine Leute.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, atmete tief durch. Kurz darauf kam Müller zu mir und fragte, ob wir uns alle zusammensetzen könnten.

»Gerne. Lassen Sie unser Team in mein Büro kommen. Lassen Sie uns alle zusammenkommen.« Der Raum füllte sich, wenn auch zögerlich. Gespannt wartete ich nun auf das, was da kommen würde.

»Herr Vincente, wir haben uns gestern über Ihren Vorschlag im Team unterhalten. Es liest sich alles ganz gut, was Sie da aufgeschrieben haben. Wir glauben allerdings, dass es nicht funktionieren wird. Bisher haben alle Versuche, unsere Situation hier zu verbessern, nicht gefruchtet. Im Gegenteil, man hat uns noch weiter, wie soll ich sagen, gedemütigt. Deshalb würden wir gern wissen, warum Sie glauben, dass es ausgerechnet bei Ihnen anders sein sollte.«

»Frau Schulze, meine Herren, das will ich Ihnen sehr gerne begründen.«

 

Es wurde ein langes Gespräch, durchaus manchmal hitzig. Ich erklärte, was ich mir vorgenommen hatte und bat sie, darüber nachzudenken.

»Ohne Ihren Beitrag werde ich es nicht schaffen. Es wird sicher auch nicht leicht werden. Wir werden gewiss erhebliche Widerstände überwinden müssen und so manchen Rückschlag erleben. Doch aufgeben ist nicht meine Sache.«

Sie baten sich Bedenkzeit aus, und wir wollten am Nachmittag erneut zusammenkommen.

Nach dem Essen standen alle wieder unaufgefordert in meinem Büro. Es war mir klar, noch vertrauten sie der Sache nicht. Wieso auch, sie kannten mich ja erst ein paar Tage. Doch nach einer Stunde saßen wir immer noch alle beieinander. In meinem Büro war es warm geworden, und das lag nicht etwa an der Heizung und nicht nur daran, dass nun so viele Menschen im Raum waren. Wir hatten alle einen erhitzten Kopf und waren eifrig dabei, meine Grundidee in einen Projektplan für die nächsten zwölf Monate umzusetzen.

Was dabei unglaublich half, war meine Aussage, dass wir für die nächsten zwölf Monate nicht mehr an Offermann, sondern direkt an Frau Mohr berichten würden. Das hatten sie mit Erstaunen, aber auch mit Erleichterung aufgenommen. Dabei störte es sie nicht mehr, dass die Abteilung aufgelöst werden würde, wenn das Projekt schief gehen sollte. Ich hatte ihren Ehrgeiz, vor allem aber ihren Selbsterhaltungstrieb und ihren Mut geweckt. Sie wollten es Offermann und all den anderen, aber vor allem sich selbst zeigen. Würde das funktionieren, dann wäre auch mein eigentlicher Auftrag spätestens in zwölf Monaten erledigt. Hoffentlich. Überraschenderweise war an dem Abend mein Büro gereinigt und der Abfalleimer samt Aschenbecher geleert worden. Wie ich später erfuhr, hatte Frau Schulze dafür gesorgt.

In meinem Berliner Heim, in dem immer noch mein Koffer mitten im Wohnzimmer stand und auch sonst noch kein gemütliches Zuhause ersichtlich war, bereitete ich mich vor. Meine Mitarbeiter mussten in die Lage versetzt werden, eine solche Untersuchung, wie ich sie mir vorstellte, durchführen zu können. Grundlagen, wie sie ein Revisor kennen sollte, wie man Unterlagen aus einer Gesamtheit auswählt, wie man sie analysiert, welche Fragen dabei beachtet werden müssen, und, und, und. Die Durchführung von Interviews stellte ich erst mal zurück. Dafür war noch Zeit genug. Nun ging es erst mal darum, eine saubere Ursachenanalyse umsetzen zu können. Dass es für diese Art der Analyse wissenschaftliche Arbeiten und Tools gab, war für den Anfang erst mal nicht so wichtig. Ebenso wollte ich meine Mitarbeiter nicht mit komplexen und komplizierten Methoden verunsichern. Sie sollten so schnell wie möglich an die Arbeit gehen können, alles andere würde sich ergeben. Am nächsten Morgen informierte ich mein Team.

Kurz darauf traf ich Offermann auf dem Flur. Ich war ihm in den letzten Tagen aus dem Weg gegangen, da ich an einer erneuten Auseinandersetzung kein Interesse hatte. Er ging strammen Schrittes vorwärts und wollte, ohne zu grüßen, an mir vorbei. Ich grüßte freundlich und bat ihn um Unterstützung. Er schaute mich erstaunt an und ließ mich ärgerlich wissen, dass das nun alles ganz allein mein Problem sei, er habe keine Zeit. Doch ich ließ nicht locker.

»Ich benötige von Ihnen die Revisionsberichte der letzten zwei Jahre.«

»Das geht nicht«, erwiderte er abweisend. »Die kann ich Ihnen nicht geben. Die sind vertraulich. Überhaupt, glauben Sie nur nicht, dass Ihr Verhalten ohne Folgen bleiben wird.«

Wieder verfärbte sich sein Gesicht, als würde er gleich einen Wutanfall bekommen. Trotz seiner Ablehnung dankte ich freundlich. Ohne die Unterstützung von Frau Mohr war ich gegenüber Offermann hilflos. Auf der anderen Seite wusste ich über sie sehr wenig, vielleicht zu wenig. Konnte ich ihr denn trauen? Hatten Mohr und Offermann auf dem Event nicht ein trautes Bild vermittelt? Hatte sie ihn, mit der aus ihren Augen eigentlich unsinnigen Neubesetzung meines Jobs, nicht unterstützt? Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste es riskieren.

Sie hörte sich mein Anliegen an. Erst wollte sie nicht so recht. Sie wolle kein zusätzliches Öl ins Feuer gießen, meinte sie. Doch als sie sah, dass ich mich nicht so einfach zufriedengeben würde, gab sie nach. Sie würde bei Offermann nachfragen, was es für Gründe zu dessen Verweigerungshaltung gebe.

Am nächsten Tag lagen die Berichte wider Erwarten auf meinem Tisch. Wie Bianca Mohr das erreicht hatte, blieb ihr Geheimnis. War das nun ein positives Zeichen oder nur eine Beruhigungspille für mich?

Mit Müller, Müller2 und einem weiteren Mitarbeiter namens Thun analysierten wir die Revisionsberichte.

»Mamma Mia!«, rief ich, und die drei sahen mich erschrocken an, und noch mal »Mamma Mia!«, und schlug mir mit der Hand an den Kopf. Was wir da zu sehen bekamen, war, zumindest für mein Verständnis, eine Katastrophe. Schnell erklärte ich den dreien, sowie dem eben dazugekommenen Pasternak, der der Ruhigste von allen war, was mir aufgefallen war, wie die Berichte zu lesen seien und was für uns als Grundlage der weiteren Arbeit herausgezogen werden sollte.

Innerhalb kürzester Zeit hatten wir handfeste Problemfelder und Risiken ausgemacht. Die fehlende Verantwortungstrennung in den wichtigsten Prozessen – nur zum Beispiel. Es kam knüppeldick: Verträge wurden abgeschlossen, denen nicht immer die notwendigen Freigaben zugrunde lagen. Andere wurden gleich ohne die Einbindung der Fachabteilungen abgeschlossen. Preise wurden teilweise nach Gutdünken ermittelt und Vertragspartner wurden ausgewählt, ohne vergleichende Angebote eingeholt zu haben. Auch wurden Ausgaben von der direkten Führungskraft freigegeben, ohne dass es dafür Kontrollen auf Rechtmäßigkeit beziehungsweise Ordnungsmäßigkeit gegeben hätte. Darüber hinaus waren in der Zahlungsverkehrsfunktion Mitarbeiter oder Führungskräfte in der Lage, ohne eine Zweitkontrolle Zahlungen über die Bankkonten von Lohr auszuführen. Statt die Risiken zu beschreiben, wurde in den Berichten, ohne eine Wertung oder Schlussfolgerung vorzunehmen, nur der tatsächliche Ablauf dargestellt.

Dieser Zustand existierte seit Jahren, Veränderungen oder Verbesserungen waren nicht erfolgt. Ob Verluste eingetreten oder Manipulationen vorgenommen worden waren, hatten die Revisoren nie überprüft! Es fanden auch keine weitergehenden Analysen statt, um Missbrauch gegebenenfalls vorbeugen zu können. Im Gegenteil, man hatte kritische Feststellungen in den Zusammenfassungen für das Management, die jeweils von Offermann persönlich geschrieben wurden, so sehr weichgespült, dass ein Außenstehender nicht mehr verstehen konnte, worum es tatsächlich ging. Aus diesem Grund gab es auch nie Empfehlungen über Prozessverbesserungen, die die Risiken minimiert oder eliminiert hätten.

Die vier gingen ziemlich beeindruckt mit den anderen in die Mittagspause. Als sie zurückkamen, stellte ich eine positiv veränderte Stimmung im ganzen Team fest. Ich allerdings fragte mich, ob all diese Feststellungen, die erhebliche Risiken beschrieben, nur Offermann bekannt waren und sonst niemandem. Aufgrund unserer Berichtsanalysen erstellten wir eine Präsentation, mit der wir bei Frau Mohr antreten wollten. Das war nun nicht ganz ungefährlich, da ich nicht einzuschätzen wusste, wo Frau Mohr im Unternehmen wirklich stand und wie sie sich verhalten würde, wenn wir mit unserer Arbeit auch ihre Verantwortlichkeit tangieren würden. Aus diesem Grund entschärfte ich in der Präsentation all jene Punkte, die Mohr direkt betreffen könnten. Das war, bis auf Weiteres, eine Vorsichtsmaßnahme, die auch meine Leute verstanden.

Zwei Tage später war es so weit. Frau Mohr hatte sich eine halbe Stunde Zeit für mich und Müller genommen, allerdings bereits nach zehn Minuten ihrer Sekretärin einen Wink gegeben, dass das Gespräch mit uns länger dauern könnte.

Am Ende des Gesprächs war sie blass und unglaublich wütend. Sie behauptete, dass sie keinen der Berichte kannte, keine der für uns offensichtlichen Feststellungen war ihr offenbar je in dieser detaillierten Darstellung vorgelegt worden. Sie erklärte, dass Offermann in der Vergangenheit immer nur »Management Summaries« vorgelegt hatte, aus denen im Prinzip immer das Gleiche hervorging. Außer ein paar Kleinigkeiten hatte es nie signifikante Feststellungen gegeben.

Ich sah Mohr die ganze Zeit aufmerksam an. War ihre Verärgerung über Offermann echt? Bereitete sie nun mit Offermann schon mal ein Bauernopfer vor, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen? Wenn das stimmte, was Frau Mohr uns mit erstickter Stimme erklärte, dann hielt er das gesamte Management über den wahren Zustand des Unternehmens bewusst im Unklaren. Doch warum tat er das? War das denn niemandem aufgefallen – und vor allem, wem nützte das?

Nachdem Müller das Büro verlassen hatte, blieb ich noch ein paar Augenblicke sitzen. Frau Mohr sah mich nur stumm an, dann platzte es aus ihr heraus.

»Was um Himmels willen, was mache ich mit diesem Mann?«

Ich versuchte, sie zu beruhigen und erklärte ihr vorsichtig, wie wir mit den beschlossenen Aktionen, Prüfungen und Stichproben weiter vorgehen wollten, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Damit war sie einverstanden, doch wollte sie möglichst alles so schnell wie möglich in die Tat umgesetzt und Resultate haben. Trieb sie mich an, um das Thema schnell abschließen zu können? Ich wurde nicht schlau aus ihr.

»O. K., Herr Offermann bleibt vorläufig im Amt, allerdings wird er auf keinen Fall eingeweiht!«, erklärte sie plötzlich taff. Sie wollte ihm einen Sonderauftrag geben, der ihn und die meisten seiner Leute für die nächste Zeit beschäftigen würde. Seine Mitarbeiter könnten auch mir für die eine oder andere Aktion zur Verfügung stehen, wenn ich sie denn brauchen sollte.

Ich hatte nicht die Absicht, auf sie zuzugreifen, denn es war nicht auszuschließen, dass sie in die Handlungen ihres Chefs involviert oder zumindest eingeweiht waren. Mit diesem Wissen und dem erteilten Auftrag, ging ich in mein Büro zurück, um nun mein gesamtes Team zu instruieren.

»Liebe Kollegin, Kollegen«, fing ich an, »wir haben nun die Zustimmung von Finanzchefin Mohr für unseren Plan. Um diesen nicht zu gefährden, werden wir auch weiterhin nach außen so tun, als ob sich nichts an der bisherigen Arbeitsweise unserer Abteilung geändert hätte. Niemand erhält Informationen über unsere Arbeit, keine Ergebnisse gehen ohne Rücksprache mit mir an Außenstehende. Ist das klar?«

Alle nickten. Ich fragte noch mal, ob das jedem klar sei. Dann kam ein eindeutiges »Ja, Chef!«

»O. K., chi si ferma é perduto.« Ich sah die fragenden Gesichter. »Wer rastet, der rostet! Also lasst uns anfangen, denn es gibt viel zu tun.« Nun hatte ich die Unterstützung, die zusätzlichen Augen und Ohren, die ich brauchte, um hier nicht bald wieder mit Pauken und Trompeten unterzugehen. Hoffentlich nicht, denn Offermann war nicht der Mann, der so schnell klein beigab.