Der Seelensucher

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Der Lumpensammler rückte ihm näher. »Wenn es dir gar so arg ist, etwas zu haben, kannst du mir die Uhr geben.«

Thomas drehte ihm das Gesicht zu. »Nein,« sagte er ruhig, »die brauche ich. Aber störe mich nicht! Ich habe früher den Satz nicht begriffen: Eigentum ist Diebstahl; habe ihn sogar lächerlich gefunden. Aber jetzt begreife ich ihn. Jawohl es ist Diebstahl, Diebstahl am Gut des Nächsten, an der edlen Seele des Menschen, an dem wahrhaft Göttlichen, an den hohen Aufgaben, für die ein jeder geboren ist. Ja ich gehe noch weiter. Eigentum ist Diebstahl, das ist richtig; das andere ist aber ebenso wahr und weit wichtiger: man soll dem, der Geld hat, es nehmen. Nur so befreit man ihn von der Last, der Angst und Sorge, macht ihn zum wahren Menschen, wie ihn Gott gewollt hat. Ja, in diesem Sinne kann man sagen: der Diebstahl ist eine Pflicht jedes anständigen Menschen.«

Wieder rückte der blaue Fuhrmann auf seinem Sitz. »Wo hast du eigentlich die Uhr her?« fragte er.

»Die Uhr? Sie gehört mir. Sie ist ein Geschenk meiner Schwester. Die gute Agathe.« Thomas griff in die Tasche, holte die Uhr heraus und betrachtete sie zärtlich.

Sein neuer Freund griff danach. »Zeig' sie mal,« sagte er. Thomas hielt sie ihm hin, ließ sie aber nicht aus den Fingern.

»Die ist gut ihre 300 Mark wert,« sagte der Kittelmann und tippte mit dem Finger darauf.

Thomas empfand diese Berührung unangenehm. Mit einer Bewegung des Ekels steckte er die Uhr wieder ein.

»Wohl möglich,« sagte er, »aber ich bin müde. Hier hinten ist Platz zum Liegen. Weck mich, wenn die Stadt kommt.« Er erhob sich und streckte sich lang in dem Wagen aus.

Der Fuhrmann starrte lange vor sich hin, plötzlich gab er dem Pferde einen Schlag, spuckte aus und drehte sich nach seinem Gast um. »Wenn du die Uhr da versetzt, was gibst du mir ab?« fragte er.

Thomas blinzelte gen Himmel. Ihm war wohl zu Mut und behaglich sagte er: »Nun auf ein, zwei Thaler soll es mir nicht ankommen,« dann schloß er die Augen und schlief ein.

Der Kutscher saß wieder regungslos, dem Pferde zwischen die Ohren schauend, dann spuckte er noch einmal und murmelte: »Hättest du Halbpart gemacht, wäre es gegangen. So aber – Gerechtigkeit nimm deinen Lauf.«

10. Kapitel.

Der Weg der Schmerzen.

Als Thomas aufwachte, blitzte dicht über seinem Kopfe die blanke Spitze eines Helms in der Morgensonne. Ein bärtiges Gesicht schaute darunter hervor und nickte breit lächelnd dem erstaunten Schläfer zu. Thomas rieb sich die Augen. Wahrhaftig, ein Gendarm, ein richtiger, echter Feldgendarm. In Weltleins Innerem begann es zu kochen. Der Polizeikoller, vor dem Agathe sich so sehr gefürchtet hatte, packte ihn. Er sah wieder, wie gewöhnlich, die Wachtstube vor sich, in der er von dem geschniegelten Polizeileutnant Unterricht im Anstand bekommen hatte.

«Guten Morgen,« eröffnete der Behelmte die Unterhaltung. Weltlein rückte voll Abscheu an die äußerste Kante des Wagens. Der Gendarm faßte ihn am Arm. »Na, na, alter Freund, guten Morgen können Sie mir schon sagen, wenn Ihnen auch bei meinem Anblick nicht wohl zu Mut sein mag. Und ausrücken gibt es hier nicht, wenigstens nicht eher, als bis ich gründlich ihre werte Bekanntschaft gemacht habe. Also nun einmal her mit den Papieren.«

Thomas starrte seinen Nachbar wütend an. »Lassen Sie mich los,« sagte er, »Sie haben kein Recht, mich festzuhalten.«

»Das Recht lassen Sie nur beiseite und seien Sie froh, wenn das Gericht nicht über Sie kommt.« Der Polizist strich sich zufrieden über seinen Witz den Vollbart. »Sie wollen mir damit wohl andeuten, daß Sie Ihre Papiere zu Hause vergessen haben. Dachte ich mir. Aber Ihren Namen haben Sie vielleicht mitgebracht, was? Oder ist der auch weggelaufen?« Er blinzelte dem Fuhrmann zu, der sich vor Lachen ausschütten wollte.

Thomas suchte seinen Arm zu befreien. »Mein Name ist Thomas Weltlein. Lassen Sie mich los, sage ich Ihnen. Das ist Freiheitsberaubung.«

»So nennt man das, ja; aber vorläufig sind Sie noch gar nicht Ihrer göttlichen Freiheit beraubt. Vorläufig setze ich nur Ihren Namen fest, hier in das Buch. Sehen Sie.« Er zog ein Taschenbuch hervor. »Ach, Lumpenwilhelm,« rief er, »sei doch so gut und stütze den Herrn ein wenig, damit er nicht aus Versehen aus dem Wagen fällt. Er sieht so aus, als ob er Lust dazu hätte.«

Lumpenwilhelm wieherte vor Vergnügen, sprang vom Wagen und tat, was ihm geheißen war. Der Gendarm leckte den Bleistift und begann wieder. «Also wie war das? Thomas?«

»Thomas Weltlein.« Der Gefragte stockte; ihm fiel es ein, daß die irdische Gerechtigkeit kaum von seiner Verwandlung gehört haben könne. Zögernd fügte er hinzu: »Eigentlich heiße ich August Müller.«

»So, so. Eigentlich heißen Sie so, aber uneigentlich gar nicht. Wir wollen nur lieber bei dem einen Namen bleiben. Sonst kann ich mir gleich ein neues Buch anschaffen, wenn ich all Ihre werten Namen aufschreiben soll. Also Thomas Weltlein. Und was darf ich als Ihren Wohnort notieren?«

Thomas ächzte vor Wut. » August Müller heiße ich. Ich rate Ihnen, meine Aussagen richtig zu Protokoll zu nehmen.«

»Zu Protokoll nehmen ist gut,« scherzte Lumpenwilhelm; »er ist gelehrt der Herr.«

Der Gendarm setzte sich in Positur. »Wissen Sie, hier wird nicht lange gefackelt mit Leuten, wo ohne Papiere herumlaufen. Ich bin höflich mit Sie, aber ich kann auch höllisch unhöflich sein. Merken Sie sich das, Sie Herr Weltlein oder Müller, Sie!«

Thomas biß die Zähne zusammen. Aber die Qual sollte erst für ihn beginnen. Der Polizist steckte seine Brieftasche weg und wandte sich wieder an seinen Mann: »Der Herr hier« – er deutete auf den Kittelträger, der bei dieser ehrenvollen Bezeichnung freudig seinem Gaul eins mit der Peitsche überknallte, – »hat mir von Ihren Ansichten über fremdes Eigentum erzählt, und da ist es meine Pflicht, einmal in Ihren Taschen nachzusehen, ob Sie nicht etwa statt der vergessenen Papiere irgend etwas anderes eingesteckt haben, natürlich aus Versehen. Wenn Sie nun nicht Lust haben, erst einmal die gehörigen Keile zu kriegen – der Herr da wird mir wohl helfen, wenn es dazu kommen sollte – dann sind Sie so gut, die Arme hochzuheben, damit ich in die Taschen fahren kann. Hoffentlich sind Sie nicht kitzlich.«

Thomas hatte das beifällige Nicken des Fuhrmannes gesehen, und wie er die Peitsche erwartungsvoll fester packte. Er ergab sich in das Unvermeidliche und hob die Hände, das gab ihm einen Augenblick Freiheit. Der Lumpensammler konnte der raschen Bewegung nicht folgen und ließ den Arm los; seine ganze Aufmerksamkeit war zudem darauf gerichtet, ob der Polizist die Uhr zum Vorschein bringen würde, und wie er sich ungestraft dieses Kleinods bemächtigen könne.

Der Gendarm hatte mittlerweile aus der einen Tasche den Stein, der die Welt und das Sein bedeutete, hervorgeholt und ohne weiteres weggeworfen. Thomas sah seinem Symbol mit zitternder Erregung nach. Als aber jetzt der Mann der Gerechtigkeit aus der anderen Tasche das Werden in Gestalt der Weinranke an das Tageslicht förderte, verlor er die ruhige Besonnenheit. Seine heiligsten Gefühle schienen ihm beschimpft zu sein und mit einem Wutschrei riß er dem Gendarm die Ranke, die dieser mit einem seltsamen Aufleuchten der Augen betrachtet hatte, aus der Hand und sprang aus dem Wagen.

»Halt!« schrie der Gendarm, »halt ihn! Das ist ein Hauptdieb. Das ist der Weinbergskarl. Zweihundert Mark Belohnung stehen auf dem Luder.« Nun begann eine Hetze hinter dem unglücklichen Thomas her, als gälte es Tod oder Leben. Wäre er nicht so verrückt gewesen, er wäre entkommen. Aber leider galt ihm sein Symbol mehr als seine Freiheit. Beim eiligen Laufen verlor er das Werden der Welt, und wie er sich bückte, es wieder aufzuheben, packte ihn der langbeinige Lumpensammler, der trotz seines steifen Ganges rascher laufen konnte, von hinten und warf ihn zu Boden. Im nächsten Augenblick war Thomas Weltlein als schwerer Verbrecher gefesselt. Wie ein Sack wurde er zurückgeschleppt und in den Wagen geworfen.

Dort lag nun der Auserwählte, vergeblich mit den Banden ringend und mit seinem Geschick hadernd. In ohnmächtiger Wut wälzte er sich umher, um den schmerzenden Gliedern eine bessere Lage zu geben. Dazwischen horchte er auf die Worte des Polizisten, der mit vielem Stolz die Geschichte des Weinbergkarls erzählte, wie für ihn, den geübten Einbrecher, kein Schloß zu fest sei und wie er vor ein paar Tagen erst wieder aus dem Zuchthaus entsprungen sei. »Diesmal haben wir ihn aber fest. Eine verfluchte Visage hat der Kerl. Siehst du, Wilhelm, das ist der Steckbrief und ein Bild dazu.« Der Gendarm zog wieder sein dickes Notizbuch hervor und entfaltete ein Zeitungsblatt. »Danach hätte ich ihn nicht erkannt. Aber die Weinblätter, die haben ihn verraten. So 'ne Leute haben Angewohnheiten. Der da liebt es, in leeren Weinberghäusern zu wohnen, woher der Name. Ich ahnte ja nichts. Ich dachte nur, es ist ein Stromer und du läßt ihn mit einer väterlichen Mahnung laufen. Muß der Unglückskerl nun ausgesucht solch eine Ranke in der Hose haben. Wie ich das sehe, weiß ich gleich, das ist er und kein anderer.«

Thomas seufzte. Seinem hohen Symbol also verdankte er es, seinem edlen Streben, daß er wie ein Stück Vieh zur Schlachtbank geschleppt wurde. Mit wachsender Bitterkeit dachte er daran, wie es ihm mit seinen Idealen ergangen war. Der Fittich der Tat war ein Pfeifenreiniger in den Händen des Lumpensammlers geworden, der Stein der Welt lag unter anderen Steinen auf der Landstraße und die dionysische Ranke hatte ihn gar zum Verbrecher gemacht. Wahrhaftig, es wäre besser für ihn gewesen, ruhig in der Schwester Obhut zu bleiben, als so auf der Landstraße mit zerstoßenen Gliedern gerädert zu werden. Er ächzte vor Schmerz und schon schwur er sich zu, komme er erst frei, mit dem nächsten Zuge nach Hause zurück zu kehren, da traf ein Wort sein Ohr, das auf einmal seine Kräfte neu belebte.

 

»Hauen müßte man ihn,« sagte der Fuhrmann eben, »hauen, daß er die Engel im Himmel pfeifen hörte. Wenn so ein Kerl ordentlich die Peitsche fühlt, dann hält er stille. Na, ich habe ihm aber ein paar gelangt.« Er klatschte vor Vergnügen mit der Peitsche.

Der Polizist lachte. »Das schadet nichts. Das macht geduldig und bessert ihn. Merk dir das, Weinbergkarl! Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, steht in der Bibel.«

Thomas starrte ihn an, das war wieder die höhere Macht, die ihn führte. Aus dem Munde des Schächers sprach sie zu ihm. Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er. Wahrlich, er war auserwählt, da war kein Zweifel. Mitten in seine Verzagtheit hinein tönte ein höhnisches Wort, das ihn auf den Weg zur Höhe wies. Der Schmerz, der große Läuterer der Seele, trat zu ihm heran wie ein Freund, ein Dämon vom Schicksal gesandt, ihn aufwärts zu führen, ihn für den Kampf mit allem Niedrigen zu stärken. Unter dem Eindruck dieses neuen wunderbaren Rufes schämte sich Thomas seines Zweifels und gelobte sich, die Bahn des Schreckens weiter zu gehen. Der Sieg konnte ihm nicht fehlen. Was sollten die Symbole? Hier lagen Tatsachen vor ihm, hier griff er das Kreuz, in dem er siegen sollte, mit Händen.

Thomas schaute zufällig nach dem dicken Kopf des Schutzmannes, dessen Helm gerade die Sonne traf. Wo hatte er nur die Augen gehabt, daß er nicht früher diesen überirdischen Glanz sah? Das war er selbst, sein Dämon, sein Helfer und Führer, verkleidet in widrigste Gestalt. Wie sonderbar waren die Pfade des Schicksals! Mit Abscheu wies er jetzt den feigen Gedanken der Heimkehr zurück. Sein Entschluß war gefaßt. Treu dem Gebot des Geschickes wollte er die Schmach des Verbrechers tragen. Die Zukunft mußte ihm doch bleiben.

Ganz beruhigt schloß er die Augen. Ihm war, als ob erquickender Balsam ihn berührt hätte, alle Schmerzen schienen verschwunden und er harrte freudig der neuen Prüfungen.

Die sollten nicht ausbleiben. Die Unterhaltung der beiden Sieger war eine Zeitlang weit abgeschweift. Jetzt aber brachte sie der Blaukittel auf den Gefangenen zurück. Daß er dabei seine besonderen Gründe hatte, sah man an dem eigentümlichen Zusammenkneifen der Augen, das seinen Worten voranging.

»Wollen Sie ihn nicht visitieren, Herr Wachtmeister, ehe wir in die Stadt kommen? Vielleicht hat er noch was Schönes in der Tasche.«

Der Polizist sah ihn mißtrauisch an. »Du kriegst nichts ab,« sagte er, »das wird alles auf dem Amt deponiert. Aber recht hast du, nachgesehen muß werden.«

Er erhob sich schwerfällig und wälzte seinen Gefangenen herum, um ihm die Taschen zu leeren. Der Blaukittel blieb ruhig sitzen und starrte auf die Ohren seines Pferdes. Als der Gendarm sich wieder zu ihm setzte, sah er ihn fragend an. »Na?«

»Gar nichts hat er in den Taschen, reinweg gar nichts. Ich habe mir's wohl gedacht.«

Der Fuhrmann räusperte sich. »Das würde ich doch notieren, Herr Wachtmeister. Bei dem Gefangenen nichts gefunden. So ein Kerl behauptet nachher, wir hätten ihm seine goldene Uhr gestohlen.«

Der Polizist rückte sich zurecht. »Ein königlicher Gendarm stiehlt nicht, hörst du wohl, und solche Witze laß gefälligst unterwegens. Du bist hier nicht bei deinesgleichen.«

In dem Augenblick tönte Weltleins Stimme: »Eine goldene Uhr muß in der Tasche stecken.«

Mit einem Seitenblick auf den Fuhrmann erhob sich der Gendarm wieder und stieg über die Latten hinweg, um den Arrestanten von neuem zu durchsuchen. Als er nichts fand, gab er seinem Gesicht den forschenden Ausdruck, mit dem der Herr Polizeiinspektor zu verhören pflegte: »Ist das wahr, Karl, daß du eine Uhr gehabt hast?«

»Gewiß ist es wahr,« antwortete Thomas, über die seltsame Mischung von Gutmütigkeit und Strenge in des Polizisten Gesicht lachend. »Da Ihrem Freunde habe ich sie vor einer halben Stunde gezeigt.«

»Das ist nicht mein Freund.« Der Polizist erhob den Kopf und schrie den Lumpensammler an: »Höre du, Wilhelm, wenn du hier Geschichten machst, sollst du mal sehen. Gib die Uhr her! Himmeldonnerwetter, Kerl, du fährst ja wie der Teufel; da kann ja kein Mensch ein Wort verstehen.«

Wilhelm saß ganz zusammengeduckt da und schlug mit der Peitsche auf seinen Gaul los, der im Galopp den schwankenden Wagen mit sich fortriß. Der Gendarm mußte sich an den Latten festhalten, um nicht zu fallen. »Hältst du gleich still, du! Bist du verrückt? Du schmeißt uns ja um.«

Der Lumpenwilhelm peitschte weiter und schimpfte nun seinerseits. »Was? Das hat man von seiner Gutmütigkeit. Brot und Schnaps hat mir der Kerl aufgefressen und nun sagt er, ich hätte ihm seine Uhr gestohlen. So ein Galgenvogel. Und von Sie, Herr Wachtmeister,« er drehte sich mitten in der Fahrt um und schrie die Worte dem Gendarmen laut in das Gesicht, »finde ich es nicht schön, daß Sie mir des Diebstahls beschuldigen, wo ich Ihnen eine Stunde umsonst gefahren habe, und überhaupt, ich habe den Mann gefangen und werde mir auch die zweihundert Mark auf dem Amt ausbitten, daß Sie es nur wissen. Und das lasse ich mir nicht gefallen, daß Sie mir einen Dieb schimpfen, und ich verdiene ehrlich mein Brot, während andere hier sind, wo im Zuchthaus gesessen haben. Aber ich werde Ihnen melden, daß Sie mir beschimpft haben.«

Der Polizist lenkte ein. »Na, na, Wilhelm, so war es nicht gemeint. Laß doch das verdammte Jagen, ich falle ja raus. Das mit der Uhr ist doch bloß Spaß. Wer wird denn so einem Zuchthäusler glauben?! Nein, nein, die Prämie, die teilen wir uns, das ist klar. Wir haben ihn ja beide gefangen.«

Eben rasselte der Wagen über das Pflaster der Stadt. Der Lumpenwilhelm hielt schmunzelnd sein Pferd zurück. »Hier müssen wir langsam fahren. Aber das ewige Troddeln auf der Landstraße hatte ich dicke.«

Der Gendarm gab in seinem Ärger dem unglücklichen Thomas noch einen festen Fußtritt, dann setzte er sich wieder auf seinen Platz. Sein Gesicht war so grimmig, daß die Leute auf der Straße stehen blieben, um ihm nachzuschauen.

Thomas hatte reichlich Gelegenheit, sich vom Leid läutern zu lassen. Es dauerte nicht lange, so lief eine johlende Rotte von Straßenjungen hinter dem Wagen her, deren schmeichelhafte Zurufe allein schon genügt hätten, die Geduld eines Heiligen zu erschöpfen. Ab und zu kletterte ein vorwitziges Bürschchen hinten auf den Wagen, um den berühmten Dieb von Angesicht zu schauen, und als der Gendarm mit lauten Drohungen und der Lumpensammler mit der Peitsche die Zudringlichen abwehrten, griffen sie zu der letzten Zuflucht der Straßenkönige, den Steinen und dem Schmutz.

Bei alledem schwamm der Auserwählte in Wonnen des Entzückens. Er meinte zu fühlen, wie mit jedem Schimpfwort seine Seele wuchs, wie jeder Stein, der ihn in seiner hilflosen Lage traf, neue Menschenliebe in ihm erweckte. »Heilige Geduld,« rief er sich zu, »rüste mich mit deinen Waffen! Gegrüßt seid mir, Leiden und Schmach, ihr Freunde, die ihr mir dient, einzig zu werden, die ihr der Seele Flügel gebt, über die Erde emporzueilen.« Als diese herrliche Rede jäh durch ein Wurfgeschoß zerschnitten wurde, das des Lobpreisers Zunge traf, wälzte er sich auf den Bauch herum und ließ nun in erhabener Ruhe die feindliche Welt mit seinen Menschen schalten. Jeder Laut, jede Äußerung seiner Gefühle mußte erstickt werden, das bedeutete der Wurf, damit seine Seele sich ganz mit hoher Empfindung fülle.

Umringt von der gaffenden Menge, hielt jetzt der Wagen vor dem Rathaus. Der Gendarm sprang herab und bat den Fuhrmann, den Gefangenen mit in die Wachstube zu schleppen. Lumpenwilhelm erhob sich langsam und stieg zu Thomas hinüber; aber statt der Aufforderung des Polizisten zu folgen, holte er bedächtig aus seiner Riesentasche ein Messer hervor, mit dem er auf Thomas zuging.

Das war dem guten Weltlein zu viel. Verzagt schloß er die Augen. In der Verwirrung, die seine Gedanken durcheinandertrieb, glaubte er, sein letztes Stündlein sei gekommen, und voll Wehmut nahm er von allen hohen Plänen, die nun unausgeführt bleiben mußten, Abschied.

»Was willst du mit dem Messer?« fragte der Gendarm.

»Ihm die Hosenknöpfe abschneiden, dann können Sie ihn allein versorgen. Ich muß mein Pferd in den Stall bringen, sonst kriegt's die Mauke.« Er säbelte ruhig sämtliche Knöpfe ab, wobei er den edlen Weltenträumer wie einen Sack von einer Seite zur andern wälzte, löste ihm die Fuß- und Handfesseln und zog ihn mit den Worten: »Nu mal rin ins Klaffitchen,« empor.

Thomas öffnete die Augen und streckte selig, in dem Gefühl, am Leben zu sein, die Arme gen Himmel. Das Gleiten der Hosen erinnerte ihn jedoch rechtzeitig an die Niedrigkeiten der Erde. »So halte ich mit der einen Hand die Erde,« rief er gerührt, während er die zerschlagenen Glieder vom Wagen herabmühte und die Hosen festhielt, »die andere aber grüßt dich, Sonne, die du mich liebst.« Der Polizist packte ihn am Kragen und stieß ihn unter dem schallenden Gelächter der Menge vor sich her. Der Wagen fuhr rasselnd davon.

Mit leuchtendem Blick schritt Weltlein durch den Korridor. Er hielt jetzt mit beiden Händen das gefährdete Kleidungsstück. Das Bewußtsein seines Sieges hob ihm das Haupt zu königlicher Würde. Für ihn war jetzt alles entschieden. Das Schicksal selbst hatte ihn hierhergeführt, ihm den Namen eines Verbrechers gegeben, einen dionysischen Namen wenigstens, wenn auch keinen schönen. Dem Wink des Schicksals mußte er folgen. »Per aspera ad astra,« murmelte er, fest entschlossen, die gottverhängte Maske allen Verführungen zum Trotz zu tragen.

11. Kapitel.

Ein Weinbergskarl und noch einer.

Dem Polizisten waren indessen allerlei Bedenken aufgestiegen. Vor allem erwachte der Zweifel, ob die Geschichte mit der Uhr auch stimme. Er traute dem Lumpenwilhelm jede Niederträchtigkeit zu, auch einen Diebstahl. Wenn der Kerl wirklich eine goldene Uhr gehabt hatte, so hätte er alles durchsuchen und vor allem den Lumpensammler dabehalten müssen. Den hatte er ruhig davonfahren lassen. Da konnte er in eine böse Patsche geraten; jedenfalls hielt er es für besser, zuerst mit dem Bürgermeister zu verhandeln, statt mit dem Polizeiinspektor, dessen Gründlichkeit er fürchtete. Er führte daher sein Opfer geradeswegs in die Schreibstube der Bürgermeisterei.

Das Zimmer war noch leer, nur ein einziges Schreiberlein hockte auf seinem Drehbein und fuhr hastig mit den Händen in Akten herum, bald hier, bald da ein Bündel aufschlagend und wieder wegwerfend. Er drehte sich um und fragte giftig: »Was ist nun wieder los? Wen bringen Sie denn da, Weber? Lassen Sie mich doch in Frieden. Ich habe Wichtiges zu tun. Ein Verbrecher ist eingeliefert worden, soll transportiert werden.«

»Wollte nur melden, daß hier auch einer ist, Herr Sekretär, ein kapitaler dazu,« antwortete Weber, und die Hand wie ein Schallrohr vor den Mund haltend, sagte er: »Der Weinbergskarl.«

Der Schreiber fuhr heftig mit dem Kopf nach vorn und verdrehte dabei die Augen so nach oben, daß er aussah, als ob er ein Teleskopfisch sei, der auf seine Beute losschießt. »Wen?« fragte er, und seine hohe Stimme überschlug sich dabei vor Aufregung.

»Den Weinbergskarl,« wiederholte der Polizist so laut wie möglich. Der Schreiber sprang auf die Füße und rang die Hände. »Mein Gott, mein Gott, ich werde verrückt! Einen Weinbergskarl dachte ich noch zu überstehen und nun bringt man mir den zweiten. Menschenskind, der ist ja schon da,« schrie er plötzlich laut los, auf den Gendarmen zuspringend und ihm einen Stoß Akten vor die Nase haltend. »Da, da sind die Handakten und drüben sitzt er selber in der Zelle. Besinnen Sie sich doch! Es kann doch nicht zwei geben.«

Der Gendarm zuckte verdutzt die Achseln. »Von dem drüben weiß ich nichts, der hier aber ist der rechte.«

Der Schreiber sah zweifelnd den Gendarmen an, dann wandte er sich an Thomas und riß bei seinen Worten den Mund auf, als ob er ihn fressen wollte. »Wer sind Sie, wer Sie sind, frage ich?«

»Mein Name ist Weinbergskarl,« erwiderte Thomas mit einer höflichen Verbeugung.

Der Schreiber hob vor Erregung ein Bein ums andere in die Höhe. »O Himmel, heut' ist der Teufel los,« seufzte er. »Wie soll ich fertig werden? Und meine Frau hat Geburtstag. Fritz,« schrie er einen Jungen an, der zugleich mit zwei andern jungen Leuten eingetreten war und mit offenem Munde der Szene zusah, »gleich gehst du rüber zum Herrn Polizeiinspektor und bittest ihn herzukommen. Es sei noch einer eingeliefert, noch ein Weinbergskarl.« Dann warf er sich erschöpft auf seinen Stuhl und blätterte wieder hastig hin und her, nur von Zeit zu Zeit nach dem Polizisten und dessen Gefangenen hinschielend.

 

Der Polizeiinspektor erschien. Thomas mit raschem Blick musternd, trat er zu dem aufgeregten Schreiber und ließ sich die Sachlage auseinandersetzen. Dann hörte er den Bericht des Gendarmen an, wobei er von Zeit zu Zeit ein Telegramm, das er in der Hand hielt, ungeduldig hin- und herschwenkte, als ob er zum rascheren Erzählen auffordern wollte. Plötzlich winkte er hastig ab und ging auf Thomas zu, der sich, so gut es bei dem gefährdeten Zustand seiner Kleidung ging, verbeugte.

»Ich bitte Sie, den Irrtum meines Untergebenen zu verzeihen. Es liegt eine Verwechslung vor. Sie sind frei. Ich werde sofort für einen Wagen sorgen.«

Thomas fiel aus allen Himmeln. Mitten in seiner Heiligung faßte den Märtyrer der Zorn. Mit einer patzigen Bewegung setzte er sich wieder auf seine Bank. »Ich will nicht frei sein,« sagte er, »ich bin der Weinbergskarl und verlange mein Recht.«

Der Beamte nickte ihm höflich zu. »Die Sache ist also erledigt,« sagte er und ging zu dem Pult des Schreibers, mit dem er angelegentlich sprach, ohne sich weiter um den Gefangenen zu bekümmern.

Thomas war sehr verstimmt. Er hatte neue Qualen erwartet, Beschimpfungen, Schande, Kerker und Ketten, und nun sah er, daß selbst sein roher Dämon respektvoll zwei Schritte von ihm fortrückte. Das paßte ihm nicht. Mit lauter Stimme begann er zu reden.

»Sie haben nicht das Recht, mich freizulassen, Herr Inspektor. Sie sind grausam. Aber ich werde mich wehren. Wie ist das möglich? Man ergreift mich, ein Dämon wirft mich zitternden Erdenwurm mitten in die Flammen des Fegefeuers, schon fühle ich, wie die lautere Glut alles abgeschieden Irdische in mir verzehrt und dann, ehe noch das Werk der Reinigung vollendet ist, reißt mich der Oberste der Dämonen hervor und stößt mich in die Wüste der Erde zurück. Alle meine Hoffnungen klammern sich hier an diese Hölle, alle meine Wünsche schweben greifbar vor meinen Augen, die große Freundin Not, nach der ich mich sehne, streckt mir die prüfende Hand entgegen und ich darf sie nicht fassen. So nahe dem Ziele, dem hohen Ziele, dessen Bedeutung niemand ermessen kann als ich. Doch nein, Sie müssen es kennen, sonst würden Sie mir nicht so tückisch in den Weg treten. Aber es soll Ihnen nicht gelingen. Ich verlange mein Recht. Ich bin –«

Der Polizeiinspektor drehte sich um und nickte ruhig: »Herr Müller.«

»Der Weinbergskarl,« schrie Thomas in voller Wut und sprang auf. »Ich verlange in das Zuchthaus gebracht zu werden, hören Sie, ich verlange es.«

Der Beamte wurde unruhig. Er fühlte, wie die Schreiber heimlich in sich hineinlachten. Gegen Thomas streng vorgehen mochte er nicht. Dem Mann war unrecht geschehen, und wenn diese Komödie auch nicht sehr geschmackvoll war, so mußte man doch versuchen, höflich mit dem Herrn auseinanderzukommen. Rasch auf den Gefangenen zuschreitend, gab er ihm das Telegramm, das er in der Hand hielt. »Nehmen Sie, es ist von Ihrer Schwester.«

Thomas griff danach. »Von Agathe?« rief er. Die Angst hatte ihn überrascht. Wenn die kam, war er verloren. Nein, Gott sei Dank, sie kam nicht; es war bloß eine Anzeige seines Verschwindens und eine Beschreibung seiner Person. Sofort hatte er wieder den alten Mut. »Ich kenne diesen Mann nicht,« sagte er, »was soll ich damit?«

Der Beamte sah ihn bös an und seine Stimme wurde scharf. »Übertreiben Sie die Sache nicht, Herr Müller. Ihnen ist Unrecht geschehen, aber das gibt Ihnen nicht die Erlaubnis, die Behörden zum Besten zu haben.«

Vollständig ruhig setzte sich Thomas wieder hin. »Beweisen Sie mir, daß ich nicht der Weinbergskarl bin,« sagte er. »Als solcher bin ich verhaftet und man darf mir nicht gegen mein eigenes klares und unanfechtbares Zeugnis meinen Namen rauben.«

»Lachen Sie nicht, Meyer!« schrie der Polizeiinspektor den Jungen an, der ihn geholt hatte und der jetzt die Hälfte seines Schreibärmels in den Mund gesteckt hatte, um nicht loszuplatzen. »Gehen Sie zum Herrn Bürgermeister, ich lasse ihn bitten, einen Augenblick herzukommen. Sie, Weber, bringen den Gefangenen hierher; der Wärter soll mitkommen, damit der Kerl euch nicht durchbrennt. Alle anderen verlassen das Zimmer.« Er wartete, ungeduldig seine Handschuhe hin- und herzerrend, bis er allein mit Thomas war.

»Ich kann Ihnen, wenn Sie es wünschen, tatsächlich den Beweis liefern, daß Sie nicht der Verbrecher sind, für den Sie sich ausgeben. Der Dieb, der Sie zu sein behaupten, der sogenannte Weinbergskarl, befindet sich in unseren Händen und wird in der nächsten Minute hier sein. Vorher möchte ich Ihnen noch einmal Gelegenheit geben, die Sache rasch zu beenden. Ich finde es nicht anständig, daß Sie einen Beamten, der nur Ihr Bestes gewollt hat, vor seinen Untergebenen herabsetzen. Wenn Sie dabei beharren, sehe ich mich genötigt, Sie zu bestrafen.«

Thomas lächelte. Etwas Besseres konnte ihm nicht begegnen. »Beweisen Sie mir, daß ich nicht der Weinbergskarl bin, und bestrafen Sie mich,« sagte er kalt.

Der Inspektor drehte ihm schroff den Rücken und trat an das Schreibpult, nun seinerseits die Akten hin und her werfend. Er wußte, mit einem solchen Beweise würde es Schwierigkeiten geben. Thomas hatte triumphierend die Arme über der Brust gekreuzt. In diesem Augenblick war er von der Größe seines Berufs überzeugt.

Nach einiger Zeit erschien der Gendarm Weber mit dem Gefängniswärter. Zwischen sich führten sie ein Männchen, das stumpfsinnig den Kopf und Nacken nach vorn streckte, und leise vor sich hin murmelte. Der Polizeibeamte ging auf ihn zu.

»Warum ist der Mann nicht gefesselt?« fragte er.

»Wir sind zu zweit, Herr Inspektor,« erwiderte der Wärter und streckte wie zur Bekräftigung seiner Zuversicht seinen Arm aus, öffnete die Hand und schloß sie zur Faust.

Der Inspektor schüttelte mißbilligend den Kopf. »Spricht er?« fragte er wieder.

»Lauter Unsinn, Herr Inspektor, wie gewöhnlich. Er spielt den wilden Mann.«

Der Gefangene lachte blöde auf. »Schöner Herr,« grinste er, »schöner Herr. So bunte Uniform und blanke Knöpfe.« Er suchte die zitternde Hand zu erheben, als ob er damit über das blaue Tuch fahren wollte. Als ihn seine beiden Wärter daran hinderten, sank er wieder in seine frühere stumpfe Haltung zurück.

Der Polizeibeamte drehte ihm halb den Rücken zu und redete wieder den Wärter an. »Ich glaube, wir werden den Mann wieder freilassen müssen. Es liegt kein Beweis gegen ihn vor. Der Weinbergskarl ist es jedenfalls nicht.« Er machte eine kurze Pause, aber die albernen Züge des alten Mannes veränderten sich nicht im geringsten. »Wir haben nämlich den Kerl; dort drüben sitzt er.« Auch dieser Versuch, den Einbrecher zu überlisten mißlang. »Sehn Sie ihn sich doch an,« drängte der Beamte.

Der Alte machte einen Schritt vorwärts, so daß er nun zwischen der Tür und Thomas stand, immer festgehalten von seinen beiden Begleitern. »Auch sehr schöner Herr, schöne Kleider, nicht so bunt, nicht so blank, aber sehr schön.« Er hatte wieder ein wenig den Arm gehoben, um Weltleins herrliche Gewänder zu prüfen.

Der Inspektor versuchte nun noch einmal, den Verbrecher in seiner Rolle der Verrücktheit zu überraschen. Er packte ihn bei der Eitelkeit, und diesmal hatte er mit seinem Kunstgriff Glück. Er stellte sich vor Thomas hin, schlug ihn auf die Schulter und sagte: »Na, Weinbergskarl, nun erzählen Sie mal, wie Sie aus dem Zuchthaus ausgebrochen sind.«