Kubinke

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Hedwig



Jeder wird mir – denke ich – nun zugeben, daß der erste April ein Schicksalstag ist, ein Tag, der Fäden knüpft und löst, Menschen bindet und trennt. Emil Kubinke trat seine neue Stellung an, und die drei Grazien Hedwig, Emma und Pauline lachten ihm entgegen und begannen, Blumen auf seinen Lebensweg zu streuen.



Und auch Herr Max Löwenberg fand am ersten April zum erstenmal den Weg hier hinaus, und er wechselte Grüße mit Herrn Ziedorn. Vornehmes Viertel, in dem selbst Friseure Zylinder tragen. In der Neuen Roßstraße hatte er das nie gesehen. Der ›gemütliche Schlesier‹ aber war keine Stunde bevor der neue Vizewirt, Herr Piesecke, in Erscheinung trat, bevor er sich aus dem unendlichen Menschengewirr der Großstadt ablöste, um hier Fuß zu fassen, den Laubenkolonien nachgezogen. So waren sich zwei Männer aus dem Wege gegangen, die sicherlich dazu bestimmt gewesen wären, innige Freunde zu werden. Und doch hatte es der schicksalsschwangere erste April wie absichtlich vermieden, sie zusammenzuführen. Mit Rat und Tat hätte Herr Piesecke dem ›gemütlichen Schlesier‹ zur Seite stehen können, denn er war selbst früher einmal Wirt am Wedding gewesen, bekannt drei Straßen in der Runde. Jetzt oder nie hätten sie sich finden müssen. Und nun sah Piesecke nichts von dem ›gemütlichen Schlesier‹ mehr als die schmutzigen Scheiben, die Flecke an den Wänden, die anderen Residuen und die achtzehn leeren Flaschen, die Piesecke sorgfältig, eine nach der anderen, gegen das Licht hielt.



Aber was der erste April schlecht gemacht hat, das wird der zweite nicht gutmachen, denn der ist eben

kein

 Schicksalstag mehr. Der ist einfach ein Tag wie alle Tage, ein Tag der gleichförmigen Arbeit, ein Tag der Mühe, des Erwerbs; und vielleicht birgt er auch etwas von jenem  Tropfen von Lust, den nun einmal der müdeste Strom noch mit sich führt. Aber das, was am ersten April leicht, Spiel und Freude war, wird am zweiten wieder Qual und Beruf. Und als Emil Kubinke aufwachte, da lag erst so eine frühe, trübe, mattblaue Helligkeit über dem schrägen Fenster, aber Herr Tesch stand schon in dem grauen Raum mit entblößtem Oberkörper vor seinem Waschständer und beugte plantschend seinen Kopf über die Schüssel. Emil Kubinke jedoch kam es plötzlich zu Bewußtsein, daß er diese Nacht über hier oben unter dem Dach doch recht gefroren hatte.



»Na nu mal raus aus de Posen, Kolleje!« rief Herr Tesch. »Es is höchste Zeit. Der Olle macht Ihnen sonst Krach!«



Und Emil Kubinke kroch fröstelnd aus dem Bett. Ach, gestern war ihm alles hier so freundlich entgegengekommen, und heute war es so grau und trist.



Als sie die Treppen herunterstolperten, kamen ihnen in der Dämmerung die Zeitungsfrauen und die Milchausträgerinnen entgegen, nicht frisch und derb und rot, sondern welk und keuchend. Und auf dem Hofe wirbelte schon Frau Pieseckes Besen. Frau Ziedorn ballerte immer noch Türen und stellte den jungen Leuten den Kaffee hin, so wie man einem Hund das Futter vorschiebt. Aber Herrn Ziedorns scharf geschnittener Männerkopf war zu interessanter Blässe vergeistigt. Und kaum daß Emil Kubinke die Schrippe halb aufgegessen, da ging auch schon die Schelle an der Ladentür. Und Emil Kubinke wischte sich mit den immer noch klammen Fingern die Krümel vom Mund und ging vor, bedienen. Aber die Kunden jetzt am Morgen hatten keine Zylinder und keine Brillantringe und keine breit gesteppten Paletots, und sie sagten ganz tief »Mahlzeit«, wenn sie eintraten, und noch tiefer »Mahlzeit«, wenn sie gingen. Und sie ließen sich nur einmal überrasieren, legten keinen Wert auf Pudern oder Spritzen, wuschen sich schnell noch den  Seifenschaum von den Ohren und den Schläfen ab und machten, daß sie weiterkamen, auf den Bau oder ins Geschäft, zu ihren Packen, Wagen und Dreirädern. Und Herr Ziedorn schwang selbst das Messer. Hier hieß es nämlich die Kunden schnell abfertigen – denn, wenn sie einmal warten mußten, kamen sie nicht wieder, – das wußte er. Und Herr Ziedorn hatte, wie wir schon sahen, kein Vorurteil. Jeder war ihm gleich, der ihm Geld brachte, arm oder reich. – Verdienen wurde bei ihm groß geschrieben. Leben und leben lassen – war sein Wahlspruch. In Wahrheit aber kam es ihm mehr aufs Leben, als aufs Lebenlassen an. Plötzlich gegen acht Uhr jedoch schien dieser eine Strom versiegt. Nicht ein einziger mehr mit Mütze, im Sporthemd, ohne Kragen, in blauem Leinenkittel! Und schon kam langsam wieder der erste Zylinder, langsam der erste englische Hut, die ersten blitzenden Brillantringe, während jetzt Emil Kubinke seinen Autoschal um den Hals warf, seine Messer noch einmal prüfte und seinen Gang zur Kundschaft begann. Die merkwürdige Zaubermacht des Autoschals bewährte sich auch dieses Mal: Emil Kubinke war ein ganz anderer, als er ihn um die Schultern fühlte, und da zudem soeben die Sonne durch einen grauen Himmel brach und die Straße hell, farbig und lustig machte, so begann Emil Kubinke wieder mit den schönsten Trillern, während er die Hausglocke zog, um Herrn Max Löwenberg seine Aufwartung zu machen.



Aber Emil Kubinke hatte noch nicht zwei Schritte auf dem roten Teppich des Vestibüls zurückgelegt, als aus der Luke der Portierloge ein Kopf herausschoß wie ein bläffender Hofhund aus seiner Hundehütte: »Wo wollen Se'n hin?«



»Löwenberg«, sagte Emil Kubinke bescheiden.



»Denn jehn Se ma jefälligst über de Hintertreppe! Det war ja det Neuste, wenn mit eenmal de Babiere über de  Vordertreppe jehn wollten! Det wird ja alle Tage schöner! Und 'n andermal jehn Se durch 'n Nebeneinjang, – hab'n Se mich verstanden?«



Und wie Emil Kubinke schon auf der Hintertreppe war, da brüllte der neue Vizewirt, Herr Piesecke, immer noch hinter ihm her.



Man möge deswegen nicht schlecht von Herrn Piesecke denken. Er war, wie wir noch sehen werden, von Hause her ein ganz gemütlicher Mann. Aber er war nun zu lange schon Vizewirt in vornehmen Häusern gewesen, um nicht in Harnisch zu geraten, wenn jemand die Vordertreppe benutzen wollte, den er für die Hintertreppe reif hielt.



Emil Kubinke war nicht stolz, und er legte kein sonderliches Gewicht auf Vordertreppe oder Hintertreppe. Aber er war doch im Augenblick verwirrt, daß sein neuer Autoschal so gar keine Wirkung auf Herrn Piesecke ausübte. Dann jedoch dachte er, daß er vielleicht in der Küche einen Augenblick unbemerkt mit Pauline sprechen könnte. Und Pauline gefiel ihm nun mal durch ihre Vornehmheit am allerbesten. Und als Emil Kubinke jetzt klingelte, da war es nicht vom Treppensteigen, daß ihm das Herz klopfte. Aber heute war nun einmal keineswegs mehr der erste April, und als Emil Kubinke sein freundlichstes Lächeln aufsetzte, um schon

damit

 Paulines harten Sinn zu erweichen, da blickte er mit einmal in ein altes, gelbes, kleines, runzliges Gesicht einer großen, stockdürren Person, sah ein paar verschleierte Augen und eine rote Himmelfahrtsnase, und eine Stimme im reinsten Ostpreußisch, wie das Quarren einer rostigen Türangel fragte ganz hoch: »Äh, was wollen Se denn, junger Mann?«



»Ich bin der Barbier.«



»Da missen Se noch lauern; der jnädige Herr sitzt jrade in de Badewanne«, sagte die Köchin und ließ Emil  Kubinke in die Küche eintreten, die in ihrer Unordnung nicht viel anders als gestern abend ausschaute. Dann ging die Köchin selbst zur Badestube und hieb mit ihren harten Fäusten gegen die Tür.



»Kommen Se raus, Herr Löwenberch, der Barbier is da.«



Und drinnen brüllte etwas: »Warten!«



Hinten aber am Ende des Korridors steckte Pauline ihren rotblonden Kopf durch eine Türspalte. Und patsch, patsch kam es auf ganz kleinen Füßen den Korridor entlang gewackelt. Und eine Frauenstimme rief: »Aber unser Goldhänschen soll doch nicht immer zu der Anna in die Küche gehen!«



Das Goldhänschen jedoch ließ sich nicht beirren und machte, daß es weiterkam, nahm in der Küche mit seinen O-Beinen vor Emil Kubinke Aufstellung, steckte den einen Finger in die Nase und sagte: »Mann – Mann.« Denn trotzdem Goldhänschen – es war schwarz wie ein Rabe – bald zwei Jahre alt war, verfügte es doch über einen sehr geringen Wortschatz, den es aber dadurch zu vergrößern strebte, daß es alles zweimal sagte. Und eine alte Dame kam Goldhänschen nachgestürzt, riß es mit der Gewalt eines Wirbelwindes vom Boden hoch, küßte Goldhänschen auf sämtliche Backen, wo sie gerade hintraf, und knudelte es herum wie ein Bündel Wäsche, während sie zwischendurch in der halbblödsinnigen Art der Großmütter mit lallender Stimme behauptete, daß sie hier aber auch alle zu dem Kind schlecht wären.



Und Herr Löwenberg ging im Bademantel, wie ein Araber mit flatterndem Burnus, den Korridor entlang. Und als Herr Löwenberg dann vorn im romanischen Herrenzimmer fest auf dem Schreibtischstuhl saß, den Kopf im Genick, als er ganz unter Seifenschaum stand und sich nicht wehren konnte, da kam die alte Dame, die immer noch Goldhänschen auf ihrem Arm einer Massagekur unterwarf, und erzählte, wie himmlisch der  Junge gestern wieder bei ihr gewesen wäre. Als das ›Leisch‹ auf den Tisch gekommen wäre, hätte er ganz deutlich ›Leisch‹ gesagt, und von allem hätte er haben wollen. Diese frühe geistige und körperliche Reife aber erinnere sie zu sehr an ihre Tochter Betty, der er ja auch wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Denn die hätte auch einmal, als sie noch ganz, ganz klein war, mit fünf Monaten bei ihrer eigenen Schwiegermutter – die nebenbei ein Aas war – als sie dazukam, mit bei Tisch gesessen und frische Wurst gegessen. Man denke: mit fünf Monaten! – Und nicht wahr, Goldhänschen würde das auch fertig bekommen?



Aber Herr Löwenberg, der gerade unter dem Messer war, konnte nicht, – wenn er nicht sein Leben in Gefahr bringen wollte, – seine Zweifel über diese Darstellung verlautbar machen. Und das war gut. Denn er hätte mit diesem Zweifel nur den schwer versöhnlichen Zorn der alten Dame heraufbeschworen, die das nicht etwa leichtfertig hingesagt hatte, sondern die fest überzeugt war, daß ihre Aussage dem Tatsachenbestand entspräche. Zur Richtigstellung muß aber doch bemerkt werden, daß die jetzige Frau Betty Löwenberg damals nicht fünf Monate, sondern ein Jahr und fünf Monate war, und daß sie nicht bei Tische saß, sondern auf dem Arm des Kindermädchens, und daß sie nicht frische Wurst aß, sondern nur mit ihren neuen Beißerchen an einem Stückchen Weißbrot knabberte. Alles übrige aber in Frau Rosa Heymanns Erzählung beruhte, um nicht ungerecht zu sein, auf lauterster Wahrheit. –

 



Und noch hatte Goldhänschen nicht die Zeitung vollkommen zerrissen – die dritte Beilage, die einzige Lektüre seiner Mutter, verschonte er instinktiv – und noch war Emil Kubinke nicht mit Nachrasieren fertig, als Frau Betty Löwenberg selbst in einer rosaseidenen Matinee, in einem klingenden Wasserfall aus Troddeln, Behang  und Besätzen hereingerauscht kam und ihrem Gemahl einen Zettel überreichte: das, was sie da aufgeschrieben hätte, möchte er ihr aus der Stadt mitbringen. Hier draußen bekäme man ja überhaupt nichts, und es täte ihr schon leid, daß sie hier herausgezogen wäre, und sie wäre ja auch von Anfang an dagegen gewesen. Nun hätte ja Herr Max Löwenberg sagen können, daß

er

 sich solange gesträubt hätte, in den Westen zu ziehen, weil er in der Nähe seines Geschäfts bleiben wollte, und daß Frau Betty ihm täglich und stündlich damit in den Ohren gelegen hätte, ja, daß sie sogar höchst peinliche Straßenbelästigungen erfunden hatte, so daß er sich endlich entschließen mußte, die Neue Roßstraße zu verlassen. Aber Herr Max Löwenberg war klug genug, einzusehen, daß er hier als einzelner durchaus in der Minderzahl war; und außerdem läßt man sich ja von einem stillen Kompagnon, der einem hunderttausend Mark ins Geschäft gebracht hat und von dem noch einmal über kurz oder lang – denn Frau Heymann mußte schon jedes Jahr nach Karlsbad – zum mindesten die gleiche Summe zu erwarten ist, manches sagen, das man in einem anderen Falle nicht unwidersprochen lassen würde. So also erwiderte Herr Max Löwenberg freundlich, daß er alles gut besorgen würde, und Frau Löwenberg drückte ihm einen Pflichtkuß auf die frisch rasierte Wange, und Goldhänschen streckte die Arme nach einem romanischen Löwen aus, der wie ein mißratener Pudel auf dem Bücherspind thronte, und machte ›Birr – birr‹. Und Frau Rosa Heymann begann Goldhänschen von neuem zu küssen, zu knudeln und zu drücken, während Frau Löwenberg und ihr Gatte in stummer Verzückung verharrten.



Man wird sich vielleicht wundern, woher Löwenbergs, die doch gestern so einsam waren wie Brüderchen und Schwesterchen im wilden Wald, nun mit einmal so zahlreich geworden sind. Aber da Goldhänschen gestern  während des Umzugs bei seiner Großmutter in der Sächsischen Straße wirklich vorzüglich aufgehoben war, so lag kein Grund vor, uns seiner anzunehmen. Und die Köchin Anna war eben heute mit dem Frühsten aus Schmoditten von ihrer immer noch todkranken Mutter zurückgekehrt, weil sie es nicht über das Herz brachte, die Herrschaft so lange allein zu lassen. Und wenn sie trotzdem die weite Reise, die beschwerliche Nachtfahrt in der vierten Klasse nicht sonderlich angestrengt hatten, so war vor allem der Grund hierfür darin zu suchen, daß Anna die letzte Nacht wie die vorangehenden Tage keineswegs in Schmoditten, sondern in der Wohnung ihres Schwagers, des verwitweten Gelegenheitsarbeiters Hermann Pepusch, Fehrbelliner Straße dreiundzwanzig, Quergebäude vier Treppen, zugebracht hatte. Denn wenn die brave Anna, eingetrocknet wie eine Backbirne, mit ihren dreiundvierzig auch längst von den

Jahren

 der Jugend Abschied genommen hatte, so hatte sie damit doch noch nicht der

Quadrille

 der Jugend den Rücken gekehrt.



Im Eßzimmer erwischte Emil Kubinke noch für einen kurzen Augenblick Pauline, die eifrig mit einem Staublappen an dem Schnitzwerk der Ritterburg herumrieb. Ihr rotblondes Haar stand ihr wie ein Lichtschein um das helle, etwas sommersprossige Gesicht.



»Na, wie haben

Sie

 denn heut geschlafen?« fragte Pauline und stieß Emil Kubinke zart bedeutsam mit dem Ellbogen in die Seite.



»Ach, gar nicht gut«, sagte Emil Kubinke leise. »Es ist doch sehr kalt oben.«



»Bei mir war es

sehr

 schön warm«, sagte Pauline scheinbar ganz harmlos, aber keineswegs ohne jeden Nebenton. Und sie sah dabei den kleinen, schüchternen Emil Kubinke mit einem Paar Augen an, daß ihm jetzt nachträglich auch sehr schön warm wurde.



 »Ja, das glaube ich«, sagte der verlegen. »Sie haben ja Heizung.«



»Aber nich zu knapp«, entgegnete Pauline stolz und hielt es für angebracht, mit dem Staubtuch nach Emil Kubinke zu schlagen.



»Und wie gefällt's Ihnen denn hier?« fragte Emil Kubinke halblaut und brachte seinen Kopf – es zog ihn so – in bedenkliche Nähe zu dem rotblonden Heiligenschein Paulines.



»Hier? – Bei die Leute bleibe ich nich acht Tage! Mit die Olle, mit die Köchin, kann sich ja kein Mensch vertragen. Die Olle is ja verrückt!«



»Ach, bleiben Sie man hier, Fräulein«, sagte Emil Kubinke. »Das wäre doch wirklich nichts, wenn Sie wieder wegzögen!« »Mit einmal! Es sind so viel andere Mädchen hier im Haus. Sehen Se, die Hedwig drüben, die hat ja schon vorhin aus'n Fenster jekukt, wie Sie übern Hof jegangen sind.«



Plötzlich erhob im Nebenzimmer Goldhänschen ein Mordsgebrüll. Es war über eine Fußbank gefallen und schrie nun ohne Aufhören, als ob es am Spieß stecke, trotz Mutter und Großmutter, die ihm mit kaum geringerer Lungenkraft die Worte: »Lade, Lade« und »Bonbonchen« entgegenbrüllten. Und Emil Kubinke machte schnell, daß er aus dem Zimmer kam, denn es wäre ihm doch unangenehm gewesen, wenn man ihn hier noch angetroffen hätte.



Aber Pauline rief noch einmal »St, st!« hinter ihm her; und als Emil Kubinke sich umdrehte, da sagte sie: »Vergessen Sie nicht, frisieren, – am achtzehnten – aber bestimmt.« Und dabei versprachen Paulines große, dunkle, feucht schimmernde Augen dem glücklichen Emil Kubinke die allerschönsten Dinge.



»Nein, nein«, sagte Emil Kubinke. Und plötzlich faßte er sich ein Herz, und nur er wußte, was er damit meinte:  »Aber vergessen

Sie

 auch nicht!« rief er. Und dann beeilte sich Emil Kubinke ob dieser Kühnheit, daß er nur ganz schnell den Gang herunterkam.



Draußen stand am offenen Herd die alte Köchin; und sie glich, wie sie da mit dem Feuerhaken herumstocherte, vom Flammenrot bestrahlt, auf ein Haar der Alten aus der Hexenküche.



»Äh«, sagte sie, »haben Se ieber mich jesprochen? Was hat Ihn' denn die Pauline von mir jesacht?«



»Über Sie? Wir haben nich ein Wort über Sie gesprochen«, sagte Emil Kubinke und machte, daß er aus der Tür kam.



Aber da wäre er beinahe gegen den Hilfsbriefträger, Herrn Schultze, geprallt, der im gleichen Moment drüben aus der anderen Tür trat. Sein Kopf war so rot wie der Streifen um seine Mütze, und hinter ihm tauchte die lange, blonde Emma auf, ebenfalls in schönster Sommerfarbe, und die Haare wirr wie ein Flederwisch.



»Also dann komme ich mit dem Einschreibebrief noch einmal wieder«, sagte Herr Schultze plötzlich sehr laut, sehr würdig, sehr ernst und sehr dienstlich. Und auch die lange, blonde Emma fühlte, daß man einen Beamten nicht verraten oder kompromittieren dürfe. Und sie sagte so laut, daß es Emil Kubinke hören

mußte

, als er die Treppe hinunterging: »Jejen zwölwe treffen Se de Frau am sichersten.«



Aber seltsam – Herr Schultze mußte doch noch andere und geheime Aufträge für die Herrschaft der blonden Emma haben, denn trotzdem Emil Kubinke nun ganz langsam die Treppe hinunterging, hörte er doch keinen Tritt hinter sich, und nur ein ganz leises Tuscheln verriet ihm, daß da oben noch gesprochen wurde.



Bei Herrn Markowski öffnete Hedwig Emil Kubinke die Tür. Klein, fest, rund, vollbusig, mit einem Kopf wie eine vergnügte Kegelkugel. Das Gesicht glänzte nur so.  »Na?« fragte sie, »Ihr Kollege, der Herr Tesch, kommt wohl nicht mehr?«



»Nein,

ich

 bediene von jetzt an außerm Hause.«



»Ach, was Sie sagen«, versetzte Hedwig und zupfte verlegen an ihrer Schürze.



»Sie haben wohl meinen Kollegen gut leiden können?«



»Den?« meinte Hedwig verächtlich, »den? – der bild sich ja ein, er is 'n Affe, und die andern sind jarnischt.«



»Aber der Schlächter, der jefällt Ihnen jewiß besser, Fräulein?«



»Mir? – Na nu wird's Tag! Ick hab mit den Schlächter höchstens zweemal in mein' Leben jesprochen.«



»Aber Sie haben doch gestern mit ihm oben auf de Treppe in de Ecke gestanden?«



»Ich? – Det wird wohl die Aujuste vom dritten Stock jewesen sein. Ick bin jestern überhaupt schon um halbneun in de Falle jekrochen. So miede war ick.«



Emil Kubinke blinzelte mit den Augen. »Na, dann habe ich mich jeirrt«, sagte er.



»Det will ich auch meinen«, gab Hedwig kurz zurück.



Von drinnen hörte man Herrn Markowski brüllen:



»Zum Donnerwetter, ist denn der verfluchte Kerl von Barbier noch nicht da? Ich muß ja fort!«



Aber als Emil Kubinke hereintrat, da war Herr Markowski wie umgewandelt.



»Na, es ist nur gut, daß Sie überhaupt noch einmal kommen«, sagte er freundlich, nachdem er sich von dem Staunen, ein neues Gesicht zu sehen, erholt hatte.



»Ist Francillon Erster?« rief er dann und knöpfte sein Jägerhemd zu, aus dem seine deutsche Männerbrust rauh und unverhüllt hervorgesehen hatte.



Emil Kubinke sah Herrn Markowski erstaunt an.



»Mann Gottes!« schrie der, »ich frage Sie ja nur, ob Francillon Sieg oder Platz ist! Verstehen Sie mich denn nicht?«



 »Ich habe noch nichts gehört«, stotterte Emil Kubinke.



»Natürlich!« brüllte Herr Markowski, »natürlich werde ich schon wieder meine paar Kröten verlieren. Aber bestellen Sie nur Ihrem Herrn Ziedorn, er sieht samt seinen todsicheren Sachen keinen Groschen mehr von mir. Das ist ja lächerlich! Neulich, wo ›Revanche‹ achtzehnfaches Geld gibt, sagt der Esel, ich soll auf ›Mon Petit‹ setzen! Und jetzt macht Francillon auch nichts! Das kann mich einfach scheußlich ärgern!«



Herr Markowski war, – wie wir schon anläßlich des »Ziedornins« sahen, – von Temperament Choleriker; aber er war, wie alle Choleriker, nicht nachtragend, und er ließ nie einen Unschuldigen seinen Zorn entgelten. Und als Emil Kubinke seine Aufgabe zu Herrn Markowskis vollster Zufriedenheit – und was Rasieren anbetraf, war das nicht leicht – erledigt hatte, ließ Herr Markowski ihm hoheitsvoll ein Geldstück in die Hand gleiten.



Als Emil Kubinke das Rasiergeschirr herausbrachte, plantschte Hedwig immer noch unwirsch mit dicken, entblößten Armen am Abwaschtisch. Jetzt schien sie gar nicht mehr auf ihn zu achten. Und Emil Kubinke sagte sich, daß er sie gewiß vorhin beleidigt hätte. Schließlich konnte es ja auch wirklich die Auguste vom dritten Stock gewesen sein. Männer sind nämlich wie Kinder. Sie glauben immer das, was man ihnen sagt.



Aber Emil Kubinke wollte sich doch nicht so ganz geschlagen geben.



»Na, Fräulein Hedwig«, sagte er, und er dämpfte seine Stimme zu bestrickender Weichheit, »kommen Se heute abend nach neune nich noch 'n bißchen vor de Tür?«



»Det könnte Ihn' woll so passen«, sagte Hedwig spitz und wandte kaum den Kopf nach ihm. »Ick jeh des Abends überhaupt nicht runter.«



»Na, dann vielleicht diesen Sonntag, Fräulein Hedwig? Haben Sie da Ausjang?«



 »Den Sonntag fahr ick zu meine Freundin nach 'n Gesundbrunnen. Mit Herren jeh ick nie aus! Sowas

mache

 ich nich. Da können Se sich 'ne andere zu suchen!«



Emil Kubinke stand ganz verschüchtert und puterrot. Weniger über die Abweisung, die er erfuhr, als über die geringe Erfahrung, die er in der Beurteilung des weiblichen Geschlechts bewiesen hatte. Als Hedwig das sah, regte sich doch ihr mitleidiges Herz, und – indem sie den Ton von Dur auf Moll herabstimmte, – fügte sie hinzu: »Es jibt jewiß so viele, die gern mit Ihn' jehn wollen. Warum denn auch nich? Sie sind doch 'n janz hübscher Mann!«



»Ach, all die andern sind ja lange nich so nett wie Sie«, meinte Emil Kubinke, denn er war nun einmal mehr für die kleinen, drallen, frechen Sperlinge, als für die schönsten Tauben auf dem Dach.



»Nee«, sagte Hedwig und tat die Nickelkanne zu den Tassen aufs Tablett, »den Sonntag kann ich wirklich beim besten Willen nich. Da muß ich zu meine Landsmännin nach 'n Jesundbrunn' fahren. Die hat mir jeschrieben.«



Und damit ließ sie Emil Kubinke stehen und ging, das Tablett in beiden Händen, den Korridor hinunter; und wieder wie gestern abend sah Emil Kubinke ihr nach, sah den schönen Gang, die breiten Schultern, das volle Haar, und die Worte des Herrn Tesch kamen ihm auf die Zunge, als er die Tür hinter sich ins Schloß zog: »Ein nettes Mächen. Es sind

wirklich sehr

 nette Mächens hier im Haus.«

 



Und weiter lief Emil Kubinke. Treppauf, treppab, überall über die gleichen grauen Hintertreppen; und überall sah er neue Gesichter, neue Schicksale. Hier kam er in eine große Wohnung mit einer ganzen Reihe von Zimmern, in denen ohne Bedienung zwei einsame alte Leute wie zwei letzte, übriggebliebene Kanarienvögel in einer Riesen-Voliere hausten, – er wie sie schon halb  närrische Sonderlinge. Da aber saßen wieder zehn, zwölf Personen eng gepfropft in einer Vierzimmerwohnung, und Emil Kubinke konnte kaum den Kunden rasieren, weil ihm die Kinder zwischen den Füßen herumliefen. Da gab es ältere Herren, die sich mit ihren Wirtschafterinnen duzten; und ein Literat kam endlich nach langem Klingeln und Klopfen im Nachthemd Emil Kubinke öffnen und drang ihm, als er fortging, einen Kognak auf. Da war ein Agent, bei dem die Möbel versiegelt waren, und der selbst in der Wohnung nicht das Monokel aus dem Auge ließ, nur damit man ihn vielleicht für einen Offizier in Zivil halten könnte. Ein Musiker war da, der in Unterhosen und rotem Sammetschlafrock vor dem Flügel saß, und der sein Spiel nicht unterbrach, sondern Emil Kubinke zehn Minuten warten ließ, bis er all seine Läufe und Übungen heruntergetrillert hatte. Diese empfingen ihn, als ob er ihr Vetter wäre, gaben ihm Zigarren und Trinkgelder, und jene knurrten kaum Ja und Nein auf seine bescheidenen Fragen, – alle aber schimpften, er käme zu spät, sie warteten, sie müßten fort, – und keiner dachte daran, sogleich nach dem Rasieren sich weiter anzuziehen.



Und als Emil Kubinke endlich zurückkam, da fragte Herr Ziedorn, wo er denn so lange geblieben wäre. Herr Tesch wäre immer schon viel früher zurückgekommen. Aber Emil Kubinke erwiderte, daß ihm eben noch alles neu wäre, und daß er morgen schon weniger Zeit brauchen würde.



Und am Nachmittag setzte Herr Ziedorn wieder seinen Zylinder auf, denn er war, wie er laut verkündete, in den Ehrenausschuß der Fachausstellung der Friseure gewählt worden, und da hätte er heute eine wichtige Sitzung. Aber wie das nun mal bei solchen Sitzungen ist, man wird sich, wenn jeder seinen eigenen Kopf hat, nur schwer über die strittigen Fragen einig. Es dauert meist  sehr lange, und sie müssen oft wiederholt werden, ehe man zu einem Resultat kommt. Und so ging eben Herr Ziedorn von nun an jede Woche zweimal nachmittags mit Zylinder und gelben Glacés in die Sitzung des Ehrenausschusses der Fachausstellung der Friseure. Frau Ziedorn war versöhnt und stolz auf die neue Würde ihres Mannes; Emil Kubinke aber und Herr Tesch, die mit den Dingen besser Bescheid wußten, schwiegen als lächelnde Auguren.



Und am Nachmittag gab Herr Tesch Emil Kubinke eine ganze Zahl von Photographien von jungen Damen. Er möchte ihm raten. Denn Herr Tesch hatte unter ›Innig 185‹ sich als einen jungen, vielversprechenden Mann von angenehmer Gemütsart in einer Heiratsannonce dargestellt, und hatte nun eben die angesammelten Früchte von der Zeitungsfiliale eingeheimst. Aber Emil Kubinke war mißtrauisch. Und wirklich sagten ihm die Haartrachten, daß viele der Photographien zu ihren heutigen Besitzerinnen sich ebenso verhielten wie die lachenden Knabenbilder auf den Straßenbahnkarten zu den bierbäuchigen und vollbärtigen Abonnenten. Und so konnten sie sich nicht auf die gleiche Dame einigen. Emil Kubinke war für eine dreiundzwanzigjährige Witwe mit vornehmer Nußbaumeinrichtung, während Herr Tesch sich doch mehr zu einer bemittelten Landwaise mit Kind hingezogen fühlte.



Überhaupt, – wer in Herrn Tesch nur einen schlichten und einfachen Menschen vermutete, war im Irrtum. Herr Tesch war eine sehr komplizierte Natur von reichem Innenleben. Er war der beliebteste Komiker des Theaterklubs ›Joseph Kainz‹, und er ging außerdem jeden Freitag abend in den Witwenverein ›Verlorenes Glück‹, allwo er sich als ›Justav mit der Tolle‹ vor allem wegen seines figurenreichen Contretanzes einer großen Volkstümlichkeit erfreute.



 Und die Tage gingen hin für Emil Kubinke in der ermüdenden Gleichförmigkeit der Arbeit. Alte Kunden wie der Agent verschwanden plötzlich mitten im Monat aus der Gegend. Eines Morgens war das Nest leer und der Vogel ausgeflogen. Und neue Kunden kamen hinzu. Und Emil Kubinke mußte die Strecke

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