Der Seelensucher

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Weltlein erhob sich. Seit der Name seiner Schwester genannt worden war, fühlte er sich in seiner Märtyrerrolle nicht mehr sicher. Es wurde ihm immer klarer, daß seine Hartnäckigkeit ihn nicht in das Zuchthaus, das Ziel seiner Sehnsucht, wohl aber nach Bäuchlingen in die Obhut Agathes bringen werde. Er konnte sich nur noch nicht entschließen den Bann zu brechen. Er harrte noch eines Schicksalswinkes, wünschte eine neue Bestätigung dafür zu haben, daß höhere Mächte ihn führten. Jedes Ereignis prüfte er darauf hin, ob es ein Zeichen sei, und auch jetzt überlegte er erst, ob diese Aufforderung zu erzählen, nicht etwa einen tieferen Sinn habe. Er zögerte und sah unsicher umher. Am liebsten wäre er mit einem einzigen Satz entflohen . . .

»Das ist nicht leicht zu sagen,« begann er endlich, »ich bin entflohen, wie man eben entflieht.«

Der Polizeimann lächelte. »Sie werden schon noch irgend etwas wissen. Das kommt doch nicht alle Tage vor. Wie sind Sie heraus gekommen? Die Türen sind fest, da ist es unmöglich; und die Fenster –«

»Ich bin durch das Fenster gestiegen,« unterbrach Thomas, froh, eine Handhabe zu bekommen.

»So, so. Aber die Gitter?«

»Die habe ich durchgefeilt.«

»Und die Feile?«

»Ein Freund hat sie mir in die Zelle geworfen.«

»Was Sie sagen, Weinbergskarl? Ein Freund hat sie Ihnen zugeworfen? Also ist es übertrieben, wenn man Ihnen nachrühmt, Sie könnten ohne Hilfe fliehen, wenn Sie nur wollten? Sich eine Feile zustecken lassen, das ist lumpig. Hätte ich das gewußt, würde ich mich gar nicht mit Ihnen beschäftigt haben. Mit fremder Hilfe entfliehen, das kann jeder. Aber allein, ganz aus eigener Kraft, das ist etwas.«

Thomas wurde mürrisch: »Ohne Hilfe kann niemand aus dem Zuchthaus entfliehen.«

»Ich kann's,« tönte auf einmal die Stimme des Gefangenen.

Der Inspektor und alle Anwesenden drehten sich ihm hastig zu, und die beiden Wächter faßten seine Arme doppelt fest. Er verzog das Gesicht und stieß einen Schmerzensruf aus. Auf einen Wink ihres Vorgesetzten lockerten die beiden Polizisten den Griff. In demselben Augenblick wurde die Tür von außen geöffnet. »Der Herr Bürgermeister kommt,« rief es von außen. Und »Haltet ihn!« schrieen ein halbes Dutzend Stimmen dagegen.

Der gewandte Einbrecher hatte sich losgerissen, das dicke Stadtoberhaupt, das eben den Gang entlang keuchte, hatte er zur Seite geschleudert und war verschwunden.

Das Ganze ging so rasch vor sich, daß der kurzsichtige Herr, der hinter dem Bürgermeister herging, gar nicht den Grund merkte, warum der hochweise Magistrat gegen die Wand fiel. Er hatte auch keine Zeit, es sich zu überlegen, denn an ihm vorbei sauste die wilde Jagd: voran der Gendarm Weber, der wütend den Ärmel eines Gefängniskittels in seiner Hand herumwirbelte, dicht hinter ihm der stämmige Wärter, der Polizeiinspektor und die ganze Horde der Schreiber. Hinter ihnen drein lief und schrie der Bürgermeister, ohne eine Antwort erhalten zu können. Und ganz zuletzt trat Thomas hervor, nachdenklich den zweiten Ärmel in der Hand schwenkend und die Hosen haltend. Noch auf der Schwelle stehend begrüßte er den Kommenden mit einem heitern Lachen.

»Das ist die Nase, an der man den Bankier erkennt,« rief er. »Willkommen, bester Herr Niedlich. Gelegener kamen Sie niemals als jetzt.«

12. Kapitel.

Der Tunnel der Erniedrigung. Kleider machen Leute.

Der Bankier starrte sein Gegenüber eine lange Weile an, ehe er in dem wüsten Menschen seinen alten Freund wiedererkannte.

»Wahrhaftig, Sie sind es, Herr Müller. Der Bürgermeister rief es mir zu, daß Sie hier in irgend welchen wunderlichen Verlegenheiten festsäßen und ich fuhr her, um mich Ihnen zur Verfügung zu stellen. Aber wie sehen Sie aus. Beinahe hätte ich Sie für einen Stammgast des Gefängnisses gehalten.«

»Nicht wahr? Täuschend ist die Verkleidung. Aber ich bitte, nennen Sie mich nicht Müller. Ich reise inkognito. Weltlein heiße ich, Thomas Weltlein.«

»So erklären Sie mir doch –«

»Später, später, lieber Freund. Vorläufig fahren Sie mich zum nächsten Schneider! Sie sehen, wie nötig ich es habe.« Dabei zog er den kleinen Niedlich mit sich fort, und stieg in den Wagen, der vor der Türe hielt.

»Sehen Sie,« begann er, als sie dahin fuhren, »sehen Sie diesen Ärmel! Er erklärt Ihnen alles.«

Der Bankier, dessen Augen schon von Natur so aus dem Kopf herausstanden, als ob er sich beständig über die eigene Existenz wundere, starrte verblüfft auf den Flanellappen, der ihm vorgehalten wurde.

Thomas brach bei dem Anblick in lautes Lachen aus. »Es ist ein Götterzeichen, mein Lieber, Sie mögen es glauben oder nicht. Erkennen Sie nicht den tiefen Sinn? Sehen Sie nicht, wie es aus dem Ärmelloch spricht: Wer dem Hohen zustrebt, werfe ab, was ihn hindert und wenn es der letzte Rock ist, den er besitzt. Ich bin dem Ruf gefolgt. Mich fordert ein großes Werk und um es zu vollbringen, mußte ich von Hause fort und alles hinter mir lassen, Kleidung, Geld und selbst den Namen. Den Namen vor allem.«

Niedlich faßte sich allmählich. »Oh, ich verstehe,« sagte er. »Sie machen Studien nach dem Leben, wollen Erfahrungen in Verbrecherkreisen sammeln. Äußerst interessant ist das, ich wußte nicht, daß Sie sich mit einer solchen wichtigen Arbeit befassen.«

»So ganz richtig ist Ihre Vermutung nicht. Meine Absichten sind viel größer, ja ich kann sagen, daß ich mir das höchste Ziel gesteckt habe, das der Mensch sich erdenken kann. Es ist nicht leicht, Ihnen das in ein paar Worten zu erklären. Sehen Sie, die Sache ist die: Nach meiner Ansicht wird der Mensch in die Welt gestellt, wie der Schößling eines Baumes, der in die Tiefe der Erde allerwärts seine Wurzeln treiben und mit Ästen und Zweigen um sich greifen soll. Ich habe, wie übrigens die meisten Menschen, diese Bestimmung arg vernachlässigt, bin gewissermaßen ein verkrüppelter Baum geworden, der seine Säfte und Kräfte nur nach einer Seite hin verbreitete. Sie haben gewiß einmal ein neugeborenes Kind gesehen.«

Herr Niedlich lächelte. »Unser drittes ist unterwegs,« sagte er. »Wenn Sie uns die Freude machen wollen, einen Löffel Suppe mit uns zu essen –«

»Nein, nein, ich danke sehr. Ich habe keine Zeit, Suppe zu essen, oder vielmehr ich bin nicht frei, muß meiner Wege ziehen, vorwärts, so rasch wie möglich vorwärts.«

»Wie schade, ich hätte Ihnen gern meine Kinder gezeigt. Salchen ist solch nettes Mädchen. Wenn sie bei mir ist, holt sie sich sofort meinen Zylinder, hält ihn sich vor den Mund und ruft Zahlen, richtige Zahlen hinein, und dann wieder horcht sie daran. Sie nennt das Telephon spielen. Und der Junge! Er ist kaum zweiundeinhalb Jahre. Das ist ein Genie. Denken Sie, er unterscheidet genau Silber und Gold. Nein, einen Augenblick,« er hielt dem ungeduldigen Thomas den Arm fest, als ob er ihn dadurch am Sprechen hindern könne. »Er ist sich seines Wertes bewußt. Neulich sagte er: Papa, wenn ich sie trinke, ist die Milch silbern, und ich mache sie dann zu Gold.« Der Bankier schlug die Beine übereinander und sah seinen Bekannten herausfordernd an.

Der fiel sofort ein: »Also ein Kind, ein Kind. Wenn es geboren wird, sieht es und hört es nicht, spricht nicht und geht nicht. Aber es hat Augen, Ohren, Beine und Mund. Wozu gab ihm die Natur das alles gleich mit? Es ist eine Aufforderung, sich auszubilden, sich zu bemühen. Der Mensch soll gebrauchen lernen, was er hat, so wird er vollkommen. Was aber haben meine Augen gesehen, so lange ich lebe? Buchstaben und Bücher. Mein Mund hat nichtige Dinge gesprochen, wie die Ohren nichtige Dinge gehört haben. Meine Füße haben mich nicht in das Leben getragen, wie sie es gesollt hätten. Über ein Menschenalter habe ich in Finsternis verbracht, ein Menschenalter verschwendet wie ein Toller. Das ist verrückt. Ich war verrückt. Jetzt aber bin ich klar geworden, Mir ist, als ob ich meine Wiege vor mir sähe, darin mein eigenes kleines Ebenbild, den Säugling, aus dem ich wuchs, der der Vater meines Wesens ist. Und wie der verlorene Sohn möchte ich mich vor diesem Bilde niederwerfen, und flehen: vergib mir, ich habe gesündigt vor dir, ich habe vergeudet, was du mir gabst.«

Der Bankier war wenig zufrieden. Zu den glücklichen Träumen, in die ihn die Erinnerung an die Handelstalente seines Sprößlings versetzt hatten, paßte dieses Schwärmen nicht. Es wurde ihm unbehaglich und als der gute Thomas sich gar einen Verrückten nannte, pflichtete er mit dem Kopfnicken bei, mit dem er richtige Bemerkungen zu begleiten pflegte. Über diesem Kopfnicken erschrak er, denn sein Blick fiel dabei auf den Ärmel, durch den Thomas eben langsam und feierlich seinen Arm hindurch steckte. Der kleine Mann duckte sich in die Ecke des Wagens und verdrehte die Augen krampfhaft, um unbemerkt über seine vorspringende Nase hinweg die wunderlichen Anstalten des Nachbarn überwachen zu können.

»Ich habe mir den Vater des verlorenen Sohns als alten Mann vorgestellt,« sagte er zaghaft.

Thomas hatte gerade die Hand aus dem Ärmelloch hervorgestreckt und damit in die Luft gegriffen, als ob er jemand an die Gurgel fahren wollte. Dabei sah er unter den Brauen hervor seinen Bankier so seltsam an, daß er sich vor Angst die Taschen zuhielt.

»Es ist alles symbolisch, lieber Freund, alles. Der Vater des verlorenen Sohnes ein Symbol des Wickelkindes und dieser Ärmel ein Symbol meines Lebens. Verstehen Sie? So will ich durch das Dunkel der Welt wandeln, wie meine Hände durch den schmutzigen Tunnel dieses Verbrecherkleides. Oh, dieser Verbrecher, was hat er mich gelehrt! Man muß die Gelegenheit ergreifen, ja, aber man muß sie auch herbeilocken. Sehen Sie, der Ärmel hier war vorher abgetrennt. Sie können noch die Spuren der Schnitte sehen. Bei dem Ruck, mit dem er sich losriß, blieben seinen Wärtern die Ärmel in den Händen. Der Kerl hätte nicht entfliehen können, wenn er nicht vorher sein Kleid zerfetzt hätte. So habe ich alle Bande zerfeilt, zerschnitten, zersprengt, die mich an meine Vergangenheit knüpften, und nun juble ich der Freiheit entgegen, die mich vollkommen machen soll. Nur den Weg, den Weg, den sehe ich noch nicht. Es stehet geschrieben, wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet werden. Ich habe mich erniedrigt, aber noch ward ich nicht erhöht.«

 

Herr Niedlich streckte die gespreizten Hände nach vorn; »Gott der Gerechte, lästern Sie nicht, ich bin ein gläubiger Christ.«

Thomas fuhr auf. »Es steht geschrieben,« rief er drohend, »und ich werde sehen, ob es wahr ist. Vorläufig mißlang es. Ich bin noch nicht vollkommen. Vielleicht ist es die Freude, die mich empor führt, Lust größer noch als Herzeleid. Und ich preise das Geschick, das Sie mir in den Weg führte, just als ich Geld brauchte.«

Der Bankier drückte auf den Gummiball, mittelst dessen er dem Kutscher das Zeichen zum Halten zu geben pflegte. »Wieviel brauchen Sie,« fragte er und öffnete den Schlag.

Thomas steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus. Ein Depeschenträger ging vorbei und der Gedanke an Agathe schoß ihm durch den Kopf. »Ich muß fort.«

»Sie haben ganz recht.« Niedlich drängte ihn auf den Tritt hinaus. »Hier ist Geld« Er holte aus seiner Brieftasche Banknoten und gab sie seinem Freunde, der ihm immer unheimlicher wurde. Auch er sah den Boten gehen und während er den seltsamen Gast fast aus dem Wagen stieß, rief er: »Ich muß zur Post fahren, will Ihrer Schwester telegraphieren,« dann zum Kutscher gewendet: »Los, was die Pferde laufen.«

Thomas hatte Lust ihm nachzurennen. »Agathe,« schrie er, »nur nicht Agathe.« Dann sah er ein, daß die Pferde schneller waren als er, und rasch sich wendend eilte er zu dem Schneider. Er sah nur noch, wie der Bankier den Tunnel der Erniedrigung aus dem Wagenfenster warf.

So sehr sich Thomas auch beeilte, es verging doch wohl eine Stunde und mehr, ehe er zu seiner Zufriedenheit ausgestattet war. Von dem Gedanken beherrscht, so bald als möglich weiter zu reisen, hatte er sich den ersten besten Anzug ausgesucht und fragte nun, sich flüchtig im Spiegel musternd, nach dem Preise. Der dienstfertige Schneider bückte sich, anscheinend um den Preiszettel zu suchen, obwohl er ihn soeben eigenhändig abgerissen hatte. Der Mann da gehörte zu seinen besten Kunden, gerade weil er auf Rechnung arbeiten zu lassen pflegte. Man mußte verhüten, daß er sich das Barzahlen angewöhnte und wohl gar dahinter käme, wie viel billiger das sei. Als er sich eine Weile vergeblich abgemüht hatte, richtete sich der Kleiderkünstler auf, warf mit kühnem Schwung das Zentimetermaß vom rechten Arm auf den linken und rief: »Haase, sehen Sie einmal nach, was der Anzug Nr. 52 kostet. Einen Augenblick, Herr Müller.«

Thomas zuckte bei dem Namen zusammen und öffnete schon den Mund, um den Tod des Herrn Müller anzukündigen. Aber der Schneider eilte davon, um selbst nachzusehen, wie er sagte, in Wahrheit aber, um seinem Gehilfen klar zu machen, daß der Preis von Nr. 52 nicht aufgefunden werden dürfe. Achselzuckend kam er zurück und erzählte, leider lasse sich die Summe im Augenblick nicht feststellen, er werde sich erlauben, die Kleinigkeit auf die Rechnung zu setzen.

Thomas wandte sich zum Gehen. »Nun gut, wenn ich Ihnen sicher bin.«

Der Schneider legte seine kurzfingrige Hand auf die Herzgegend, die mit einem wahren Stachelzaun von Stecknadeln austapeziert war, so daß es aussah, als wollte er sich zur Bekräftigung seines edlen Vertrauens sämtliche Finger spicken, neigte den Kopf auf die linke Schulter und flötete: »Der Herr Müller belieben zu scherzen, solch ein alter Kunde.«

»Weltlein, Thomas Weltlein, wenn ich bitten darf, nicht Müller,« fuhr Thomas auf. »Ich wünsche nicht, daß meine Anwesenheit bekannt wird, ich habe Gründe, unter fremdem Namen zu reisen –« er zögerte ein Weile, – »ja, wenn meine Schwester, Frau Willen nach mir fragen sollte, so wäre es mir lieb, wenn Sie mich nicht gesehen hätten.«

Der Schneider spitzte die Ohren. Der abgerissene Zustand des feinen Herrn Müller hatte seine Neugier geweckt, jetzt glaubte er die Lösung gefunden zu haben. Der Herr ging auf galante Abenteuer aus. Mit einem feinen Lächeln des Verständnisses suchte er seinen Mann zu beruhigen, während er gleichzeitig in Gedanken berechnete, wie er dieses Schaf am besten scheren könne.

»Ich verstehe vollkommen, .vollkommen, Herr Weltlein. Nicht wahr Weltlein? Gestatten Sie mir, einem alten Routinier, eine Bemerkung. Wenn man ein Glück bei Damen machen will, –«

Thomas sah ihn erstaunt an.

» – Bitte tausendmal um Verzeihung,« beeilte er sich einzulenken. »Ich glaubte, da die Frau Schwester nichts von der Sache erfahren soll, der Herr Weltlein gehe auf Eroberungen bei dem schönen Geschlecht aus, und da dürfte dieser Anzug doch ein wenig zu power sein. Das schöne Geschlecht pflegt bei solchen Gelegenheiten auf ein hochzeitlich Gewand zu sehen.«

Mit zwei Schritten trat Thomas in die Mitte des Ladens und warf das eben gekaufte Jaket ab. »Ein hochzeitlich Gewand, natürlich. Fortuna ist ein Weib, der darf man nicht wie ein Bettler entgegentreten. Wie ein König und Sieger muß man einherziehen, dann wirft sie sich zu unsern Füßen.«

Während nun immer neue Schätze des Ladens anprobiert wurden und der geschäftige Schneider Kleider, Wäsche und Hüte in den Tiefen eines rasch herbeigeholten Koffers verschwinden ließ, gingen die Reden unaufhörlich hin und her.

»Ich habe die Zeit versäumt, mein Lieber, habe mein Leben verträumt und bin eingerostet und versauert. Fast bin ich schon zu alt, um noch etwas zu erreichen.«

»Oh, oh, zu alt, solch stattlicher Herr. Haase, rasch einen andern Gehrock, größere Nummer. Das ist gerade das rechte Alter. Man flattert nicht mehr von einer zur andern, wählt sorgfältig und hält fest an der einen Liebe.«

»Ich will daran festhalten, bis an mein Lebensende. Die Wogen der Freude und Lust sollen mich empor heben, mich der Vollkommenheit und Schönheit entgegen tragen, in ihnen will ich mich gesund baden.«

»Ganz recht, ein Bad, das wird nötig sein, Herr Müller, pardon, Herr Weltlein. Auf dem Bahnhof finden Sie dazu Gelegenheit. Und gesund muß die Liebste sein. Nur keine kranken Verhältnisse, sonst hat man arg zu schleppen. Hier der Frack muß noch einmal aufgebügelt werden. Gesundheit und Liebe gehören zusammen. So, nun sehen Sie gefälligst in den Spiegel. Als ob Sie die Welt erobern wollten.«

»Die Welt, die Welt. Ich fühle wie sie nach mir verlangt, wie ich ihrer begehre. Nein, das Alter drückt mich nicht. Seit dieLumpen mir von den Gliedern gefallen sind, beseelt mich neue Kraft, und Ihre Kleider –«

»Nun noch der Zylinder. Kleider machen Leute.«

Thomas packte den Schneider vorn an der Brust und schüttelte ihn. »Er weiß es, er weiß es, die tiefe Weisheit von der Ansteckung kennt er, dieser Mann, und spricht sie aus wie etwas Alltägliches. Ja, so ist es. An sich sind wir nichts. Wir handeln nicht aus eigener Macht. Was uns umgibt, was auf uns einwirkt, das läßt uns handeln. Wenn wir lieben, so lieben nicht wir, sondern der Wein, den wir tranken, liebt, wir hassen nicht, sondern der schwere Pudding, der uns im Magen liegt, haßt. Sind wir geistreich, so ist es, weil unsere Kleidung uns gefällt, oder weil ein sympathischer Ton unser Ohr traf, der den Kerker unseres Verstandes sprengte, weil ein Strahl wunderbaren Lichtes in unser Auge fiel. Aus sich heraus schafft der Mensch nichts. Alles liegt in den Verhältnissen, in denen wir leben. Die soll der Mensch wählen, so gut er kann. Gewiß, Kleider machen Leute, Kleider symbolisch das Leben zusammenfassend, die Wohnung, die Speisen, der Umgang, die Bücher. Umgib dich mit Freude, so wirst du freudig, umgib dich mit Vollkommenheit, so bist du vollkommen.«

Eben fuhr der Wagen vor, der den Schwärmer mit all seinen Schätzen zur Bahn führen sollte, und stolz schritt Thomas an dem tief dienernden Schneider vorbei. Auf dem Bahnhof tat er nach des Schneiders Rat, und als er nun endlich frisch gesäubert und frisch gekleidet im Zuge saß, rief er sich selber zu: »Siehst du Thomas, du böser Zweifler, diesmal behalte ich Recht. Kleider machen Leute. Jetzt bin ich wirklich Mensch. Und jedenfalls, wenn man die Freude sucht, muß man anständig angezogen sein.«

Seit ihm auf dem Wege der Schmerzen Agathe als abschreckender Engel erschienen war, endete jedes Selbstgespräch des Wahrheitssuchers mit dem Gedanken an die Freude. Wo er ihr begegnen würde, wußte er. Der Vetter Lachmann verstand sich darauf. Bei dem würde er die Freude und die Vollkommenheit finden.

In Wahrheit fand er bei dem Freunde weder das eine noch das andere, wohl aber seine Schwester Agathe.

13. Kapitel.

Verrückt oder boshaft?

Sobald Frau Willen aus ihrer Ohnmacht erwacht war, ging sie ohne Zögern daran, den entsprungenen Bruder wieder einzufangen. Der reuige Vikar wurde beauftragt, bei den Behörden der umliegenden Ortschaften Erkundigungen einzuziehen. Alwine erhielt den Oberbefehl über Haus und Küche mit der strengen Weisung, den Doktor Vorbeuger mit List und Klugheit von dem Besuch des Kranken abzuhalten. Agathe aber ging straks auf den Bahnhof und setzte sich in den nächsten Zug, der sie nach dem Wohnort Lachmanns bringen sollte. Sie mußte wissen, ob der Bruder gemeingefährlich sei oder nicht. War er vom Scharlach angesteckt, so wollte sie ihn dem wohlbestallten Henker, dem Dr. Vorbeuger überantworten.

Der lustige Vetter saß gerade vor seinem Frühstückstisch und war dabei, ein Gänsebein mundgerecht zu zerlegen, als seine Cousine eintrat. Das dienstbare Wesen, das sie anmelden wollte, hatte sie ohne weiteres beiseite geschoben, und jetzt stand sie ernst und aufrecht in der Tür. Lachmann war aufgesprungen, hatte den rechten Arm, der mit dem Messer bewaffnet war, um seine alte Freundin geschlungen und riß sie mit einem hellen Jauchzen der Freude in das Zimmer, wobei er die linke Hand mit dem Gänsebein wie ein Kriegsgott sein Schwert gen Himmel schwang.

Mit einer kräftigen Armbewegung stieß ihn Agathe zurück. »Laß den Unsinn, Ernst,« herrschte sie ihn an. »Ich dächte, du wärest alt genug, um vernünftig zu werden.«

Der Vetter trat rasch zurück. »Vernünftig werde ich wohl nie werden. Aber eine Lehre von dir habe ich mir gemerkt. Essen ist besser als lieben. Also komm, es ist genug für uns beide da. Nachher erzählst du mir dann, was dich hergeführt hat.« Er setzte sich nieder und schob ihr einen Teller hin.

Ohne ein Wort zu erwidern, wandte Agathe sich um und schritt zur Tür. Als sie die Hand auf die Klinke legte, brach ihre Kraft. Mit dem Gesicht gegen die Wand gekehrt blieb sie stehen und wartete.

Eine ganze Weile hielt Lachmann stand. Dann aber warf er die Gabel hin und rief: »Entweder man ißt oder man liebt. Eines von beiden geht nur!« Dann erhob er sich und küßte der alten Freundin die Hand. »Du weißt, ich bin immer erst zufrieden, wenn ich dir etwas abzubitten habe.« Er führte sie zum Tisch, nahm ihre Hand und sagte: »Erzähle! Ich werde dir helfen.«

Agathe berichtete. Schon nach den ersten Worten wurde ihr leichter zu Mut, sie wußte nicht, war es eine Folge ihrer Beichte, oder ging von der Arzteshand, die sie hielt, eine Beruhigung aus.

Lachmann hörte schweigend zu, nur von Zeit zu Zeit zuckte es spöttisch um seinen Mund. Als sie von ihrer Scharlachangst und dem Dr. Vorbeuger erzählte, brach er gar in ein schallendes Gelächter aus.

Agathe entzog ihm verstimmt die Hand. »Du lachst über alles, was mich ängstigt. Aber damit hilfst du mir nicht.«

»Verzeih, Cousine, ich kann nichts dafür, daß ich Sinn für Komik habe. Dieser Vorbeuger – ich kenne ihn von der Universität her – verdient seinen Namen. Er ist die verkörperte Furcht, und wenn ich von ihm höre, muß ich lachen. Nun gar diese feine Scharlachdiagnose.«

Agathe sah zweifelnd zu ihrem Vetter hinüber, der sich wieder seinem Frühstück zugewandt hatte. »Glaubst du nicht daran?«

Lachmann schüttelte den Kopf. »Dein Bruder hat ebensowenig Scharlach, wie du oder ich. Erstlich hat er es längst gehabt. Immerhin wäre ja eine zweite Ansteckung möglich; aber hier? nein.«

»Wie kannst du das mit solcher Bestimmtheit behaupten?«

»Weil August Euer Scharlachfieber während seines Aufenthalts hier dreimal hintereinander gehabt hat. Ich habe ihn aufzuheitern gesucht und ich kann dir sagen, er hat getrunken wie ein Mann. Nachts war er regelmäßig hinüber und morgens hatte er das graue Elend. Am zweiten Tage hatte ich Mitleid mit ihm und gab ihm Antipyrin. Ein paar Stunden darauf war er rot wie ein gesottener Krebs. Das kommt ab und zu bei Leuten mit erregbarem Gefäßsystem vor, und ich habe mich weiter nicht darüber gewundert. Aber deinem Bruder, der sich während der ganzen Zeit wie ein ausgelassenes Kind benahm, das aus strenger Zucht in die Freiheit kommt, machte seine gesprenkelte Haut Spaß. Das eine Mal behauptete er, das sei ein schönes Mittel, bei dem man den Erfolg mit den Augen sähe. Der Rotwein werde durch das Pulver sichtbarlich aus der Haut herausgetrieben mitsamt Kopfschmerzen und Übelkeit. Und ein andermal – sage mal ist dein Bruder boshaft? Hat er etwas gegen dich?«

 

»August? nein, sicher nicht. Wir leben im besten Einvernehmen. Warum fragst du das?«

»Nun, urteile selbst. Das zweite Mal, als der Ausschlag nach dem Antipyrin auftrat, kam er zu mir und sagte: »Meinst du, das ist ein feines Mittel, Agathe zu ärgern. Wenn sie mich wieder hofmeistert, nehme ich das Zeug und mache ihr weis, ich hätte Scharlach.«

Agathe fuhr auf. »Lachmann!«

»Es ist buchstäblich wahr.«

»Aber dann ist er ja gar nicht verrückt, dann ist er ja – oh, das ist boshaft, das ist niederträchtig.« Sie legte den Arm auf den Tisch und vergrub den Kopf darin.

Dem Vetter wurde unbehaglich zu Mut. Seinen alten Schatz weinen zu sehen, ging ihm ans Herz. Mit beiden Händen suchte er das Gesicht der Frau hochzuzerren. »Um Gotteswillen, weine nicht,« sagte er.

Agathe schüttelte den Kopf, den sie immer noch in den Armen verborgen hatte. »Ich weine nicht. Ich freue mich so, ich freue mich riesig.« Plötzlich hob sie das Gesicht und stützte es auf die eine Hand. »Wenn es wirklich nur ein Geniestreich meines Bruders ist, um mich zu ärgern, wahrhaftig, ich wüßte nicht, was ich darum gäbe. Unmöglich ist es nicht. Die ganze letzte Zeit habe ich im Kampf mit ihm gelebt. Die roten Krieger haben uns entzweit und ich kann nicht leugnen, daß ich ihm manche Predigt gehalten habe. Ich traue ihm auch ganz gut eine solche schnöde Rache zu.«

Lachmann wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. »Dazu ist er nicht mehr Mann genug. Früher ja, aber du hast ihn zu arg untergekriegt. Das getraut er sich nicht.«

Sofort geriet Agathe in Zorn. »Er getraut es sich nicht? Warum nicht, wenn ich fragen darf? Weil du es ihm nicht zutraust. Als ob du ihn je richtig beurteilt hättest. Du hast immer an ihm herumgetadelt, du hast ihn immer unterschätzt.«

»Aber, beste Agathe, du weißt doch ebenso gut wie ich, daß August das reine Lamm ist, seitdem du deine schützende Hand über ihm hältst.«

»So? Hätte ich ihn etwa so lassen sollen, wie du ihn mir seinerzeit überantwortet hast, als wir zusammenzogen? Mein Gott, wenn ich an das erste Jahr denke, wie er da war. Jeden Abend aus, nie vor ein, zwei Uhr nach Hause, immer und überall mit dem Munde voran und nichts als Politik und Zeitungsgewäsch im Kopf. Nein, nein. Das mag für dich ganz gut sein. Aber August war dafür zu schade und ich habe recht getan, ihm die liederlichen Gewohnheiten auszutreiben.«

»Und der Erfolg deiner Erziehung ist schließlich, daß du ihn verrückt gemacht hast.«

»Ach was! er ist gar nicht verrückt.«

»Wir werden ja sehen, wir werden ja sehen.« Lachmann kam ebenso in Eifer, wie seine Cousine. Er sprang auf und lief im Zimmer umher. »Und wenn du ihn eingefangen hast, dann wirst du ihn wieder in derselben Weise zum Guten anhalten?«

Agathe sah ihn erstaunt an. »Selbstverständlich werde ich das. Glaubst du, ich dulde leichtsinnige Menschen in meiner Umgebung, das solltest du doch wissen.«

Lachmann blieb vor ihr stehen und sah sie böse an. »Ich weiß es ganz gut, du brauchst mich nicht daran zu erinnern.«

Agathes Blick wurde unsicher. Sie drehte sich um und schänkte sich ein Glas Wein ein. »Jetzt ist mir die Sache klar. Es ist einfach ein Spaß von dem Jungen.« Sie lachte und hob das Glas. »Komm, Ernst! Wir wollen Frieden mit einander halten, wir sind doch schließlich zu alt, um uns immer zu zanken.«

Lachmann stieß mit ihr an. »Da hast du recht.« Er setzte sich nieder und ging zum dritten Mal seiner Gans zu Leibe.

»Jetzt kannst du mir etwas abgeben,« meinte Agathe und schob ihm den Teller hin.

Während er ihr vorlegte, begann er von neuem. »Das ist alles gut und schön und es freut mich, daß der Appetit bei dir kommt. Aber mit all dem weißt du noch nicht, wo dein Bruder steckt.«

Agathe ließ sich nicht stören. »Er wird sich schon melden, du sollst sehen, er kommt hierher. Ach, wie gut war es doch, daß ich gleich zu dir gereist bin. Du glaubst gar nicht, wie sehr du mich getröstet hast.«

»Du, Agathe, ganz richtig steht es mit deinem Bruder nicht, sicher nicht. Er hat hier Dummheiten über Dummheiten gemacht.«

»Ein Schwarzseher bist du, Ernst. Warum soll er nicht Dummheiten machen, wenn er einmal der Zucht entronnen ist? Machst du etwa nie welche?«

»Selten, ich würde an deiner Stelle nicht allzu zuversichtlich sein.«

Agathe stemmte beide Ellenbogen auf den Tisch. »Nun höre einmal zu. Wie ich meinen Bruder kenne, ist er einfach von deinen schlechten Grundsätzen wieder angesteckt worden und hat einen Rückfall in seine liederliche Zeit. Ist das der Fall, so wette ich zehn gegen eins, daß er noch heute hier eintrifft, um mit dir zu bummeln. Und wenn jemand so klar ist, daß er sich den besten Zecher aussucht, um mit ihm zu kneipen, dann ist er nicht verrückt.«

»Und wenn er nicht kommt?«

»Er kommt, verlaß dich darauf! Wollen wir wetten?«

»Gut, gewinne ich, so bezahlst du einen Korb Champagner und trinkst ihn mit aus.«

»Einverstanden; und ich bekomme meine –«

»Nein, die Briefe bekommst du nicht. Aber ich werde dir 100 Mark für deine Suppenanstalt schenken.«

Agathe gewann ihre Wette. Als die beiden von einem Spaziergang zurückkehrten, fanden Sie ein Telegramm vom Vikar, daß August Müller auf dem Wege zu Lachmann sei. Der Vetter bezahlte schweigend sein Geld. Am Abend saßen sie friedlich beisammen und warteten. Agathe hatte versprochen, sich willig der Führung Lachmanns anzuvertrauen, und sich nach ihm zu richten.

Als Thomas beim Eintreten seine Schwester sah, runzelte er ein wenig die Stirn, dann aber begrüßte er sie freundlich. »Das ist Recht, daß du auch hierher gekommen bist, Schwesterherz. Nun wollen wir eine vergnügte Zeit miteinander verleben. Nicht wahr, alter Lachmann? Aber vor allem, gebt mir etwas zu essen, ich sterbe vor Hunger.«

Während für ihn aufgetragen wurde, sprach er von dem und jenem, fragte nach Alwine und dem Hause, nach Lachmanns Praxis, nach den Neuigkeiten des Tages. Agathe, die ihn verstohlen beobachtete, schüttelte mehrmals verwundert den Kopf und blickte zu Lachmann hinüber. Der Bruder war wieder ganz wie früher, heiter, liebenswürdig, als sei nichts vorgefallen. Sie atmete auf. Aber gar zu gern hätte sie gewußt, was in dieser Menschenseele in den letzten Tagen vor sich gegangen war. Hätte Lachmann es nicht so streng verboten gehabt, sie wäre mit der Frage nach des Bruders Erlebnissen vorgerückt.

Während des Essens fragte der Ankömmling unvermittelt: »Wie lange willst du denn hier bleiben, Agathe?«

Agathe warf einen fragenden Blick auf Lachmann, der warnend den Finger hob. »Oh, das hat keine Eile,« sagte sie dann, »Alwine wird alles gut besorgen. Wir können ruhig einige Tage hier beim Vetter bleiben und fahren dann zusammen zurück.«