Die Natur heilt

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Merkwürdig ist nur, daß der Mensch gewöhnlich nichts von dieser Erkrankung weiß. Man sollte denken, daß eine solche außergewöhnlich schmerzhafte Stelle für das Gehn hinderlich sein müsse. Das ist nicht der Fall. Der Fuß hat einen scharfen Verstand – ich muß wieder diesen Ausdruck gebrauchen, so sehr ich damit auch vieler Empfinden verletze. Er fragt nicht erst lange beim Gehirn an, sondern weiß selbst genau, wie er auftreten muß, um den Schmerz zu vermeiden, er bemerkt vorher schon jedes Steinchen, jede Unebenheit und weicht ihr aus. Es muß schon ein unglücklicher Zufall sein, wenn der Nerv einmal doch von einem spitzen Stein oder sonst irgend etwas getroffen wird. Ich komme gleich darauf zu sprechen. Hier möchte ich nur betonen, daß diese immerwährende Vorsicht, mit der der Fuß seine Arbeit tut, doch erheblich anstrengender ist, als wenn er das, wie bei den Kindern, nicht nötig hat. Der erwachsne Mensch verbraucht, daran ist gar nicht zu zweifeln, ein Gutteil Kraft, um seine kranken Fußnerven zu schonen, Kraft, die er anders verwenden könnte, wenn er einigermaßen auf sich achtete. Es ist nämlich sehr einfach, den Nerv gesund zu erhalten oder ihn wieder gesund zu machen. Dazu braucht man sich nur anzugewöhnen, die Füße, soviel es geht, hochzulegen, damit die Flüssigkeit leichter daraus abfließen kann; die Amerikaner sind darin Vorbild, wie in vielen Dingen. Den gefräßigen Bauch muß man ein wenig knapp halten und möglichst oft barfuß gehn.

Im übrigen gilt das, was hier von den Fußnerven gesagt wurde, für eine Reihe andrer Nerven ebenso. Fast jeder kann sich davon überzeugen, daß er oberhalb der Augen, an den Schläfen, am Hinterhaupt, am Brustbein, vor allem in der Hüftgegend ähnliche Schmerzpunkte hat. Sie haben eine große Bedeutung für die Gesundheit des Menschen. Denn man geht wohl nicht zu weit, wenn man annimmt, daß diese allen Schädlichkeiten ausgesetzten Stellen nach und nach für den Körper verhängnisvoll werden. Ich kann vorläufig nur andeuten, wie ich es meine, da zum vollen Verständnis die Beziehungen des Nervensystems zum Blutkreislauf und zur Ernährung bekannt sein müßten. An dieser Stelle genügt es hervorzuheben, daß ein solcher Einfluß erkrankter Nerven auf das Befinden des Gesamtorganismus besteht. Es bedarf auch, um diesen Einfluß hervorzurufen, gar nicht eines schmerzhaften Eindrucks auf die Nerven. Die scharfen Winde, das helle Licht, das Beugen des Kopfes beim Lesen wirken schon auf die erkrankten Nerven der Augengegend ein, das Sitzen, vor allem das Liegen auf die der Hüftgegend. Auch diese Teile leben – um mich dieses gewagten Ausdrucks zu bedienen – vorsichtig, sie sind beständig auf der Hut, unangenehme Empfindungen zu vermeiden, sie verbrauchen immer und immer einen reichlichen Teil der Kraft, die dem Menschen zur Verfügung steht. Mit dieser Kraft wird lediglich etwas vermieden, nichts getan, während doch die Kraft dem Menschen zum Tun gegeben ist. Jedem ist bekannt, daß bei gleichen äußern Ursachen, etwa bei einer Epidemie, nicht alle Menschen erkranken, daß dazu vielmehr noch eine innre, im Menschen gelegene Ursache gehört, die man etwa Anlage zum Erkranken nennen mag. Wir haben hier einen der Faktoren, die die rätselhafte Anlage oder Prädisposition bilden.

Es ist oft nicht leicht zu bestimmen, was gesund und krank ist, so geläufig diese Ausdrücke auch für jeden sind. Gesundheit und Krankheit sind keine Gegensätze, es besteht zwischen ihnen keine Trennungslinie, jenseits und diesseits deren man sagen könnte, hier ist der Mensch gesund und dort ist er krank. Ein Sandkorn ist noch kein Haufen, zwei oder drei auch nicht, es steht in dem Belieben eines jeden, bei wieviel Sand er von einem Haufen reden will. Genauso braucht ein jeder das Wort krank nach seinem eignen Gutdünken. Der echte deutsche Mann hält sich, wie mir gütige Frauen sagen, für krank, wenn er einen Schnupfen hat, der Holländer aber, der mit geschwollnen gichtbrüchigen Gelenken, lahm und von Schmerzen gepeinigt den Arzt aufsucht, beginnt seine Erzählung mit den Worten: Ich bin nicht krank, Doktor. Für ihn ist Kranksein und Im-Bett-Liegen dasselbe. Für uns, die wir im Leben stehn, ist ein Mensch mit Hühneraugen gewiß nicht krank, er ist nicht krank, wenn ihm ein paar Zähne fehlen, wenn er einen Buckel hat oder wenn ihm ein Fingerglied verstümmelt ist. Wer aber am Schreibtisch den Begriff der Krankheit definieren will, der wird all das zur Krankheit rechnen müssen.

Im Grunde ist Krankheit nur ein Name, ein Wort, das man zur leichtern Verständigung geschaffen hat, das aber bald zu viel und bald zu wenig faßt. Da ist ein Mensch mit blauen Lippen und Nägeln, mit keuchendem Atem und dicken Füßen, und wenn er die Hand auf seine linke Brust legt, fühlt er sein Herz unruhig toben. Er hat einen Herzfehler, er ist krank; wer einen Herzfehler hat, ist krank, das weiß ein jeder. Aber neben ihm steht einer, stark und kräftig, geht seiner Arbeit nach und lebt sein Leben dahin ohne jede Beschwerde bis in ein hohes Alter; und doch, bei der Sektion findet man ein krankes Herz. Ist der Mann krank? Geht durch die Straßen, jeder sechste Mensch, der euch begegnet, hat solch ein krankes Herz. Ist er darum krank zu nennen? Geht durch die Straßen, zählt die Leute dort, der dritte jedesmal hat Gallensteine. Sind Gallensteine keine Krankheit? Und muß man, darf man jeden dritten Menschen krank heißen? Oder man nehme die Tuberkulose. Geh in das Theater und schau dir die Menge an. Fast alle, die dort sitzen, geputzt und aufmerksam, sind tuberkulös oder waren es einmal oder werden es einmal sein, denn unter hundert Menschen sind nur drei, die diese Krankheit nicht befällt. Setz dich an deinen Tisch mit Weib und Kind und merk es wohl: nicht einer von den Deinen ist frei von dieser Krankheit, vor der du zitterst, weil man dich täglich in Wort und Schrift damit erschreckt. Beschau dich nur im Spiegel und merke dir, wie solch Tuberkulöser aussieht. Denn du bist vermutlich einer von den 97. Aber bist du darum krank? Du tust dein Werk heute und morgen und freust dich der Sonne, die dir scheint, und der Nacht, die dich erquickt, und wer dich krank nennen will, dem lachst du ins Gesicht. Es ist zu dumm. Man kann nicht 97 Prozent der Menschen krank nennen.

Oder merk auf jenen dort, der verstört und untätig durch das Leben schleicht, von Arzt zu Arzt rennt, seine Leiden zu klagen, und der überall denselben Bescheid erhält: Du bist gesund; du bildest dir deine Krankheit nur ein. Der eingebildete Kranke, ja gibt es denn den? Es gibt Frauen, die Migräne bekommen, weil sie einen neuen Hut haben wollen, es gibt Männer, die Zahnweh haben, weil eine Gesellschaft droht, es gibt schulkranke Kinder. Aber eingebildete Kranke? Ich habe noch keine gesehn. Wer sich krank fühlt, den soll man auch krank nennen, auch wenn man nichts an und in ihm findet, was krankhaft ist. Es ist bequem von Einbildung zu sprechen, von Hysterie, von Interessantseinwollen, aber es ist ein fahrlässiges Vergehn, und keiner, der das Wort Einbildung von einem Menschen brauchen will, vergesse, daß er damit den Frohsinn eines Lebens bricht.

Und zum letzten, wo will man die Krankheit beginnen lassen, etwa die Tuberkulose? In dem Moment, wo Fieber und Husten den Menschen niederwerfen? Aber vorher bestanden schon jahrelang in den Lungen die kleinen Knötchen, die man Tuberkel nennt. In dem Moment, wo jene Knötchen entstanden? Aber ehe sie entstanden, mußten Bazillen in die Lungen dringen, ganz abgesehn davon, daß sich das erste Knötchen niemals feststellen läßt. Und kann man die Lunge, in der ein Bazillus Acker und Wirkungfeld findet, noch gesund nennen? Gewiß nicht, denn jeder Mensch atmet täglich Tuberkelbazillen ein, ohne daß sie ihm irgend etwas schaden. Sein Organismus, seine Gesundheit vernichtet den Feind. Wer Tuberkel bekommt, muß vorher schon Fehler in seinem Organismus haben, muß, wenn man so will, vorher schon krank gewesen sein, von Geburt an vielleicht, ja vielleicht schon in seinen Eltern und Ahnen.

Ich sehe keine Möglichkeit, das Wort krank wissenschaftlich zu definieren. So gestatte man mir, persönlich zu urteilen. Krank ist für mich, wer in seiner Leistungsfähigkeit geschädigt ist und sich für krank hält. Alle andern, mögen sie von der Wissenschaft tausendmal für krank erklärt werden, sind für mich gesund, selbst wenn der Tod sie schon gepackt hätte, selbst wenn ihr Leib schon vom Leiden bis auf ein Restchen verzehrt ist. Mit ihnen hat der Arzt nichts zu schaffen. Sie sind gesund.

Ich knüpfe hier wieder an die alltägliche Erkrankung des Fußsohlennervs an, zu der ich noch einiges nachzutragen habe. Ich sagte, der Fuß tritt stets so auf, daß die schmerzhafte Stelle geschont wird. Eine gewöhnliche Folge davon ist das Hühnerauge, wohl auch die Schwielen unter und an den Zehen; denn nur der Fuß hat Verstand, nicht der Schuh, der durchaus nicht den vorsichtigen Bewegungen seines Gefangnen folgt. Es treten selbst bei gut sitzenden Stiefeln, die es heutigen Tages fast gar nicht mehr gibt, Reibungen auf, die allmählich zur Verdickung der Hornhaut, zum Hühnerauge führen. Das verdoppelt dann die Schwierigkeit des Gehns. Von dem Moment an wird der Fuß geschont, unwillkürlich, gewiß. Aber die Tatsache bleibt, daß das Bein mit dem kranken Nerv, mit dem Hühnerauge weniger gebraucht wird als das andere. Und das heißt, daß es schwächer wird. Denn jedes Glied wird durch mangelhaften Gebrauch schwach.

Wer darauf achtet, kann bei recht vielen Menschen feststellen, daß die Kraft ihrer Beine verschieden ist. Ein schwaches Bein ist aber naturgemäß der Verletzung leichter ausgesetzt als ein gesundes. Ja, ich persönlich halte es nicht für unwahrscheinlich, daß oft ein Bein nur deshalb bricht, weil es schon schwach, das heißt krank war. Von den meisten Kniegelenkleiden, wie sie durch Fall oder Stoß entstehn, und die bald nur zu mäßigen Anschwellungen oder Blutergüssen führen, bald aber langwierige, mitunter lebenslange Entzündungen hervorrufen, glaube ich es unbedingt. Nur ganz ausnahmsweise tritt, abgesehn von den Infektionskrankheiten, eine Kniegelenkentzündung an einem gesunden Bein auf. Fast immer war es vorher schon krank. Zum bessern Verständnis muß ich allerdings hinzufügen, daß der Gründe für den Kraftunterschied beider Beine Legion ist. Einer der häufigsten ist ein Unfall in der Kindheit oder später, in dessen Folge das eine Bein längere Zeit geschont wurde oder gar im Verband lag. Eingewachsene Nägel spielen ebenfalls dabei eine Rolle. Aber auch im Gefolge bestimmter Erkrankungen der Bauchorgane, nach Typhus, Blinddarmentzündungen, Unterleibsleiden, langwierigen Verstopfungen oder Diarrhöen wird bald das rechte bald das linke Bein schwächer. Eis kommt dann unter Umständen zu Vorgängen, bei denen sich alles in einem ärztlich hochinteressanten, für den Kranken aber recht unangenehmen Kreise bewegt. Durch irgendeinen krankhaften Zustand im Bauch, vielleicht durch Narbenstränge in der Blinddarmgegend, die auf die Nerven des Beins drücken, wird das rechte Bein geschwächt. Unwillkürlich wird es geschont und falsch aufgesetzt. Es entsteht ein Hühnerauge. Nun wird das Auftreten noch schwieriger und künstlicher. Das Bein wird dauernd in verkehrter Stellung gebraucht, und nach einigen Jahren erkrankt der Hüftnerv dadurch, daß er stets nach falschen Richtungen hingezerrt wird, von unten nach oben hinauf, und schließlich ist die vollendete, schwere, vielleicht unheilbare Ischias da.

 

Eine Prüfung der Kraft in den Beinen ist für jedermann nützlich. Sobald ein Unterschied darin nachgewiesen wird, muß das gesunde Bein geschont und das schwache mehr gebraucht werden, etwa so, daß beim Treppensteigen mit dem kranken Bein zwei Stufen genommen werden, während das gesunde nachgezogen wird. Im äußersten Falle muß man sogar das gesunde Bein zeitweise durch einen Gipsverband gebrauchsunfähig machen, um die gefährliche Differenz auszugleichen. Denn die Gefahr hegt immer nur in der Differenz der Kraft. Sind beide Beine schwach, so hat das nicht dieselben Folgen.

Von der heimtückischen Art der Entzündungen, die es an sich haben, immer wiederzukommen, wenn sie erst einmal ein Kniegelenk befallen haben, hat wohl jeder schon Beispiele gesehn. In der Hauptsache ist diese Sucht des Gelenks, wieder zu erkranken, auf die Schwäche des Beins zurückzuführen, die durch die Entzündung selbst hervorgerufen wird, die aber durch das übliche Ruhigstellen des Gelenks, womöglich mit dem Gipsverband, erheblich verschlimmert wird. Wer Kniegelenkentzündungen zu behandeln hat, sollte von vornherein daran denken, daß er es nicht mit der einzelnen Erkrankung zu tun hat, sondern daß aller Wahrscheinlichkeit nach früher oder später Rückfälle kommen werden, und daß das einzige Mittel sie zu verhüten, allerdings eines, das selten versagt, die Kräftigung des kranken Beines ist, durch Widerstandsbewegungen, Massage, oder was man sonst verwenden will.

Gelenke

Ich bin unversehens in die Besprechung der Gelenkerkrankungen hineingeraten, möchte aber, ehe ich darin weiter fortfahre, noch auf eine Form der Bruchverletzungen zurückkommen, die durch eigentümliche Umstände neuerdings häufig geworden ist, das ist das Abspringen eines Knorpelstücks innerhalb des Kniegelenks. Hier verbindet sich der Knochen- oder Knorpelbruch mit der Gelenkentzündung. Vorher muß ich jedoch einiges nachholen, was zum Verständnis nötig ist.

Jedermann hat wohl eine ungefähre Vorstellung davon, wie ein Knochen gestaltet ist, daß man platte Knochen unterscheidet, wie sie am Schädel vorkommen, und Röhrenknochen, die den Gliedmaßen Halt geben. Der Röhrenknochen, mit dem wir es hier zu tun haben, trägt seinen Namen, weil er innen eine Höhlung hat. In ihr birgt sich das Knochenmark, das für die Blutbildung eine Bedeutung hat; umgeben ist der Knochen von der Knochenhaut, von der aus im wesentlichen die Neubildung des Knochens stattfindet. Da die Hauptaufgabe der Gliedmaßen nur durch ihre Beweglichkeit erfüllt werden kann, darf der Halt der Knochen nicht starr sein, wie es der Fall wäre, wenn ein einziger Knochen in ihrem Inneren läge, sondern es müssen mehrere Knochen aneinandergereiht sein, die dann mit Hilfe verschieden gestalteter Gelenke gegeneinanderbewegt werden. Dort wo zwei Knochen aneinanderstoßen, sind ihre Enden von einer glatten weißen Schicht überzogen, dem Gelenkknorpel. Damit die Bewegung ohne jede Reibung, so leicht wie möglich stattfindet, sind aber nicht nur die Knorpel spiegelglatt, sie sind auch noch durch eine Flüssigkeit, die Gelenkschmiere, geschmeidig gemacht. Das ganze Gelenk ist von einem starken Sack, der Gelenkkapsel, umgeben, die etwas oberhalb und unterhalb des Gelenks sich an die Knochen anheftet. Der Raum zwischen den beiden Knorpeln ist luftleer, so daß die Gelenkenden dicht aneinandergepreßt sind und nicht schlottern. Zweckmäßig geregelt wird die Arbeit des Gelenks durch Knochenvorsprünge, die die Bewegung auf bestimmte Richtungen beschränken und zu weite Ausschläge verhindern. In Gebrauch wird das Gelenk durch die Muskeln gebracht. Das ist in großen Zügen angegeben der Bau der Gelenke.

Für unsern Fall des Abspringens eines Knorpelstücks ist wesentlich, daß der Knorpel stets innerhalb der Gelenkkapsel liegt, daß also gleichzeitig der Knochen und das Gelenk verletzt werden. Die erste Folge des Unfalls ist ein Anschwellen des Kniegelenks durch Austritt von Flüssigkeit aus dem Kreislauf in die Gelenkhöhle. Es ist der übliche Anfang der Gelenkentzündung. Die Bedeutung der Verletzung liegt aber nicht in diesem Flüssigkeitserguß, der rasch zu beseitigen ist, sondern in dem Verhalten des abspringenden Knorpels. Legt sich das Stück gutwillig in irgendeiner Ausbuchtung der Gelenkkapsel zur Ruhe, so ist die Sache damit abgetan; es läßt sich dann auch leicht und verhältnismäßig gefahrlos entfernen, wenn die Bewegungsfreiheit allzusehr eingeschränkt ist. Schlimm wird es aber, wenn das Ding in dem Gelenk spazierengeht, sich bald hier bald da voll Tücke zwischen die Gelenkknorpel klemmt. Immer und immer wieder treten dann neue Ergüsse, neue Entzündungen auf. Dann ist wirklich schwer raten. Operation? Ja, damit ist man heutzutage rasch bei der Hand. Aber wer ein paarmal gesehn hat, was für böse Folgen die Operation unter Umständen hat, der entschließt sich kaum, dazu zu raten. Es ist nämlich manchmal sehr schwer, in den engen versteckten Räumen des Gelenks solch ein glibberiges, boshaftes Ding zu finden und zu fassen. So leicht die Operation ist, wenn das Knorpelstück festsitzt, womöglich von außen gefühlt werden kann, so gefährlich ist sie, wenn man es suchen muß. Das sind schwierige Entscheidungen, die den Arzt arg quälen können.

Ich sagte vorhin, daß diese Art der Unglücksfalle häufiger geworden ist. Wir verdanken diese Bereicherung unsrer Tätigkeit im wesentlichen den Schustern. Was ein richtiger Schuster ist, meint nämlich, daß die Zehen des Menschen überflüssige Anhängsel sind, die nur dadurch existenzberechtigt werden, daß sie mit Hilfe der Stiefelsohlen nach oben gebogen und für das Gehen unbrauchbar gemacht werden. Soviel ich weiß, kommt diese Mode, der Schuhsohle einen Schwung nach oben zu geben, aus Amerika. Tatsache ist aber, daß man schon durch zwanzig Städte reisen und alle Schusterwerkstätten abgrasen muß, um jemanden zu finden, der Stiefel mit flachen Sohlen bauen kann, mit Sohlen, die glatt auf der Erde ruhen. Es stimmt ganz fromm, wenn man abends spät durch die Korridore eines Hotels geht und da vor jeder Tür die Stiefel und Stiefelchen der mehr oder minder verschwenderischen und nichtstuenden Gäste ihre Spitzen flehend gen Himmel richten sieht, als wollten sie in nächtlicher Andacht gutmachen, was ihre Herren sündigten. Ab und zu sind allerdings durch irgendein sinnreiches und teuer bezahltes Holzinstrument die Spitzen niedergedrückt. Aber das hilft nichts; sobald der Schuh am Fuß sitzt, geht die Sohle nach oben und drückt die Zehen vom Erdboden weg. Sie ist eben falsch zugeschnitten.

Alle Sohlen werden falsch zugeschnitten; denn wer sich einbildet, für seinen Fuß werde extra eine Sohle zurechtgemacht, weil etwa der Schuster auf Papier den Umriß seines Fußes aufgezeichnet hat, der täuscht sich. Die Sohlen werden im großen mit der Maschine zugeschnitten und immer in einer Form, daß die Zehen nicht auf die Erde kommen können. Nun versuche man einmal, barfuß mit hochgezogenen Zehen zu gehen. Das ist ein sehr mühseliges Geschäft, und schon nach dem ersten Schritt erkennt jeder, daß die Zehen vom lieben Gott gemacht sind, damit sie die Erde gewissermaßen greifen. In dem modernen Schuh können aber nur die Fersen und die Ballen beim Gehn und Stehn benutzt werden, wie sich jeder überzeugen kann, wenn er seine nur einmal getragenen Schuhe ansieht. Der vordere Teil der Sohle ist auch nach stundenlangem Gehn noch wie neu. Anfangs ist das nicht unbequem, weil die aufwärts gekrümmten Zehen in dem Sohlenleder einen Halt haben. Auf die Dauer wird es aber unbequem, und dann geben mir die erfindungsreichen Schuster eine Einlage unter dem Vorwande, daß ich einen Plattfuß habe, eine Beleidigung, für die der Mensch keinen Sinn mehr hat. Im Gegenteil, er erzählt es noch andern, daß er eine Einlage trägt, mit andern Worten, daß er plattfüßig ist.

Abgesehn von der Unbequemlichkeit ist die Sache gefährlich, es ist ein wohl ausgesonnenes Attentat auf die Gesundheit der Menschen. Da ist zum Beispiel das Springen. Es wird freilich immer seltner, daß der Körper anders als spazierenstehend bewegt wird, wenigstens unter den Leuten, die denken, sie sind gemeint, wenn von der Allgemeinheit gesprochen wird, unter den Gebildeten. Aber hin und wieder springt doch noch jemand von einer Leiter oder einem Stuhl herunter. Das sollte nun ein jeder einmal mit hochgezognen Zehen probieren, dann würde er sofort einsehn, warum jetzt die Absplitterung der Knorpel im Kniegelenk häufiger geworden ist. Die Beine federn so nicht, beim Aufspringen gibt es einen gewaltigen Stoß, ein hartes Aufprallen. Nun denke man sich hinzu, was ich vorhin über die empfindlichen Stellen in der Fußsohle sagte, wie scharf der Fuß empfindet, ob irgendeine Unebenheit des Bodens seinen Schmerzpunkt bedroht. Er sucht auszuweichen. Er tut das auch im Moment des Aufspringens. Aber da ihm das wichtigste Hilfsmittel des Ausweichens, die Federkraft der Zehen, durch die verruchte amerikanische Mode genommen ist, führt er es ungeschickt aus, das Kniegelenk wird schiefgerichtet, und bei dem harten Aufprall splittert der Knorpel ab.

Schließlich sind solche Verletzungen immer noch selten, und vielfach nehmen sie einen gutartigen Verlauf. Schlimmer ist folgendes: Bei bestimmten Menschen – es handelt sich namentlich um solche, die einen ganz hellen Teint haben und leicht die Farbe wechseln, warum das gerade bei denen ist, werde ich später zu erklären suchen – werden diese aufwärts gekrümmten Zehen zum Ausgangspunkt für schwere Gelenkerkrankungen, die bald unter dem Namen Gicht, bald Polyarthritis, Arthritis deformans, chronischer Gelenkrheumatismus und so weiter gehn. Sie haben dann dasselbe Amt, das vor etwa zehn Jahren und auch jetzt noch vielfach die nach innen abgedrängte große Zehe hatte, der vortretende Ballen des Fußes, wie man es wohl nennt. Der ist recht alt, ich besinne mich, ihn auf Gemälden von Perugino und Raffael bei Engeln gesehn zu haben, ein Zeichen, wie lange schon an den Menschen herumgeschustert wird. Aber daß gleich alle fünf Zehen mißhandelt werden, ist außer der Zeit der Schnabelschuhe wohl bloß unsrer hohen Kultur vorbehalten geblieben.

Bei diesen Folgen künstlicher Verkrüppelung länger zu verweilen, lohnt sich deshalb, weil sie wenigstens für einen Augenblick, etwa wie ein Blitz wirkt, den Weg ahnen lassen, der zu den Tiefen menschlicher Dinge führt. Mehr als ein Gewahrwerden dieses Weges ist unsrer Zeit noch nicht gestattet, und es fragt sich, ob überhaupt irgendwer tief hinabsteigen wird. Aber genug Klarheit, um im Leben sich als tätiger Mensch zurechtzufinden, die kann man erwerben, und darauf kommt es für Menschen, wie wir es sind, Leute ohne außerordentliche Gaben und Aufgaben an.

Ich brauchte schon bei früherer Gelegenheit das Bild des Einrostens. Mit der Vorstellung eines seit langem nicht gebrauchten Türschlosses, an dem der Rost sich eingefressen hat, so daß es sich eher zerbrechen als schließen läßt, kann man sich die Vorgänge allenfalls verständlich machen. Wird ein Zehengelenk jahrelang nicht ausgiebig gebraucht, so lagern sich in seinen äußersten Teilen und Taschen, an denen eine Reibung nie stattfindet, feste Bestandteile ab, Reste unvollkommener Verbrennungsprozesse, Asche oder Schlacke, wie man es nun nennen will. An solchen Überbleibseln aus dem chemischen Leben des Körpers fehlt es nie. Sie bilden sich immer von neuem aus der Verwertung der Nährsäfte zum Aufbau und Wirken der Zellen, nur werden sie auch fortwährend von den Stätten ihrer Entstehung durch die kreisenden Flüssigkeiten des Organismus weggespült und schließlich von Nieren, Haut, Darm und so weiter ausgeschieden. In den Gelenken ist aber bei dem Mangel an Blutgefäßen der Flüssigkeitsstrom, der Schlacken wegspülen könnte, sehr langsam, sein Gefälle wird durch die Bewegung der Gelenke ersetzt, die teils wie eine Pumpvorrichtung, teils wie fein gestellte Mühlen wirken. Fällt diese Arbeit der Gelenkflächen längere Zeit fort, so bleibt in irgendeinem Winkel ein Aschenkrümchen sitzen, und an dieses schließen dann neue Kristalle an. Schließlich ist der Winkel mit Schlackenstoffen vollgepfropft, und wenn sich noch mehr ablagern, geraten sie zwischen die notwendig gebrauchten Gelenkflächen. Das kann der Körper nicht dulden, und er versucht sofort, das Korn, das auf den Knorpel drückt, loszuwerden, genauso wie wir den Kiesel, der in den Schuh geschlüpft ist, entfernen.

 

Das Verfahren, das er dazu einschlägt, ist ähnlich dem, das wir am Auge beobachten können, wenn auf der Eisenbahn oder sonstwie Ruß hineingeflogen ist. Das Auge schmerzt, rötet sich und tränt. Es sucht den fremden Körper wegzuschwemmen, was auch meist gelingt, wenn der Mensch nicht täppisch durch Reiben das Werk der Natur stört; meist ist nichts weiter nötig, als daß man das untre Augenlid herunterzieht und längre Zeit stark nach oben sieht, das übrige besorgt das Auge selbst. Ähnlich geht es zu, wenn ein Salzkorn, ein Aschenteilchen zwischen den Gelenkflächen sich festsetzt. Zunächst entsteht der Schmerz, der den Organismus benachrichtigt, daß etwas in Unordnung geraten ist. Sofort erweitern sich die Blutgefäße in der Umgebung des Gelenks, um mehr Flüssigkeit herbeizuschaffen, das Gelenk wird rot und prall, und in das Innere wird Flüssigkeit ausgeschieden. Das fremde Korn soll aufgelöst oder weggeschwemmt werden. Das geht aber nicht so leicht wie beim Auge, wo die Tränen nach außen abfließen und dabei leicht das Stückchen Kohle mit wegnehmen. Denn das Gelenk ist nach außen ganz durch die Gelenkkapsel abgeschlossen. Nach tagelangem Abmühen – der Gichtanfall, um den es sich hier handelt, dauert unter günstigen Bedingungen immerhin mehrere Tage, kann sich aber bis zu Wochen und Monaten hinziehen –, nach vielen Mühen ist endlich das Stückchen Salz aufgelöst oder weggeschwemmt oder wenigstens von der Flüssigkeit in einen Winkel des Gelenks getragen, in dem es die gewohnten unentbehrlichen Bewegungen nicht mehr stört. Damit tritt Ruhe ein, bis sich von neuem etwas Schlacke zwischen die Bewegungsflächen verirrt und das Spiel wieder beginnt.

Nun ab und zu einen Gichtanfall, das kann der Mensch schon vertragen, kann es als Strafe für seine Sünden ansehn, pflegt ja auch dann eine Zeitlang das Saufen zu lassen, was ihm in vieler Beziehung nur nützlich sein kann. Aber leider geht es oft nicht so glatt ab. Es gelingt dem Körper nicht immer, das Salzteilchen wegzubringen, und wenn das eine spitzige Form hat, eine Kristallnadel ist, dann bohrt es sich in den Knorpel ein. Sowie das geschehn ist, stellt der Körper seine Spülversuche ein, der Anfall verklingt, das Endchen Kristall, das aus dem Knorpel herausragt, bricht ab und die Bewegung wird wieder frei. Allerdings im Knorpel bleibt die Spitze des Kristalls stecken, die glatte Fläche des Knorpels ist an dieser einen Stelle für immer zerstört, und es dauert nicht lange, so hat sich dicht daneben oder gegenüber ein zweites Nädelchen eingebohrt, und so geht es fort, bis Hunderte davon eingespießt sind, ja bis die ganze Knorpelfläche zerstört ist. Es gehört nicht viel dazu, um zu begreifen, daß solch ein Gelenk ohne Knorpel wenig oder gar nicht zu brauchen ist. Ja es wird, sich selbst überlassen, bald ganz steif sein, da sich nun unter der Wirkung des beständigen Reizes massenhaft Salze in dem Hohlraum ablagern, die schließlich das Gelenk ummauern, ihm durch starre Massen von innen aus ganz ähnlich seine Bewegungsfähigkeit nehmen, wie das der Gipsverband von außen tut.

Auch das läßt sich noch ertragen. Was liegt daran, wenn ein paar Zehengelenke steif werden? Bei unserm niederträchtigen Schuhwerk gehört das zum Alltäglichen. Der Körper ist geschickt genug, er weiß sich ohne die Zehen zu behelfen, und der Mensch merkt nicht einmal etwas davon. Er merkt es oft jahrzehntelang nicht. Denn wohlverstanden, die ersten Anlange solcher Verkrüppelungen der Gelenke liegen etwa im dreizehnten, vierzehnten Lebensjahr, die Folgen aber – man kann sie sich vielfach nicht schlimm genug vorstellen – kommen meist erst in der großen Wendezeit des Lebens zwischen vierzig und fünfzig Jahren zum Vorschein. Denn um das gleich vorwegzunehmen, nicht nur Frauen haben ihr gefährliches Alter, ihr Klimakterium, ihre Wechseljahre oder wie man es sonst nennen will; die Männer haben dasselbe zu durchleben, nur fehlen bei ihnen die stürmischen und jedem sichtbaren Erscheinungen. Warum diese unheimlichen Gelenkerkrankungen gerade in den Wechseljahren auftreten, wird später einigermaßen verständlich werden.

Man kann sich die Folgen nicht schlimm genug vorstellen, sagte ich. Es kann nämlich sein – und es ist recht häufig –, daß solch ein steifes oder schwer bewegliches Gelenk doch einmal bewegt werden muß, dann brechen unregelmäßige Stücke der Ablagerung ab und gelangen in den Kreislauf der Säfte. Meist werden sie dort rasch vernichtet. Aber da dieses Abbröckeln ein alltägliches Vorkommnis ist, so kommt es im Lauf der Jahre einmal dazu, daß solch ein abgebrochenes Stück vor seiner Zerstörung in ein anderes Gelenk verschlagen wird, etwa in das Kniegelenk oder in die Handgelenke, in die Ellenbogen oder Schultergelenke. Dann setzt sofort derselbe Prozeß, der sich in den Zehen abgespielt hat, auch dort ein, nur verläuft er sehr viel rascher, da das abgebrochene Stück, das in das Gelenk hineingerät, viel größere Dimensionen hat als die allmählich gebildeten Salzkörnchen in den Zehen. Auch das Gelenk wird gichtisch und erkrankt bald öfter, bald seltner, bald kürzer, bald länger, aber es wird kaum je wieder gesund, und je kleiner, enger es ist, um so leichter wird es steif. Daher die vielen steifen Handgelenke. Bald kommt ein drittes, ein viertes Gelenk an die Reihe, und schließlich gibt es kaum ein einziges gesundes mehr. Diese unglücklichen Menschen können – vom Gehn gar nicht zu reden – nicht mehr sitzen und liegen, denn ihre Knie sind spitzwinklig gekrümmt, die Hüftgelenke versteift, sie können nicht mehr die Arme regen, sind ganz auf fremde Hilfe angewiesen, sie können den Kopf nicht drehn oder heben, sie schrumpfen zusammen, verkrümmen in ihrer ganzen Gestalt und haben dabei unausgesetzt Schmerzen. Sie sind die elendesten Wesen, die man sich denken kann, und gehn elend zugrunde.

Ich bin kein Freund vom Bangemachen, aber ich sollte denken, wenn unter tausend Menschen nur einer so schauderhaft erkrankt, bloß weil es den Schustern einfällt, schlechte Schuhe zu bauen, so wäre das schon genug, um meinen ausgeprägten Haß zu begründen. Ich möchte hier auch noch ein Wort an die Frauen und was ihnen ähnlich ist, richten, die sich so liebevoll des Spruchs vom Jahrhundert des Kindes und vom Recht des Kindes annehmen. Nächst Nahrung und Wohnung hat das Kind vor allem ein Recht auf Kleidung. Mit diesen Dingen fängt die Erziehung an, und wer zu faul oder zu geizig ist, seinen Kindern Schuhwerk zu verschaffen, dem würde ich raten, sie lieber barfuß herumlaufen zu lassen. Es ist nicht bequem und auch nicht billig, für wachsende Füße passendes Schuhwerk zu finden, das weiß ich. Aber es ist immerhin noch ein Gutteil wichtiger als die Kunst des Kindes zu pflegen oder ihm gutes Benehmen beizubringen. Man bedenke, daß Kinder sich nicht selber Schuhe aussuchen können, und daß sie es den lieben Eltern zu danken haben, wenn sie gichtbrüchig werden.

Inne książki tego autora