Die Natur heilt

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Auf die Richtung, in der massiert werden soll, wird gewöhnlich Wert gelegt. Nach dem Herzen soll gestrichen werden. Es hat nur Bedeutung, wenn es darauf ankommt, die Blutgefäße selbst zu bearbeiten, einen rascheren Fluß des Bluts herbeizuführen, das ist aber selten der Fall. Selbst bei Blutergüssen ist es zweckmäßiger, nach allen Seiten hin zu massieren. Auch sollte man bedenken, daß die Haupthindernisse für den Blutkreislauf nicht in den Gliedmaßen, sondern im Bauch liegen. Die Bauchmassage und die Atemübung sind viel wirksamer als das künstliche Ausstreichen der Blutgefäße, das nur wenig Erfolg hat. Bei der Muskelmassage, die nicht das Blut, sondern die Zwischenzellensäfte treffen soll, ist es sogar ein Fehler, nur von unten nach oben zu arbeiten. Da muß der Muskel in seiner ganzen Ausdehnung und in der mannigfaltigsten Weise ausgedrückt werden. Soll der Muskel gedehnt werden, was wohl die wichtigste Form dieser Behandlungen ist, so muß es in der Richtung geschehen, in der der größte Schmerz verursacht wird. Denn der Schmerz beweist, daß wirklich am Nerven gezerrt wird, was der Zweck der Muskeldehnung ist.

Der eben erwähnte Schmerz bringt mich auf einen Stoff, dem der Arzt halb mit Lachen, halb mit Grauen gegenübersteht. Was kann man beim baren Unsinn andres tun als lachen oder sich ärgern? Und barer Unsinn ist der Muskelrheumatismus, von dem ich ein paar Worte sagen muß. Es gibt kein bessres Beispiel für den Teufelsspruch, daß, wo Begriffe fehlen, sich ein Wort zur rechten Zeit einstellt. Wenn einer Schmerzen in den Beinen hat, so nennt er es Rheumatismus; sitzt es im Nacken, so ist es auch Rheumatismus, und im Arm oder im Rücken nicht weniger. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob der Schmerz durch eine Geschwulst hervorgerufen ist oder durch Entzündungen oder durch Gelenkerkrankungen oder durch sonst etwas: was Schmerzen macht, ist Rheumatismus. Daß das Wort nur für fliegende Schmerzen, die bald hier, bald dort auftreten, verwendet werden dürfte, da es ja ein Hin- und Herfließen der Krankheit bedeutet, ist dem Bewußtsein verlorengegangen. Schmerz und Rheumatismus sind im Sprachgebrauch großer Volksteile dasselbe. Dabei spielt die Vorstellung mit, daß der Schmerz im Muskel sitze, wohl deshalb, weil er durch Bewegungen schlimmer wird. Leider ist diese Vorstellung grundfalsch. Der Muskel kann nie Schmerz empfinden, nur der Nerv fühlt Schmerz, überall nur der Nerv. Muskelschmerz, Muskelrheumatismus ist an sich ein Unsinn. Es gibt Schmerzen in den Nerven, aber nichts anderes.

Bei den Ärzten ist infolge dieser Einsicht in der letzten Zeit der Ausdruck Rheumatismus unbeliebt geworden. Man hat dafür ein neues fremdtönendes Wort erfunden, das von unsern Gebildeten mit besondrer Andacht nachgesprochen wird, wahrscheinlich, weil es noch weniger Inhalt hat, das ist das Wort Neuralgie. Es klingt wunderbar schön. Aber übersetzt es einmal, dann heißt es Nervenschmerz. Ja um Gotteswillen, es gibt doch gar keine andern Schmerzen als Nervenschmerzen. Warum sagt man denn nicht einfach Schmerz statt Neuralgie? Sie kommen nächstens noch auf die Idee, das Sehen Okularvisieren zu nennen; das hätte immer noch mehr Sinn, Okularinspektion gibt es schon. Es soll Leute geben, die mit dem Nabel lesen, aber Menschen, die mit Muskeln statt mit Nerven fühlen, gibt es nicht.

Wie, ruft jemand entrüstet, Muskeln schmerzen nicht? Dann erinnern Sie sich gefälligst der Zeit, wo Sie zum ersten Male zu Pferde gesessen haben, ob Ihnen da nicht Gesäß und Schenkel weh taten. Gewiß, ich kenne es aus Erfahrung. Reitschmerzen sind unangenehm, und auch nach dem Bergsteigen pflegen die Glieder zerschlagen zu sein. Ja, ich erinnre mich aus meiner Kindheit, daß nach den Schneeballschlachten der Schule der viel gebrauchte Arm sehr empfindlich war, und wenn ich noch weiter zurückgehe, komme ich auf Zeiten, wo mir der Wachsknoten zu schaffen machte, wie man bei uns zulande die Wachstumsschmerzen nennt. Aber bei alldem war es nie die Muskulatur, die schmerzte, sondern stets der Nerv. Und der Vorgang war dabei gewöhnlich derselbe, den ich vorhin als Muskeldehnung erwähnte.

Durch den starken Gebrauch der Muskeln wird an dem Nerv gezerrt, das nimmt er übel und antwortet mit Schmerz. Er will damit sagen: halt da, Geselle, du gehst leichtsinnig mit deinem Körper um, dir werde ich es beibringen. Ist doch der Schmerz das große Erziehungsmittel, mit dem der unvernünftige Körper den vernünftigen Menschen im Zaum hält. Zuweilen ist der Nerv auch nur faul geworden, zum Beispiel beim Reiten. Da denkt er: Was fällt denn den Beinen ein? Wozu spreizen sie sich so breit? Ist das wohl anständig, und können sie mich alten Gesellen nicht in Ruhe lassen? Wart, ich werde euch kneifen. In seinen jungen Tagen fiel ihm das nicht ein. Das Kind kann nahezu jede Bewegung ohne Schmerz ausführen, kann die Glieder in der abenteuerlichsten Weise verrenken. Aber das geht bald verloren, und schon mit fünfzehn, höchstens zwanzig Jahren haben die Nerven es verlernt, frei den Gliedern zu folgen, sind sie eingerostet, sitzen sie an irgendeiner Stelle ihres Verlaufs fest, und wer sie nicht ab und zu ein wenig lockert, der mag viel mit Hexenschüssen, Ischias, Armschmerzen, Kopfweh und allen möglichen Dingen zu tun bekommen. Die Sache liegt also so, daß der größte Teil aller rheumatischen Schmerzen, auch der Muskelkrämpfe, gar nichts mit den Muskeln zu tun hat, sondern auf Unbeweglichkeit der Nerven beruht, die irgendwie und durch mannigfaltige Ursachen festgekeilt sind.

Hält man das fest, daß nicht der Muskel, sondern der Nerv letzten Endes den Schmerz empfindet, so erklären sich die peinlichen Wadenkrämpfe und sonstigen Beschwerden, die beim Wachstum auftreten, leicht. Man muß nur wissen, daß nicht alle Gewebe gleichzeitig in demselben Grade wachsen, sondern daß ruckweise bald diese, bald jene Gegend des Körpers sich verlängert. Es kommt also vor, daß Knochen und Muskulatur der Beine plötzlich in die Länge schießen, während der Nerv, der im Bein verläuft, eine zeitlang im Wachstum zurückbleibt. Dann wird er ausgedehnt, überspannt, wie etwa im Mittelalter die Menschen in der Folter ausgereckt wurden. Zunächst antwortet er immer mit Schmerz, beeilt sich dann aber, rasch nachzuwachsen. Natürlich handelt es sich bei diesen Wachstumsdifferenzen nur um Millimeter, nicht um Riesensprünge.

Wir wissen verhältnismäßig wenig über die Vorgänge des Wachstums, aber ich möchte doch nicht versäumen, hier auf Dinge aufmerksam zu machen, die jeder entweder selbst erlebt oder wovon er wenigstens gehört hat. Kinder schießen während einer akuten Krankheit merkbar in die Höhe. Besonders sagt man das den Infektionskrankheiten nach, Scharlach, Masern, Typhus und so weiter. Die Beobachtung ist richtig. Nur ist das Verhältnis nicht so zu denken, daß das Wachstum durch die Krankheit befördert wird, sondern umgekehrt, Scharlach, Masern und so weiter befallen den Körper, weil er wächst und weil seine Widerstandskräfte durch das Wachstum erschöpft sind. Ich sagte schon vorhin, und jeder aufmerksame Mensch weiß es, daß das Kind nicht gleichmäßig, sondern ruckweise wächst, so daß Zeiten des Stillstandes mit solchen regen Längerwerdens wechseln. Daraus erklärt sich wenigstens zum Teil die rätselhafte Tatsache, daß in ein und derselben Familie unter den gleichen Lebensbedingungen und Ansteckungsgelegenheiten doch nur ein Teil der Kinder erkrankt, nämlich nur die, die gerade in der Wachstumsperiode stehen. Die Krankheitserreger, die unter gewöhnlichen Bedingungen leicht vom Körper vernichtet werden, treffen auf geschwächte Individuen und überwältigen sie. Daß tatsächlich das Wachsen an sich den Körper arg mitnimmt, läßt sich leicht feststellen. Die Kinder verlieren, sobald sie in Zeiten schnellerer Körperentwicklung geraten, ihre runden Formen, sie nehmen auch, während sie länger werden, durchaus nicht an Gewicht zu, zehren also gewissermaßen die Reservevorräte des Körpers auf. Gleichzeitig geht eine starke Revolution in dem Kreislauf und in den Verbrennungsprozessen vor sich, da mit jedem Zentimeter Körperwachstums auch Nerven und Blutgefäße länger werden müssen. Unlust und auffallende Müdigkeit sind dann immer zu finden; gewöhnlich treten aber auch allerlei geringe Störungen, Erbrechen, Durchfälle, Husten, Halsentzündungen auf und, wie gesagt, häufig genug schwere Erkrankungen.

Am deutlichsten macht sich das alles im Laufe der Geschlechtsentwicklung bemerkbar. Das seelische und körperliche Befinden wird dann in der seltsamsten Weise beeinflußt, was in ganz andrem Maße die Aufmerksamkeit der Eltern verdiente, als es leider der Fall ist. Mit den Ausdrücken Flegeljahre und Backfischzeit ist die Sache nicht abgetan, und die beliebte sexuelle Aufklärung während dieser Zeit richtet auch mehr Schaden an, als sie je nützen wird. Es ist schlimm genug, daß unsre Zeit so etwas wie sexuelle Aufklärung überhaupt braucht, aber man sollte nicht solch heilloses Geschrei davon machen. Wir leben momentan in Verhältnissen, in denen unsern Kindern und uns selbst der Zusammenhang mit der Natur verlorengegangen ist. Aber das ist eine vorübergehende Folge unsrer industriellen Entwicklung. Früher oder später wird sich der Mensch wieder besser in den großen Zusammenhang der Welt hineinfügen, oder wenn er das nicht tut, wird er zugrunde gehen. Daß aber die Aufklärung, die die Natur, die Erde jedem Landkinde ohne weitres durch das Leben gibt, jemals schulmäßig betrieben werden könnte, das wird man mir nie weismachen. Das ist nur solch halbes Mittelchen, ein Zudecken des Sumpfs, aber kein Austrocknen.

Erwachsne Menschen verstehn nichts vom Kindesdenken, am wenigsten Eltern von dem innersten Wesen ihrer Kinder. Der ist ein guter Vater, der sein eignes Kind kennt, heißt es mit Recht. Glaubt man das nicht? Nun ja, man glaubt vieles nicht, was der Eitelkeit weh tut. Aber an sich hat das Kind schon Freude an der Heimlichkeit, und gar den Eltern gegenüber verbirgt es absichtlich ganze Gebiete seines Innenlebens. Das Kind kennt seine Eltern, kennt ihre Schwächen; es weiß genau, was es äußern darf und was es verschweigen muß. Und es schweigt besser als irgendein Erwachsener. Nun gar den Lehrern gegenüber ist eine wirkliche Offenheit nicht denkbar. Selbst wenn das Kind im Lehrer nicht den gebornen Feind sieht, wie es wenigstens fast alle Knaben tun, so wird es doch freiwillig nur selten zeigen, was in ihm vorgeht, meist nur, wenn es überrumpelt wird. Sonst wird es durch Kameradschaftlichkeit und Gefühl für Disziplin von jedem Sichgehenlassen zurückgehalten. Man vergesse auch nicht, daß diese reifenden Knaben und Mädchen, so groß ihr Anlehnungsbedürfnis ist, doch schon den Eigenwillen haben, nach Selbständigkeit ringen und sich vor dem Erwachsnen, dem sie sich heute anschmiegen, morgen voll Mißtrauen verstecken. Die Seelenzustände reifender Menschen sind unbekanntes Gebiet. Man hüte sich, vorwitzig dreinzufahren.

 

Im übrigen kommt es auf diese Aufklärung nicht allein an, ja nicht einmal in erster Linie. Der Makel, den das letzte Jahrhundert allem Geschlechtlichen angeheftet hat, läßt sich gewiß nicht durch Aufklärung beseitigen, und dieser Makel ist das Schlimme. Was wissen wir von all diesen Beziehungen? So gut wie nichts. Und da will man aufklären. – Den Sinn für das Erhabene im Menschenwerden, im ewigen Gebären der Welt wecken, selbst das Symbol schauen und andere es schauen lassen, das tut not. Aber gerade die Aufklärichter stecken noch ganz im Materialismus drin. Sie sind nicht die Leute, eins der schwersten Leiden der Zeit zu heilen. Ich bitte übrigens mich nicht mißzuverstehen: daß ein Mädchen nicht von der ersten Menstruation überrascht werden darf, versteht sich von selbst. Das muß allmählich in das Bewußtsein des Mädchens übergehen, es darf nicht gelehrt werden, sondern das tägliche Leben muß die Kunde bringen, damit sie frei ihre Frauenwürde und Bürde trägt. Das alles möge die Zukunft bessern, wir können es nicht.

Die Zeit der Reife ist eine schwere Zeit für alle Eltern. Da hilft nur eins: Geduld und Wartenkönnen. Diese Jahre gehen wie alle andern auch vorüber. Und später läßt sich manches gutmachen, was in falsche Bahnen geriet, später kehrt auch das Vertrauen der Kinder zurück, wenn es nicht durch voreiliges Belehren und Leitenwollen auf immer zerstört wurde.

Wenn es mir so nicht rätlich scheint, allzuviel psychische und moralische Kunststücke mit heranwachsenden Menschenkindern im Alter der Reife zu machen, so möchte ich um so dringender bitten, auf alle körperlichen Zustände dieser Zeit zu achten und so bald wie irgend möglich Vernunft in unsre Schulerziehung hineinzubringen. Daß unsre Jugend in der Zeit auf der Schulbank klebt, daß an sie gerade dann die größten Anforderungen gestellt werden, das kann man ändern. Dazu gehört nur guter Wille. Und das sollte man ändern. Ich erwähnte vorhin, daß das Wachsen nur auf Kosten früher aufgehäufter Kräfte stattfinden kann. Das gilt von jeder Zeit. Es gilt aber besonders von der Pubertät, wo sich Eierstock und Hoden entwickeln, ihre Tätigkeit beginnen und durch diese Tätigkeit, durch Absonderungsvorgänge, die man erst seit kurzem kennt, das Wachstum stark anregen. Es ist grausam und nichtswürdig, an das so geschwächte Kind gesteigerte Zumutungen zu stellen.

Man achte auf dieses Emporschießen während der Pubertät. Geschieht es in zu raschem Tempo, so ist Vorsicht am Platz. Da nicht alle Organe gleichzeitig und gleichmäßig wachsen, so bleiben nicht gar zu selten lebenswichtige Teile in der Entwicklung zeitweise zurück und verursachen grobe Störungen. So ist es bekannt, daß die Hauptkörperschlagader, das wichtigste Gefäß des Blutkreislaufs, dessen regelmäßiger Bau die Ernährung des Körpers verbürgt, oft jahrelang zu eng bleibt. Das äußert sich dann unter den verschiedensten Formen von Ernährungsstörungen, die man unter dem allbekannten Namen Bleichsucht zusammenzufassen pflegt. Und wie auf a b folgt, so folgt auf Bleichsucht Eisen. Ich wollte, ich hätte all das Geld, das jährlich nutzlos für Eisenpräparate ausgegeben wird. Es ist ja nicht zu verwundern, daß die Bleichsucht während des Eisengebrauchs ausheilt. Man muß nur lange genug damit fortfahren, dann gleichen sich die Wachstumsunterschiede im Körper aus. Durch das Eisen? Gott bewahre! Es kommt mit der Zeit von selbst. Schon tausendmal ist es bewiesen worden, daß das Eisen keinen Wert für die Behandlung der Bleichsucht hat, daß es zum mindesten ohne Eisen ebenso rasch vorwärts geht. Das Leben bringt seltsame Blüten hervor und ist nicht uninteressant.

Sehr viel schwerer sind die Folgen, wenn das Herz mit dem Längenwachstum nicht Schritt hält, ein Ereignis, das häufig genug vorkommt. Dann bricht solch ein hochaufgeschossener junger Mensch bei irgendeiner Anstrengung, beim Tennisspielen, Rodeln, Radfahren plötzlich vollkommen zusammen, und wenn er überhaupt wiederhergestellt wird, so dauert es jedenfalls Jahre. Das Herz ist dann zu klein für den Hohlraum des Brustkorbs, es schlenkert bei jeder Bewegung hin und her, bald nach links, bald nach rechts oder oben und unten, und wird, da es an den Gefäßen festsitzt, einmal in die Länge, einmal in die Breite gedehnt. Ist es erst so weit, daß deutliche Erscheinungen im Allgemeinbefinden auftreten, die sofort sehr schwere sind, dann können sich die Eltern auf eine langwierige, schwer zu behandelnde Krankheit gefaßt machen, und sie mögen Gott danken, wenn sie an einen Arzt kommen, der sich nicht gleich durch die Heftigkeit der Symptome einängstigen läßt und dem Kinde einen Herzklappenfehler andichtet; denn das Mißverhältnis zwischen Herzgröße und Körperlänge kann vorübergehen, tut es auch bei geduldiger Vorsicht; wem aber erst einmal gesagt worden ist: du hast einen Herzfehler, dem geht dieses Wort durch das ganze Leben nach, und er bleibt in seinen eignen Augen immer krank, immer in größter Lebensgefahr. Die Art, wie unsre Zeit mit Kranken verfährt, macht oft den Eindruck, als ob sie es für ihre Hauptaufgabe hielte, das Vertrauen des Menschen in seine eigne Kraft zu untergraben. Man vergesse doch nicht, daß der größte Teil der sogenannten eingebildeten Krankheiten künstlich gezüchtet wird, durch voreiliges Urteilen, dadurch, daß so wenige zu schweigen verstehen.

Verschwiegenheit ist eine der ersten und wichtigsten Tugenden des Arztes. Nicht ohne Grund greift das Rechtsgefühl bei der Beurteilung des Arztes aus allen menschlichen Fehlern gerade den Mangel an Verschwiegenheit heraus, um ihn mit harten Strafen zu belegen. Freilich, das Strafgesetz kann nur den groben Vertrauensbruch ahnden. Das Unheil, das der wichtigtuenden Geschwätzigkeit, der laut prahlenden oder feig sich vor der Zukunft deckenden Diagnostiziererei entspringt, geht ungesühnt seinen Gang. Umso tiefer sollte sich jeder, der mit Kranken zu tun hat, nicht bloß der Arzt – bei dem versteht es sich von selbst – ins Herz prägen: Wahre deine Zunge und sieh nach den Folgen deiner Worte! Da dir Gott nicht den Blick in die Zukunft gab, du auch meist nicht imstande bist, in das Innre deines Kranken zu schauen, so ist es in zehn Fällen gewiß neunmal gütiger und besser, du schweigst und behältst für dich, was du zu wissen glaubst.

Mir ist stets unverständlich gewesen, warum ein Arzt von Laien seiner Diagnosen wegen gepriesen wird. Dieses Lob beweist ja, daß er kein guter Arzt ist, sondern nur dafür gehalten sein will, daß er zu viel spricht. Denn was geht den Kranken die Diagnose an? Gar nichts. Sie ist Geheimnis des Arztes, das er in seinem Innern verschließen soll und nur ausnahmsweise zu bestimmten Zwecken preisgeben darf. Und was hat es schließlich mit der Diagnose so großes auf sich? Wenigstens mit dem üblichen Etikettieren der Kranken: Gallensteine, Leberkrebs, Gehirnerweichung? Damit ist nicht das geringste weder über den Verlauf, noch über die Ursachen, noch über den Zustand ausgesagt und kaum eine kleine Handhabe für die Behandlung gewonnen. Die Diagnose sollte, ich sagte das schon früher, den ganzen Menschen umfassen und seine Lebensverhältnisse dazu. Erst aus dem allumfassenden Urteil lassen sich Schlüsse für die Behandlung ziehen. Zum Behandeln aber ist der Arzt da, nicht zum Diagnostizieren. – Nil nocere, nichts schaden: wie viele führen diesen Leitsatz ärztlichen Lebens im Munde, und wie wenige handeln danach.

Nil nocere, das sollten auch die Eltern und Lehrer und alle, die mit Kindern zu tun haben, im Kopf haben. Dann würden sie den Kindern manches harte Wort, sich selbst manch schweren Tag und bittere Sorge ersparen. Sie würden dann eingedenk sein, daß Kinder wachsen und daß aus diesem Wachsen bestimmte Unarten entspringen, die nicht dem Kinde, sondern seinem Alter, seinem Wachstum angehören. Nicht jede Stunde der Faulheit, nicht jeder Ungehorsam, nicht jede Wildheit oder Grausamkeit oder Schlechtigkeit, ja nicht einmal jede Lüge ist dem Kinde anzurechnen. Jedes Alter hat seine Fehler, so lasse man auch dem Kinde die seinen. Man strafe, wenn gestraft sein muß, aber man halte nicht alles für Charakterlosigkeit, was danach aussieht. An seines Kindes Zukunft soll man glauben, Vertrauen dazu haben. Vertrauen schließt Vorsicht und geduldige Führung nicht aus.

Ich habe, wie ich sehe, meinem Leser von allen möglichen Dingen gesprochen, nur nicht vom Muskelrheumatismus. Das liegt eben im Wesen des Muskelrheumatismus. Rheumatismus ist einfach alles. Ich werde mich nun streng an das Thema halten, und da ich von dem Wesen des Rheumatismus nichts andres weiß, als daß es ein Unwesen ist, will ich mich lieber mit den Ursachen dieser Allerweltskrankheit beschäftigen. Da stoße ich denn zu meiner Freude auf die Allerweltsursache, die Erkältung, diese Fundgrube für nachdenkliche Gemüter. Was ist nicht alles Erkältung! Schnupfen, Gelenkschwellungen, Halsentzündungen, Schwindsucht, Bindehautkatarrhe, Blasenschmerzen, Durchfälle, Kopfschmerzen, Brustfell- und Lungenentzündungen, Erbrechen, Eiterungen, Krebs, Geschwülste aller Art und vor allem, vor allem Rheumatismus. Gott sei Dank hat das letzte halbe Jahrhundert uns die Bazillen beschert, das gibt wenigstens Abwechslung. Und wie spaßhaft sind die Menschen, die den Erkältungswahnsinn haben! Und wer hätte ihn nicht? Mich wundert es immer, daß man die Toten nicht auch noch einmummelt. Was aber ist Wahres an der Erkältung? Wenn man es recht besieht, so gut wie nichts.

Allerdings kann ein plötzlicher oder lang andauernder Kältereiz hie und da den Menschen oder seine Teile weniger widerstandsfähig machen, so daß er mit den Anforderungen des Lebens nicht mehr fertig wird, genauso wie ich das eben von dem Wachstum auseinandersetzte. Aber das ist doch höchstens die Gelegenheit, bei der der Mensch erkrankt, nicht die Ursache seines Leidens. Solcher Gelegenheitsursachen gibt es aber Legion. Es kann ebensogut ein Wärmereiz sein, es kann Hunger sein oder Völlerei, es kann Ermüdung sein oder leidenschaftliche, zornige, betrübte Stimmung, Angst. Es ist ein bekannter Spruch, daß Menschen, die sich vor der Seuche ängstigen, am sichersten von ihr ergriffen werden, und dieser Spruch ist wahr. Der Südländer, der an das Leben im Freien gewöhnt ist, spricht nicht von Erkältung. Wenn er krank wird, glaubt er sich erhitzt oder zu viel gegessen zu haben, und damit wird er wohl eher das rechte treffen als der Deutsche und der Engländer, die nichts andres wissen als Erkältung. Die Hochzeit ist doch auch nicht die Ursache fürs Kinderkriegen, sie schafft höchstens die Gelegenheit. Auf die Hochzeitsbräuche – ob sie heidnisch, christlich, mohammedanisch sind oder ob sie gar nicht stattfinden – kommt nicht viel an. Ebenso ist der Kältereiz nur eine Gelegenheit unter tausenden, noch dazu eine seltne. Gelegenheiten bringt jeder Tag und jede Minute. Jeder Augenblick, jede Bewegung bringt solche Gefahren mit sich.

Das ist das Wunder des Lebens, des Menschen, daß er spielend, ohne das geringste davon zu ahnen, jahrzehntelang Schwierigkeiten überwindet, denen eine Maschine nicht eine Minute standhalten kann. Der Versuch, diese Schwierigkeiten zu vermeiden, ist höchst seltsam. Denn aus ihnen besteht das Leben, und der Versuch kann nur dem Toten gelingen. Wie sollte es wohl möglich sein, den Wechsel von Wärme und Kälte zu verhüten? Wir sind nicht Herren über Wetter und Wind, aber unser Körper sollte so sein, daß ihm Wind und Wetter nichts schaden, und wenn er so nicht ist, so sollten wir ihn so machen. Das ist nicht allzuschwer. Die Kälte wirkt zunächst auf die Blutgefäße ein: wer seine Hände lange dem Frost aussetzt, der muß sie fleißig regen, sonst werden sie blau. Es kommt darauf an, die Blutgefäße der Körperoberfläche so zu erziehen, daß sie jedem Wechsel der Temperatur rasch und zweckmäßig folgen, und das erste große Mittel dazu ist die Bewegung. Wir werden später sehen, daß die Blutgefäße in Abhängigkeit von einem bestimmten Nervensystem stehen und daß dieses Nervensystem durch ausgiebige Bewegung gereizt wird.

 

Weiterhin kommen die Helfer des Menschengeschlechts Licht, Luft und Wasser in Betracht. Man braucht deshalb noch nicht für Nacktkultur zu schwärmen, um in Sonne und Luft bessre Heilmittel zu sehen als in allen chemischen Präparaten. Man braucht noch nicht das Amphibiendasein für den wünschenswerten Zustand des Menschen zu halten, um von dem Nutzen des Waschens im tiefsten überzeugt zu sein. Die Sitte der Sonnen- und Luftbäder breitet sich ja immer mehr aus, und jeder, der etwas vom Menschendasein versteht, wird das mit Freuden begrüßen. Der Reinlichkeit freilich möchte man mehr Freunde wünschen. Es ist besser damit geworden. Ich besinne mich, daß in meiner Kindheit sonnabendlich eine große Haupt- und Staatswascherei in den Familien stattfand, an den andern Tagen begnügte man sich, Gesicht und Hände zu waschen, und der schmutzige Hals spielte damals eine große Rolle bei der Kindererziehung; auch den Wechsel von Tag- und Nachthemden kannte man noch wenig. Wenn man gar die Vorschriften liest, die der Soldatenkönig über die Reinlichkeit seines Sohnes, des großen Friedrich, gegeben hat, oder wenn man das Waschbeckchen sieht, in dem sich Goethe zu waschen pflegte, wenn man weiß, daß die Schönheitspflästerchen der Rokokozeit aufgeklebt wurden, um den Dreck zu verbergen, oder die Antwort jener englischen Herzogin kennt, die, ihrer schmutzigen Hände wegen zur Rede gestellt, erwiderte: Da sollten Sie erst einmal meine Füße sehen, so mindert sich der Zorn über die Waschscheu der Menschen. Wenn man nur als Arzt nicht gar zu nahe mit ihnen in Berührung käme! So aber merkt man leider mit Händen, Augen und Nase, daß es noch schlimm steht.

Ich spreche da nicht bloß von der Arbeiterbevölkerung. Der Dreck ist in allen Klassen beliebt. Im allgemeinen sind die Frauen ein wenig reinlicher als die Männer, aber ich habe leider genug hochangesehne Damen kennengelernt, die sich morgens erst in ihr Korsett zwängten, ehe sie an den Waschtisch gingen. Wie kann überhaupt davon die Rede sein, daß man sich am Waschtisch aus dem Waschbecken waschen könne. Das ist unmöglich, wenn man nicht täglich das Zimmer überschwemmen will. Der Waschtisch ist gut, um Seifen, Zahnbürsten, Bürsten, Waschlappen, Krüge und so weiter zu tragen, das Waschbecken gut fürs Händewaschen, aber waschen, wirklich waschen kann man sich doch nur in einer Wanne oder in einem Bottich, kurz in einem Behälter, in dem man stehen und sich abspülen kann. Der Waschtisch, das Waschbecken können entbehrt werden, der Waschbottich nicht. Gewiß, es wäre sehr schön, wenn jeder Deutsche außer dem bekannten Huhn im Kochtopf auch ein Badezimmer zur Verfügung hätte. Aber es geht auch so. Ein Behälter, um Wäsche einzuweichen und zu säubern, pflegt auch in Familien zu sein, die nicht mit Glücksgütern gesegnet sind, und Seife ist kein so kostbarer Artikel, daß man daran sparen müßte. Und die Zeit, um sich täglich von Kopf bis zu Füßen oder besser von den Füßen bis zum Kopf, was dem Körper zuträglicher ist, zu waschen, kann ein jeder aufbringen. Ich habe durch peinlich saubre Menschen feststellen lassen, daß man sich gut in fünf Minuten rein waschen kann. Man muß nur nicht dabei schlafen. Freilich es bleiben genug übrig, die nicht einmal ein Waschfaß besitzen, all die Unseligen, die in einem oder zwei Zimmern wie in Käfigen zusammengepfercht sind. Aber denen würde auch das Badezimmer nichts nützen, solange unsre dreimal hochgelobte Kultur sie schlechter als das Vieh zu wohnen zwingt.

Es ist auch eine eigne Sache mit den Badezimmern. Die Seife pflegt in den Badezimmern der Reichen nicht in dem Maße verwendet zu werden, wie es wohl wünschenswert wäre. Mit dem Sichdehnen im angenehm warmen Wasser allein spült man aber den Schmutz nicht weg. Es fällt keinem Menschen ein, schwarze Wäsche ohne Seife in lauem Wasser zu säubern. Dazu gehört viel Seife und heißes Wasser. Und so sollte der Mensch auch heißes Wasser nehmen, um sich zu reinigen. Mit dem kalten kommt man nicht so rasch vorwärts, und mit dem lauen verfehlt man den andern Zweck des Waschens, die Erziehung der Hautgefäße. Hitze und Kälte erziehen die Haut, Hitze noch besser als Kälte, namentlich bei alten Leuten. Wärme verwöhnt die Haut. Es gibt auch Menschen, die sich einbilden, man brauche sich morgens nicht zu waschen, wenn man es nur abends tut. In der Nacht wird man ja nicht schmutzig. Was müssen diese Menschen wohl für Nasen haben, daß sie nicht einmal den Schlafzimmergeruch wahrnehmen!

Ich sagte vorhin, das weibliche Geschlecht sei im ganzen reinlicher. Aber ich muß das einschränken. Die meisten Frauen bilden sich ein, sie dürften sich während der Periode nicht waschen. Ich kann mir dafür, daß sie durchaus ein Viertel ihres Frauendaseins schmutzig herumzulaufen lieben, keinen anderen Grund denken, als daß sie das Wort der Schrift, daß die Frau während der Blutung unrein sei, in verkehrtem Sinne heilig halten wollen.

Auch die übertriebne Reinlichkeit, der Waschwahnsinn, hat Schattenseiten. Wohl jeder ist einmal Menschen begegnet, die alle fünf Minuten zum Waschbecken laufen, die, wenn sie eine Klinke angefaßt oder eine fremde Hand geschüttelt haben, sobald als möglich sich die Hände waschen. Solche Leute sollten nicht vergessen, daß sie ihr Inneres verraten. Ihr Waschen ist die symbolische Handlung, die wir alle von Pilatus und der Verurteilung Christi her kennen. Ihr Innres ist beschmutzt, meist von frühen Kindertagen her, und das Gefühl davon wollen sie wegspülen.

Noch eins möchte ich erwähnen. Ein jeder weiß, welche segensreiche Rolle die Reinlichkeit in der Chirurgie spielt. Was aber nur wenige wissen und doch jeder, der Lust hat, sich operieren zu lassen, wissen müßte, ist, daß auch die gründlichste Desinfektion nicht genügt, um die Hand des Operateurs vollständig keimfrei, vollständig ungefährlich zu machen; ebenso wie jeder sich gegenwärtig halten sollte, daß die Betäubung an sich ihre Opfer fordert, ohne erst die Hilfe des Messers abzuwarten. Seit über vierzig Jahren gibt man sich Mühe, eine Methode zu finden, die operierende Hand vollständig zu reinigen, aber bisher ist es noch nicht gelungen, und es wird auch nie gelingen; in den oberen Schichten der Haut, an den Härchen und unter den Nägeln bleibt immer noch dieser oder jener Keim sitzen, und schließlich ist man soweit gekommen, in Gummihandschuhen zu operieren. Wer sich nun gar einbildet, er könne durch Waschen und Baden die Ansteckungskeime fortschaffen, die in irgendeinem Scharlach- oder Diphtheriezimmer an ihm haften blieben, der sollte einmal seine frisch gewaschne Hand neben die schmutzige eines Arbeiters auf einen Nährboden für Bakterien legen. Er würde zu seinem Erstaunen sehen, daß von seiner gepflegten Hand sich viel mehr Bakterien ablösen, als von der ungewaschnen des Arbeiters. Die Hauptmasse der Keime sitzt eben in den obersten Schichten der Haut und läßt sich durch Wasser und Seife nicht entfernen, wohl aber bilden Staub und Schweiß der Arbeit eine verhältnismäßig bakterienfreie Kruste.

Unsre Zeit steht unter der Herrschaft der Angst, und vor dem Gewimmel der Bakterien bebt unser Geschlecht, das sich Herren der Erde nennt. Da lohnt es sich einmal gegen den Ansteckungswahnsinn der Menschen, gegen die erbärmliche Feigheit, die sich offen und schamlos überall zeigt, statt in die fernsten Winkel zu kriechen, ein Wort zu sagen. Wer die Schmach miterlebt hat, wo im Zeitalter der Kultur die größte Handelsstadt des Reichs, Hamburg, geächtet wurde, aus elender Angst vor der Cholera, geächtet wie es schlimmer nicht zu den Zeiten von Acht und Bann geschah, der hat von da an eine tiefe Verachtung vor dieser schuftigen Zeit der Kultur behalten, die wahrlich durch die Beobachtung des täglichen Lebens nicht geringer wird. Sprengt doch die Angst vor der Ansteckung die Bande zwischen Kind und Eltern, Bruder und Schwester, zwischen Freund und Freund, tötet sie doch sogar in unsrer demokratischen Zeit den Freiheitsdurst und die Menschenwürde, die sich willig unter die Gewalt der Polizei beugen und selbst ihr Heim, ihr Heiligstes und Heimlichstes der blöden Hast der Desinfektion preisgeben. Da gilt es zweierlei zu betonen: einmal, der Mensch kann sich nicht vor den Bakterien schützen, und dann: die Bakterien tun ihm nichts, wenn er ein ganzer Mensch ist.

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