Kubinke

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»Der Chef ist gegenwärtig nicht momentan«, sagte er und begann aus dem Schaumkloß eine menschliche Figur auszuwickeln, »aber er muß jeden Augenblick zurückkommen.«

Und während der neue Kollege nun mit der Linken noch den Frisiermantel ausstäubte und mit der Rechten schon der eben entwickelten menschlichen Figur etwas Seifenschaum gegen die Wangen spritzte, – denn er wollte nur an den Schläfen noch ausrasieren, – stand Emil Kubinke ganz klein, reglos und bescheiden und ließ seine Augen wandern. Hell war es. Sehen konnte man, und – oh, da waren ja richtige Marmorbecken – gleich mit warmem und kaltem Wasser, und die Spiegel hatten Goldleisten. Das Alphabet war dick gefüllt mit Abonnementskarten, und sogar unter dem ›Q‹ steckten etwelche. Die Spritzflakons und die Puderdosen waren alle aus Nickel, und die Schaumbecken mit ihren Zahlen gingen in die Hundert. Von den Tuben mit Bartwichse, von dem flüssigen Heftpflaster und den Mundpillen schien man sogar hier auch etwas zu verkaufen, denn die Kartons, an denen sie aufgereiht, waren schon halb leer. Aber Emil Kubinke war zu sehr Fachmann, um sich durch Äußerlichkeiten blenden zu lassen. Und richtig, – hinten in dem Verschlag, in dem die Streichriemen hingen, konnte man sich ja kaum umdrehen, und das Handtuch, das da hervorlugte, – das zum Händetrocknen für die Gehilfen, – wartete sicherlich schon viel zu lange auf die Wäsche. Endlich war es eben überall gleich – im Geheimratsviertel genauso wie in der Brunnenstraße.

Aber während Emil Kubinke noch so seine Beobachtungen machte und seine Schlüsse zog, und während er nur so mit einem Ohr hinhörte, wie der Kollege den Kunden fragte, ob »Spritzen angenehm« wäre oder »Puder gefällig«, ob »Öl, Crême oder Stein« verlangt würde – währenddessen kam Herr Ziedorn.

»Sie, Meister«, rief der Kunde, der eben nach dem langen Sitzen hin und her trampelte, um wieder in den richtigen Gebrauch seiner Gliedmaßen zu kommen, – »Sie! Mit Ihrem verfluchten ›Ziedornin‹ haben Sie mich ja nett reingelegt. Sehen Se mal hier, – die Haare werden mir ja janz jrau danach!«

»Das muß in Ihrer Familie liegen, Herr Markowski, und außerdem finden Sie ja bereits frühzeitiges Ergrauen bis in das höchste Alter«, versetzte der Chef mit höflicher Bestimmtheit. »Bei meinem ›Ziedornin‹ ist eine derartige Nebenwirkung noch niemals beobachtet worden.«

Aber Herr Markowski war gekränkt. Auf seine Familie ließ er nun ein für alle Male nichts kommen. »Meine Großmutter hat mit fünfundachtzig Jahren noch kein einziges graues Haar gehabt«, sagte er, »und mein Vater mit siebenundsechzig auch nicht.«

Aber Herr Markowski war trotzdem ein durchaus nobler Charakter, und er ließ seinen Unmut über die Mißwirkung des »Ziedornins« keineswegs etwa einen Unschuldigen entgelten. Und Emil Kubinke sah deutlich, wie Herr Markowski dem neuen Kollegen, als jener ihm in den Mantel half, mit lässiger Geste ein Geldstück in die Hand gleiten ließ.

›Die Gegend ist wirklich recht gut‹, – sagte sich Emil Kubinke. Er stand immer noch, trat von einem Fuß auf den andern, und sein Köfferchen war ihm recht schwer.

Nachdem die Tür hinter Herrn Markowski geklappt hatte, fuhr Herr Ziedorn, ohne auf Emil Kubinke zu achten, im Laden auf und nieder. Er war mißgelaunt. Nichts stand da, wo es stehen sollte, und dieser Mensch hatte ihn sogar vor seinem eigenen Personal blamiert. Endlich schien er des harrenden jungen Mannes ansichtig zu werden. »Ah«, sagte er mit der Miene des vielbeschäftigten Leiters eines Welthauses, als ob er sich nur ganz dunkel der Existenz des anderen erinnerte, »sind Sie nicht der neue Gehilfe? Wie heißen Sie doch gleich?«

Emil Kubinke stotterte seinen Namen.

»Nun«, sagte der Chef begütigend, »lejen Se sich man vor allem ordentlich bei's Damenfrisieren und bei de Haararbeiten dahinter. Dann können Se bei mir 'ne Lebensstellung haben.« Und dann wandte Herr Ziedorn seinen markanten Männerkopf dem andern Gehilfen zu. »Herr Tesch, Sie werden sich mit Herrn Kubinke, der Ihr neuer Kollege ist, zu vertragen haben«, sagte er. »Vielleicht bringen Sie ihn erst nach oben; kommen Sie aber bald wieder, – und dann zeigen Sie ihm hier alles.«

Und Emil Kubinke trottete mit seinem Köfferchen hinterher durch einen langen Gang, der von zwei, drei durchbrochenen Türen sein höchst kümmerliches Licht bekam und so eng mit Kommoden, Körben und Schränken verstellt war, daß Emil Kubinke sich mit seiner Pelerine und seinem Köfferchen kaum durchwinden konnte. Die Luft mit ihrem Gemisch von Küchengerüchen und dem multrigen, feuchten Dunst der Keller- und Tiefparterrewohnungen war Emil Kubinke nicht fremd und kaum noch unangenehm. Er hatte durch Jahre zuviel in den gleichen, ebenerdigen Zimmern geschlafen, um vor ihr zurückzuschrecken.

»Früher haben wir hier gewohnt«, flüsterte Herr Tesch und zeigte auf eine Tür, »aber seitdem der Chef sein Zeug janz alleine braut, da braucht er die Zimmer wieder. Und wissen Se, oben is es auch janz jut. Da kann man machen, was man will, – da fragt keen Mensch nach einem.«

»Wie is denn der Chef?« fragte Emil Kubinke, während er langsam die engen Windungen der Korkenziehertreppe emporstieg und nur einen Augenblick auf einer der kleinen Inseln hielt, die sich vor den Küchentüren dehnte und die noch einmal zum Überfluß jedes Stockwerk unterbrachen.

»Der Olle is soweit janz nett«, meinte der Kollege. Aber er verschwieg dabei, daß Herr Ziedorn Ostpreuße war und daß dieser Charakterfehler sich eben nie wieder gut machen ließ.

»Ja, mein voriger Chef war auch ein janz anständiger Mann«, meinte Emil Kubinke.

»Warum sind Se denn da eigentlich wechjejangen?!« fragte Herr Tesch, und der Ton seiner Worte war ebenso unsicher wie der Emil Kubinkes. Sie waren noch wie zwei Hunde, die erst die Nasen aneinander reiben und noch nicht recht wissen, ob sie lecken oder beißen sollen.

»Mein vorjer Chef is alle jeworden. Was er nu macht, weeß ich ooch nich. Es war da nischt los.«

Herr Tesch war zufrieden. Der da würde nicht zuerst beißen.

Ein blonder Kopf kam neugierig durch eine Türspalte.

»Na, Fräulein Hedwig, was machen Se denn? Sie haben's jut. Den janzen Tag über können Se in de Küche sein.«

»Du ahnst es nicht«, versetzte Hedwig. Und jetzt schob sich auch ein Arm und ein Teil einer fülligen Barchentbluse durch die Türspalte.

»Letzten Sonntag haben Se doch wieder mit Ihrem Schlächter bis zwei Uhr im Hausgang jestanden. Haben Se mich nich jesehn? Nee? Aber ick Sie. Nich zu knapp!«

»Is jrade was Scheenes«, versetzte Hedwig und zeigte Herrn Tesch wie ein ungezogenes Kind die Zunge zwischen den weißen Zähnen.

»Sehen Se – und mit mir jehen Se nie aus!«

»Ach wat, mit Ihnen verschlag ick ma ja bloß de Kunden.«

Emil stand abseits mit seinem Köfferchen, und er war rot geworden. Denn dem anderen Geschlecht gegenüber, vor allem wenn es jung, frisch und hübsch war – und das war Hedwig, Donnerwetter noch einmal! – dem anderen Geschlecht gegenüber war er noch sehr schüchtern.

»Is das vielleicht Ihr neuer Kollege? Ja? Na sehen Se, mit den könnt ick zum Beispiel jleich jehn! Der jefällt ma viel besser wie Sie. For schwarze Männer schwärm ick!«

»Sie wissen ja noch gar nicht, ob ich mit Ihnen gehen will«, versetzte Emil, und er war selbst erstaunt, daß er das herausbrachte. Ganz heiß wurde ihm dabei.

»Na denn nich! Meinen Sie vielleicht, mir macht das was? Ick brauch bloß so zu machen, denn hab ick an jedem Finger zehne!«

Drinnen in der Küche hörte man rumpeln, und Hedwig zog schnell ihren Kopf wieder zurück.

»Adje, Herr Tesch«, sagte sie noch und winkte mit den Augen, während sich schon – als ob ein Vorhang darüber fiele – die Tür leise zuzog.

»'n nettes Mädchen«, sagte der keineswegs gekränkte Herr Tesch befriedigt und belehrend. »Es sind überhaupt sehr nette Mädchen hier im Haus!«

Es ging immer weiter die schmale Wendeltreppe hinauf.

»Wie hoch geht denn das noch?« fragte Emil Kubinke.

»Noch immer höcher! Noch immer höcher«, sagte Herr Tesch. »Oben bein Vorboden, jleich neben de Rollstube wohnen wir. Und jleich neben 'n Dienstbotenbad. Wissen Se, so in de Burschenstube. Ach Jott, de Luft is janz jut da oben, und jetzt is auch janz nett. Aber im Winter – da hätten Se ma hier sein sollen! Da war det so kalt, sag ick Ihnen, daß ein' ordentlich de Bettdecke an' Mund anjefroren is.«

Emil Kubinke kannte das.

»Se können ja auch wo anders hinziehen. Aber der Olle sieht et nich jern. Denn ihn kostet doch die Stube nischt, die hat ihm der Wirt noch so for 20 Mark das Jahr jejeben. Und uns rechnet er sechs Mark im Monat.«

Aber Emil Kubinke war ganz zufrieden. Er fand einen großen, sauberen, weißgetünchten Raum mit einer schrägen Wand mit zwei Betten, zwei Schränken, zwei eisernen Waschtischen und kleinen Spiegeln darüber. Und der Kollege hatte sich alle möglichen Bilder aus alten Witzblättern ausgeschnitten und mit Reißnägeln an die Wand gepinnt. Sehr nett war es und nicht unfreundlich. Durch das schräge Dachfenster sah man ein Stück blauen Himmels, das von dreißig schwarzen Strichen der Telephondrähte mitten durchgeschnitten wurde. Und wenn Emil Kubinke sich auf die Fußspitzen stellte, dann sah er etwas von der seltsamen Welt der Höhe, von den schweren Würfeln der Schornsteine, von den schwarzen Schellenbäumen der Telephone mit ihren weißen Glöckchen, von den schrägen, braunroten Stirnwänden der Dächer, von den schweren blechernen Rinnen, von den weiten, kiesbestreuten Dachflächen, auf denen allerhand welkes, hartes, vorjähriges Kraut im Wind zitterte ... Hinten Schornsteine, wieder Schornsteine, Dächer, ein Türmchen, ein Giebel, irgendeine stehende Figur in der Sonne, riesig, grau und splitternackt, mit einem großen goldenen Reifen in einsamer Höhe. Drüben badeten Spatzen in einer verstopften Dachrinne. Drei waren eben dabei, und vier andere sahen zu und warteten, daß sie drankämen. Und zwischen zwei Schornsteinen hüpfte ein großer schwarzer Vogel – ein Tier wie eine Drossel – hin und her.

 

Wirklich – das ist gar nicht so übel, sagte sich Emil Kubinke.

»Aber Herr Kolleje, nu machen Se man schon«, rief Herr Tesch. »Lejen Se ihre paar Lumpen man schnell da rein. Wir können nich so lange bleiben. Der Olle jeht nämlich heute nachmittag aus.« Er sah auf das Bett. » Eine Decke?« meinte er. »Nee, des is jetzt noch zu wenig! Da wer' ick doch jleich der Frau sagen, daß se noch eene mit rauf gibt.«

Und Emil Kubinke hatte seine paar Sachen, seinen Sonntagsanzug, seine Hemden und was er sonst noch an Weißzeug besaß, seine Strümpfe und seine paar Bücher soeben untergebracht, und er hatte einen Blick auf seine Rasierbestecke geworfen, ob sie den Transport auch gut überstanden hätten, – als zur gleichen Zeit einige Treppen tiefer in Herrn Löwenbergs neuer Wohnung die Ziehleute ihre Arbeit vollendet hatten, und nun alle vierzehn wie die Bäume, still, schwer und groß, um Herrn Max Löwenberg herumstanden, der trotz seines Londoner Zylinders bedenklich schmal und klein vor diesen Enakssöhnen erschien. Der Sprecher, der Dicke in der blauen Schürze mit dem gestickten Vergißmeinnichtkranz und der Inschrift ›Immer feste!‹, der den Transport des Flügels mit der Taktik eines Feldherrn überwacht hatte, mit ›Nich kanten, links rüber! rechts rüber! hupp! hupp! hupp! nachlassen, Weber!‹ ... der Dicke in der Schürze hielt Herrn Löwenberg einen längeren Vortrag über die Schwierigkeit gerade dieses Umzugs. Sie hätten vorjestern einen Justizrat mit zwei Klaviere jezogen, ... aber det wäre ja det reine Kinderspiel jejen Ihnen jewesen. Daß sie den Flüjel bei die modernen Treppen überhaupt raufjekriegt hätten, wäre een wahres Wunder. Und bei dem Büfett, da hätten se fest und sicher jejlaubt, schon jleich wie se't jesehn hätten, – alle hätten se jejlaubt, daß se 's auseinandersäjen müßten. Ein anderer Spediteur hätte des jarnich raufjebracht. Und er hoffe deswejen, daß bei dem Trinkjeld das berücksichtigt würde.

Und als Herr Löwenberg zwei blanke Goldstücke dem Dicken mit der blauen Schürze in die schweißige Hand drückte – und nun Wunder dachte, was er getan hatte – da rückte sich keiner von den vierzehn vom Fleck, und sie blieben noch alle stehen, wie die Bäume. Der Sprecher aber sah ohne Groll, nur mit stillem Vorwurf Herrn Max Löwenberg mit großen Augen von der Seite an.

»So'n Fuffzijer for jeden«, sagte er mit einer Bescheidenheit, die keinen Widerspruch duldete, »so'n Fuffziger for 'ne kleene Weiße könnte doch noch abfallen. Die Leute haben sehr jearbeitet.«

Und als sie auch den noch herausgeschunden hatten, da reichte der Sprecher zuerst Herrn Löwenberg die Hand und wünschte viel Glück zur neuen Wohnung. Und alle vierzehn folgten seinem Muster, denn sie wußten doch, was feine Lebensart war. Dann verließen sie unter Donnergepolter die Zimmer, in denen es noch aussah wie nach einem Pogrom. Und ein kleiner breiter Kerl mit einer Narbe über dem linken Auge – der Don Juan seines Standes – faßte noch ganz schnell draußen Frau Löwenberg mit dem rechten Arm fest um die Taille und fragte: »Na Madamken, mal scherbeln?« Und dann torkelte auch er zur Tür hinaus.

Und das kam so plötzlich, daß Frau Löwenberg ganz vergaß, nach ihrem Mann zu rufen.

Unten aber weihte Herr Tesch Emil Kubinke in die Mysterien des Betriebes ein. Denn trotzdem jede Barbierstube genau wie die andere aussieht, und trotzdem man in jeder Barbierstube ebenso gut oder ebenso schlecht sich aufgehoben glaubt wie in der anderen – so herrschen doch in jeder geheimnisvolle Regeln, nach der die Kunden bedient werden. Und was uns als plötzliche Eingebung des Augenblicks erscheint, das ist, wie das Impromptu des Schauspielers, meist wohl überlegt und meist mühselig einstudiert. Und gar in der Behandlung und Unterbringung der Materialien und Ingredienzien, da folgt jede Barbierstube ihrer geheiligten Überlieferung, die kein Neuling kennen kann. In keinem monarchisch geleiteten Staatswesen ist so sehr der Wille des Staatsoberhauptes Gesetz wie in der kleinsten Ritze von Barbierladen der des Chefs.

Doch Emil Kubinke war kein heuriger Hase. Umsonst hatte er nicht dreiundeinhalbes Jahr gelernt und war nicht schon seit drei Jahren junger Mann, um nicht schnell zu sehen, worauf es ankam. Er konnte alles. Er hatte sogar schon zwei Kurse für Damenfrisieren genommen. In seinem Fache machte ihm keiner so leicht etwas vor. Und Herr Tesch brauchte Emil Kubinke nur einmal zu sagen: »Sie, lassen Se des nich den Ollen sehn, – der Olle wünscht des nich so«, – so wußte Emil Kubinke ganz genau, woran er war.

Und wirklich, das Geschäft ging. Der eine gab dem andern ordentlich die Klinke in die Hand. Und selbst jetzt, um diese sonst stille Tageszeit, saßen immer zwei auf den Rasierstühlen, und ein dritter wartete und studierte mit Leichenbittermiene die uralten Witzblätter, die nach der Versicherung des Herrn Tesch gerade diesmal vorzüglich waren. Emil Kubinke, der so anhaltendes Arbeiten nicht mehr gewöhnt war, fühlte bald seinen rechten Arm. Aber er wußte auch, daß es in drei Tagen ein für alle Male vorüber sein würde. Und der Chef kam hin und wieder vor, auf eine kurze Inspektionsreise, duftend nach den geheimnisvollen Urkräften des »Ziedornins«. Mißtrauisch ging er um seinen neuen Gehilfen herum, denn er fühlte, daß er sich gerade jetzt für alle Zeiten etwas vergäbe, wenn er den neuen Gehilfen nicht wegen irgend etwas anschnauzte. Und er war indigniert, daß er nicht recht etwas herausfinden konnte.

Doch als Herr Ziedorn wieder vorkam, da trug er einen hellen Sommerüberzieher, und aus seiner Brusttasche lugte lieblich und verlegen ein blaues Taschentüchlein. Und auf seinem Haupte hatte Herr Ziedorn einen Zylinder, der dem des Herrn Löwenberg, was Höhe, Fasson und modernen Schwung betraf, nichts nachgab.

»Herr Tesch«, sagte Herr Ziedorn mit der ernsten Miene des Geschäftsmanns, der vor wichtigen Transaktionen steht, »ich gehe jetzt Rechnungen einkassieren. Vor Abend kann ich wohl kaum zurück sein. Sagen Sie das meiner Frau, wenn sie nach mir fragen sollte.«

Weswegen Herr Ziedorn seine Gattin von diesen Mahngängen nicht im voraus in Kenntnis setzte, das entbehrte nicht der tieferen Begründung. Seine Frau sah nämlich diese Mahngänge nicht gern. Und es war schon häufiger ihretwegen zu höchst resoluten ehelichen Unterhaltungen gekommen. Aber Herr Ziedorn war nicht der Mann, der sich durch häusliche Rücksichten bestimmen ließ, in seinen Geschäftsprinzipien wankend zu werden.

Und so wollte er auch jetzt, am 1. April 1908, nachmittags um vier Uhr, eben wieder die Klinke in die Hand nehmen, als die Tür sich von außen öffnete und ein Herr – den Zylinder tief in der Stirn und den Spazierstock zwischen den Fingern – eintrat.

»Mein Name ist Max Löwenberg«, sagte er mit liebenswürdiger Bestimmtheit, »ich wohne hier oben im ersten Stock. Sie können von morgen früh täglich einen jungen Mann um halb neun zum Rasieren hinaufschicken. Aber bitte pünktlich, – da ich mich sonst nach einem anderen Barbier umsehen müßte.«

»Sie werden mit uns zufrieden sein«, meinte verbindlich Herr Ziedorn und griff mit zierlichen Fingern an die Krempe seines Zylinders. »Herr Kubinke, Sie werden von morgen an den Herrn bedienen. Und ich möchte Ihnen die größte Pünktlichkeit ans Herz gelegt haben. Sie werden jetzt überhaupt die Kundschaft außer dem Hause zu bedienen haben. Herr Tesch wird Ihnen die Liste geben und Sie mit den Wünschen der einzelnen Herren bekannt machen.«

»Sehr wohl, Herr Ziedorn«, versetzte Emil Kubinke und zwickte den kleinen Jungen, der vor ihm saß und sich die Haare verschneiden ließ, mit der Schere ins Ohr. Und Herr Tesch sagte ohne aufzusehen: »Bitte, beehren Sie uns bald wieder!«

Emil Kubinke aber war mit diesem Auftrag recht zufrieden. Denn da brauchte er doch nicht den ganzen Tag im Laden zu hocken. Da kam er doch wenigstens in die Luft, da sah und hörte er doch etwas. Die Kundschaft außer dem Hause zu bedienen, das hatte er sich wirklich schon lange wieder einmal gewünscht.

Als aber Herr Ziedorn und Herr Max Löwenberg ihre Zylinder jetzt unbeschädigt durch die Tür gebracht hatten und es still im Raum geworden war, da fragte Emil Kubinke ganz leise: »Wo jeht'n der Chef hin, Herr Tesch?«

Aber Herr Tesch kniff nur das eine Auge ein. »Na, seine Olle wird ihm ja wieder 'n netten Transch machen. Passen Se mal morjen uff«, flüsterte er.

Herr Ziedorn führte ein mit dunklen Punkten reich verziertes Leben; – und zu dem Kundenkreise des Herrn Ziedorn gehörten auch Damen, durchaus keine Damen zweifelhaften Rufes, im Gegenteil, sie hatten einen völlig zweifellosen Ruf, es waren höchst achtungsbedürftige Damen, und sie wohnten hier in einer Nebenstraße, Haus bei Haus, in kleinen, gut möblierten Gartenwohnungen. Und sie fuhren sogar jeden Abend mit der Droschke in das Innere der Stadt hinein und fuhren spät nach Mitternacht mit der Droschke wieder heim. Und diese Damen nahmen auf Kredit aus dem Laden des Herrn Ziedorn Parfüms und Seifen, Puder und Schminken, Haarfärbemittel und falsche Locken, und was sie sonst noch benötigten, um aus einem grauen, armseligen, abgegriffenen und abgematteten Hascherl jenes Wesen hervorzuzaubern, das die Männer entflammen sollte. Und diese Damen vergaßen meist zu zahlen. Und dann ging Herr Ziedorn am nächsten Ersten hin und mahnte sie. Oder bei größeren Summen ließ er es nicht bei der einmaligen Mahnung bewenden. Und mit der Zeit hatte sich zwischen Herrn Ziedorn und seinen Kundinnen jene primitive Form des Handels herausgebildet, die noch heute bei allen Urvölkern gang und gäbe ist und die nationalökonomisch als Tauschverkehr bezeichnet wird. Aber Frau Ziedorn sah das nicht gern, und sie hatte ihren Gatten oft gebeten, er solle doch diese Kundschaft aufgeben. Ja, sie befleißigte sich sogar, wenn sie gerade im Laden war, dieser Sorte von Kundinnen gegenüber einer außerordentlich geringen Freundlichkeit. Herr Ziedorn jedoch erklärte ihr immer und immer wieder, daß von Aufgeben nicht die Rede sein könnte und daß er, wenn er endlich auch nur die Hälfte bezahlt bekäme, durch den hohen Verdienst, der bei diesen Artikeln hängen bliebe, immer noch auf seine Rechnung käme. Und damit hatte Herr Edmund Ziedorn eigentlich auch ganz recht. Und wer von dem Einmaleins des Kaufmanns auch nur das Geringste versteht, muß ihm beipflichten.

Und Frau Ziedorn fand auch leider nie ausreichende Gelegenheit, um diese Sorte von Kundinnen endgültig fernzuhalten, ... da sie sich, mit geringen Unterbrechungen, jahraus, jahrein in jenem Zustand befand, vor dem zwar im alten Sparta die Soldaten durch Senken des Speeres ihre Ehrerbietung zu zeigen hatten, den man aber im modernen Berlin in einem vornehmen Friseurladen vor den Kunden nicht gern öffentlich zur Schau stellt.

Und so also war am 1. April 1908, nachmittags um vier Uhr, Herr Ziedorn wieder einmal Rechnungen einkassieren gegangen.

Und als Frau Ziedorn mit ihrer Körperfülle hereingerollt kam, da begrüßte sie gar nicht den neuen Gehilfen Emil Kubinke, sondern fragte nur: »Wo ist mein Mann, Herr Tesch?«

»Er kassiert Rechnungen ein«, sagte Herr Tesch, ernst wie das Grab. »Vor Abend, hat er jesagt, kann er kaum wiederkommen.«

»So!« sagte Frau Ziedorn. Sonst nichts. Und warf die Tür hinter sich zu, daß der kleine Junge, den Emil Kubinke immer noch unter seinen Fingern hatte, beinahe von seinem hohen Stuhle fiel. Und dann hörte man draußen bums! bums! bums! bums! eine reine Kanonade von zugeschlagenen Türen.

Und der Nachmittag ging Emil Kubinke hin, als wenn die Stunden Flügel hätten. Hier gab's doch Arbeit, und man mußte sich nicht alle halbe Stunden wieder mühsam vom Stuhl emporreißen, wenn ein Kunde in den Laden trat, wie das bei seinem alten Chef war. Und jeder der Leute hatte hier seine Eigenart, die ihm erst abgeluchst werden mußte. Der wünschte, daß man ihn unterhielt, und der war beleidigt, wenn man an ihn das Wort richtete. Der war wie ein rohes Ei so verletzlich, und der andere robust wie kaltes Eisen. Herr Graff mußte beim Namen genannt werden; aber bei Herrn Levysohn war die Namensnennung verpönt. Herr Tesch kannte jeden und verstand ihn zu nehmen. Und er wußte Emil Kubinke oft mit einem Augenzwinkern zu verständigen, was zu tun und was zu lassen sei. Ja, das Geschäft hier! Solch ein Geschäft hätte Emil Kubinke auch mal haben mögen.

Und während nun draußen die ganze Straße sich mit einem roten Halblicht füllte, während das Abendlicht einen schönen Tag für morgen versprach und der Himmel im Zenit zwischen den dunklen Häusern ganz weiß, gelb und rosig leuchtete und sein magisches Licht über allem schwebte, während alles so seltsam hell war, wie scheinbar am ganzen Tag noch nicht, nur um langsam zu verglühen und zu verlöschen ... und während wie mit einem Schlag alle Bogenlampen spangrün aufleuchteten und, ohne noch ihr Licht zu versenden, nur in sich glühten und gleich riesigen, spangrünen, japanischen Ballons da oben in einer langen Kette hingen, ... und während unten im Schaufenster im Laden Emil Kubinke die kleinen rötlichen Grätzinkugeln aufblitzen ließ ... währenddessen ... ja ... da turnte oben bei Herrn Max Löwenberg der Tapezierer auf der Leiter herum und machte die kühnsten Draperien, Überwürfe und Raffungen. Er schwelgte ordentlich in Stoff und Falten, und er zog unermüdlich aus seinem Mund kleine blaue Nägel hervor, mit denen er den flüchtigen Gebilden seiner kunstfertigen Hand Dauer verlieh. Und auf einer anderen Stehleiter, hinter dem Tapezierer, voltigierte der Monteur mit klirrenden Kristallkronen; – während aus der Küche die Hammerschläge der Arbeiter kamen, die den Gasometer setzten, und aus dem Schlafzimmer das Lötfeuer der Wasserarbeiter, die den Waschtisch anschlossen, sein Brodeln und seine Zischlaute durch die ganze Wohnung schickte. Die schnell herbeigezogene Frau Piesecke rutschte zwischen all denen auf den Knien herum und scheuerte die Fußböden. Frau Löwenberg aber briet mitten auf dem Eßtisch, auf einem Patentkocher, für ihren Mann Setzeier; – die einzige lebende Erinnerung, die ihr aus dem Kochkursus in der Pension von Fräulein Beate Bamberger geblieben war. Denn Herr Löwenberg mußte sich unbedingt stärken. Seit drei Stunden ging er nämlich von einem Zimmer ins andere, stand den Arbeitern im Wege, stolperte über Frau Piesecke, war überall da, wo man ihn nicht brauchen konnte, und erklärte unausgesetzt den Leuten, wie sie es zu machen hätten.

 

Man wird sich vielleicht wundern, daß so reiche Leute wie Löwenbergs kein Dienstmädchen haben. Aber die alte Köchin war gerade während des Umzugs zu ihrer todkranken Mutter gerufen worden, die, – um der Wahrheit die Ehre zu geben, – nicht nur todkrank, sondern schon seit vierzehn Jahren tot war, aber trotzdem jedes Jahr noch zweimal von heftigen und geradezu lebensvernichtenden Leibesübeln befallen wurde, die die alte Frau doch immer wieder mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit überstand. Und das Hausmädchen hatte Frau Löwenberg Knall und Fall entlassen müssen, weil sie sich nicht entblödet hatte, ihrem Gemahl nachzustellen. Das neue Mädchen aber kam vor heute abend nicht. Und so erzählte Frau Löwenberg nun schon seit fünf Tagen jedem, der es hören und nicht hören wollte, daß sie ohne Mädchen wie im Himmel wäre. In Wahrheit aber verstand Frau Löwenberg von der Wirtschaft so viel wie ein Kuhkalb von der Trigonometrie und war vollkommen rat- und hilflos, war einem Schiff mit gebrochenem Steuer im wilden Sturm vergleichbar. Wirklich, Frau Betty Löwenberg war in allen Dingen des Lebens von einer nicht mehr rührenden, sondern schon mehr beängstigenden Ahnungslosigkeit. Ja, wenn man Frau Betty Löwenberg länger kannte, so mußte man sich immer wieder und wieder fragen, was sie denn überhaupt in den siebenundzwanzig Jahren ihrer bewußten Anwesenheit auf der Weltenbühne bisher gelernt hatte!

Und die Dunkelheit brach herein, eine warme, milde Dunkelheit. Oben lag die Nacht mit weichem Dunst und matten, flimmernden Sternen; und unten gewannen die elektrischen Bogenlampen die Macht über die Straße und überglänzten die Dame mit dem Merkurstab, die über dem Portal saß, und zeichneten die Äste und Zweige der Bäume auf dem Bürgersteig ab. Und in den Staub von all den Straßenbahnen und von den rollenden Wagen mischte sich doch etwas von dem frischen, bitteren Geruch der steigenden Säfte in den Ulmen und Linden. So belebt aber war die Straße den ganzen Tag nicht gewesen. Die Bahnen, die oft fast leer entlanggepoltert waren, waren jetzt ganz schwarz von Menschen. Auf den Plattformen standen sie nur so gekeilt. Und wenn ehedem in langen Pausen Bahn auf Bahn gefolgt war, so schienen jetzt ihre erhellten Kästen gleich zu vieren, zu sechsen hintereinander heranzurollen; und leere Bauwagen klapperten mit johlenden Kutschern nebenher; und Droschken, die für die Nacht Schicht machten, trotteten mit müden Pferdchen ganz langsam nach Haus; und die anderen, die jetzt erst begannen, kamen ihnen entgegen. Und die Autoführer erspähten jede Lücke, durch die sie gerade ihre knatternden Karosserien hindurchwinden konnten, um dann für zweihundert Schritt freie Fahrt zu bekommen. Und alles, fast alles floß jetzt heraus: die Mädchen kamen zu zweien und dreien von den Geschäften, oder sie gingen einzeln in wippenden Schritten, mit dem neuen Strohhut und der weißen Federboa. Nicht gar zu schnell. Wirklich – man sah ihnen an, daß ihnen nichts daran lag, so bald nach Hause zu kommen.

Ja, – es war so der erste Tag, an dem man den Frühling fühlte. Ja, – es war so ein Tag, an dem alle Mädchen und Frauen hübsch aussahen. Es schwebte der prickelnde Hauch von Abenteuern in der Luft, und erregte die Seelen, daß sie ihre Wünsche entflattern ließen gleich hungrigen Vögeln, die nach Nahrung suchen. Und selbst die würdigen Eheherren, die in der Bahn saßen, konnten ihre Blicke nicht von der schönen Nachbarin losreißen, und immer wieder suchten ihre Augen über die Zeitung fort die Augen der Nachbarin. Und sie fuhren ein, zwei, drei Haltestellen weiter, ehe sie sich ganz mühselig hochrissen und herauswankten. Ja, sie schauten noch wie festgewurzelt der Bahn nach, wenn sie kaum einen Kopf mehr darin unterscheiden konnten. Die jungen Herren aber, die lustigen Finken, die Junggesellen, die dachten an das Gehalt vom Ultimo und sprachen gleich von Abendessen und Ins-Restaurant-gehen, und sie taten, als ob es der einzige Wunsch ihres Lebens wäre, unter recht vielen Menschen zu sein, während sie doch mit allen Fasern sich danach sehnten, mit der neuen Freundin allein und ganz allein zu bleiben. Ja selbst der Gymnasiast rückte seinen Kneifer zurecht, und er faßte Mut, und er fragte die ihm unbekannte Trägerin jenes braunen Zopfes mit der roten Schleife, jene Dame, die er nun schon seit bald drei Wochen in unsterblichen, paarweis gereimten Trochäen feierte, ob er ihr vielleicht das Paketchen abnehmen dürfte, da zwischen so zarten Händen und einer so schweren Last ein zu großer Widerspruch bestehe.

Und durch all das Getümmel wutschen die Dienstmädchen mit Körben, Netzen und Taschen; etwelche mit Häubchen, doch meist barhaupt mit ihren vollen Frisuren. Alle in Waschkleidern, mit bloßen Armen und den Hals frei. Blonde, braune, schwarze und rote; kleine trendelnde, rund wie Borsdorfer Äpfel, und andere breit, groß, kräftig, auf zierlichen Halbschuhen. Alles an ihnen ist Hast und Eile und Frische und Lachen. Jetzt haben wir natürlich keine Zeit, sagen ihre Blicke, jetzt müssen wir zum Kolonialwarenhändler und zum Schlächter und in den Grünkramladen, jetzt müssen wir noch Soda und Seife holen und Öl und Suppengrünes ... aber nachher ..., wenn wir abgewaschen haben, um halbzehn, dann kommen wir noch einmal. Und dann – wenn ihr noch da seid – drüben unterm Torweg oder an der Ecke, in den dunklen Nebenstraßen, – dann werden wir ja sehen, ob ihr der Rechte für uns seid.

Und als Emil Kubinke kurz vor Ladenschluß auf die Straße hinaustrat – denn er wollte noch schnell drüben beim Posamentier einen Autoschal kaufen, weil er doch auf die Kundschaft einen recht guten Eindruck machen mußte, und Herr Tesch hatte ihm versichert, daß er ruhig gehen könnte, da keine Rede davon sei, daß der Chef vor Mitternacht wiederkäme – als Emil Kubinke also auf die Straße trat, da wogte und brodelte noch alles, und er war ganz befangen von all dem Lärmen und dem Leben und dem Hin und Her von Blicken und Worten; und die Luft der Abenteuer machte sein Blut singen; und ganz gegen seine Art – denn er vergab sich nicht gern etwas – begann er sogar mit melodischen Trillern das Viljalied aus der ›Lustigen Witwe‹ zu pfeifen. Aber wie er dann zurückkehrte, mit den flatternden grünen Enden seines neuen Autoschals, da war ihm doch sehr unternehmungslustig zu Sinn, – und wenn er noch heute mittag ein kleines, verschüchtertes Kerlchen gewesen war, das sich seiner abgeschabten Armseligkeit schämte, so fühlte er jetzt seine ganze Person durch diesen neuen Halsschmuck gehoben und verziert. Und ehe er wieder in den Laden zurückging, da stellte er sich noch einen Augenblick bei dem großen gelben Automobil hin, das da wie festgerammt stand, knatterte und ballerte, fauchte und spuckte, ruckte und ratterte, Dampf ließ, daß die Benzinwolken flogen, aber nicht von der Stelle kam. Der Chauffeur sah das eine Weile mit an und kletterte dann von seinem Sitz herunter, kniete sich vorn vor den Kasten und drehte an irgendwelchen Schrauben und Kurbeln, die zitterten und zischten, ohne daß der Chauffeur doch die geheime Ursache des plötzlichen Versagens ergründen konnte. Immer mehr Menschen sammelten sich um den gelben Kasten und betrachteten ihn nachdenklich, mit einem Gemisch von Interesse und Neugier, Schadenfreude und Achtung.