Za darmo

Moderne Geister

Tekst
0
Recenzje
iOSAndroidWindows Phone
Gdzie wysłać link do aplikacji?
Nie zamykaj tego okna, dopóki nie wprowadzisz kodu na urządzeniu mobilnym
Ponów próbęLink został wysłany

Na prośbę właściciela praw autorskich ta książka nie jest dostępna do pobrania jako plik.

Można ją jednak przeczytać w naszych aplikacjach mobilnych (nawet bez połączenia z internetem) oraz online w witrynie LitRes.

Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

IV

Doch um die Wirklichkeit zu erreichen, ist es vor Allem nothwendig, dass man in Frankreich die Augen dafür offen hat, was jene Erniedrigung bedeutete und was Deutschland in unseren Tagen ist, und dass man sich nicht begnügt, seinen beschwerlichen Nachbarn in dem Zerrspiegel des Hasses zu sehen. In dieser Hinsicht haben die ersten und kenntnissreichsten Männer des Landes eine grosse Verantwortlichkeit, Niemand eine grössere als Renan, der ohne Zweifel in den letzten fünfzehn Jahren als der feinste Geist Frankreichs betrachtet worden ist. Andere, wie Victor Hugo, haben einen grösseren Leserkreis, wieder Andere, wie die Theaterdichter, eine mehr lärmende Popularität, aber in der Elite des Volks ist schon lange Niemand so hoch angeschrieben, so unangefochten, als Schriftsteller so bewundert wie Renan. Seine Form galt und gilt für die vornehmste in Frankreich. Keine Prosa wird je von den wählerischen Kennern, den Meistern des Gedankens, den Männern der Wissenschaft und denen unter den Damen, auf deren Urtheil man etwas giebt, in gleiche Linie mit der seinigen gestellt. Alle Schriftsteller werden, mit ihm verglichen, für grob oder alltäglich oder gezwungen, für farblos oder buntscheckig gehalten. Nennt man Goncourt, heisst es: „Wie können Sie ihn neben Renan nennen; er ist gesucht, Renan natürlich“. Spricht man von Taine, so wird man gebeten, einen Geist, der unter Maschinendruck arbeitet, nicht mit einem zu vergleichen, dessen Einfälle ihm ohne Anstrengung zuströmen; About ist ein Spassmacher, Flaubert ein Leberkranker; alle sind sie entweder manierirt oder dickhäutig, unfein, plump, neben Renan gehalten. Eselreiter sind sie; er allein sitzt droben in der Höhe auf seinen den Kopf so hoch tragenden morgenländischen Dromedaren mit den zierlichen Beinen. Dies war der Eindruck, den ich noch 1879 von Gesprächen in verschiedenen Kreisen empfing.

Schon 1870 war der Ruhm Renan's ja so hoch gestiegen, dass sich keine Stimme gegen ihn erhob, ja nicht einmal Verwunderung geäussert wurde, als er in seinem ersten bekannten Brief an Strauss ohne weiteres als der Vertreter Frankreichs Deutschland gegenüber auftrat. Man gab ihm stillschweigend den selbstgenommenen Auftrag.

Bis 1870 war er, wie schon berührt, in seinem Vaterland der Fürsprecher deutscher Ideen, deutschen Geistes gewesen. Es konnte nicht wundern, dass er von jenem Zeitpunkte ab damit aufhörte. Aber er that mehr, er schlug um. In einer patriotischen Stimmung der Reue begann er, um gleichsam sich und Andern den Ablass zu erkaufen, all seinen Schriften einen Stachel gegen Deutschland zu geben. In den Briefen an Strauss gab er diesem eine Lehre, die zum Theil wohl verdient war, aber in seinem Werk „Der Antichrist“ (d. h. Nero) mischte er in störender Weise die Erinnerung an die Belagerung von Paris in die Schilderung der Eroberung von Jerusalem unter Titus hinein; in seiner Antrittsrede in der französischen Akademie machte er den bekannten Ausfall gegen das deutsche Reich mit dessen „geistlosem Adel und grossen Feldherrn ohne wohlklingende Worte“ (des grands capitaines sans des mots sonores) so ungeschickt, dass derselbe wie eine Selbstironie aussah. Denn Ducrot, der das wohlklingende Wort aussprach, er werde nur als Sieger oder als Leiche zurückkehren und der dann als le général ni l'un ni l'autre zurückkam, schien förmlich hier als der rechte Mann gegen den phrasenlosen Moltke aufgestellt, der zwar gern schwieg, jedoch in aller Stille jede Schlacht, die er jemals kommandirt, gewonnen hatte. Vergeblich suchte Renan diese Unbesonnenheiten in seinem grossen „Brief an einen deutschen Freund“ wegzuerklären, der ja übrigens wie Alles, was er geschrieben hat, vor Geist leuchtet und mit all den Facetten der vornehmen Ueberlegenheit glänzt.

Sein Drama „Caliban“ machte Aufsehen. Der Eindruck war: ein Mann, der seiner eigenen Ansicht nach sich ganz gut damit begnügen könne seine Weltverachtung für sich zu behalten, der doch aber nichts dagegen habe – ganz fein, indirect, durch das Summen einer Melodie, die andere, plumpere Sänger halbwegs zu Ende gesungen hätten, – den Zeitgenossen wissen zu lassen, wie grenzenlos er sie geringschätze.

Man konnte in das Schauspiel „Der Jungbrunnen“, die als Fortsetzung des „Caliban“ erschien, ziemlich weit hinein lesen, und die vielen olympischen Gedanken geniessen, für welche nur Renan Ausdruck hat, ohne viel mehr daraus zu verstehen, als dass der Verfasser jetzt ernstlich die Demokratie mit sich und sich mit der Demokratie versöhnen wolle; aber das Vergnügen hörte plötzlich auf, wo im vierten Act der deutsche Gesandte hereintritt. Denn hier hat sich Renan herabgelassen, die alte, abgedroschene Karikatur des deutschen Wesens vorzuführen, welche die Franzosen hundertmal gezeichnet haben.

Jedermann, der in französischer Literatur ein wenig belesen ist, weiss, wie unmittelbar auf eine Epoche, in welcher kindliche Güte, Wahrhaftigkeit, Unweltlichkeit, blauäugige Unschuld und Herzlichkeit in französischen Büchern regelmässig durch einen Deutschen vertreten wurden, eine andere gefolgt ist, in welcher die besten Schriftsteller, wie Cherbuliez, wie Dumas und viele andere ein Vergnügen daran gefunden haben, die kalte, kluge Grausamkeit, die Falschheit, die herzlose Brutalität, französisch mit deutscher Betonung sprechen zu lassen. Nachdem man fünfzig Jahre hindurch nach dem Beispiel Frau von Staëls in Deutschland nichts anderes als das gutmüthige Idyllenland gesehen hatte, in welchem weissgekleidete, blonde Pfarrerstöchter Klopstock und Schiller mit bleichen und linkischen Kandidaten lasen, fing man auf einmal an, in den jungen Mädchen Deutschlands schlaue und doch grobe Speculantinnen in reichen Ehen zu sehen und die Männer als Spione aus Lust zum Handwerk und als Raubmörder aus Ueberzeugung aufzufassen. Was den Aberglauben an die Spionage betrifft, die ja die Niederlagen erklären und entschuldigen sollte, scheint das französische Volk, ja sogar die gute Gesellschaft in Frankreich sich noch nicht nach den Zeiten des Krieges erholt zu haben. Man bildet sich in vollem Ernste ein, dass Bismarck äusserst neugierig gewesen zu erfahren, was sich Herr Durand und Frau Duval in einer Abendgesellschaft sagten; man glaubt, dass er preussische Generalstabsofficiere, die sich willig dazu hergaben, für Lakaien ausgab und in guten Häusern Dienst verschaffte; man meint, wie ich 1879 in Paris es von vorzüglichen Gelehrten hörte, dass der hochbegabte deutsche Schriftsteller Karl Hillebrand, der ohne Vergleich kenntnissreichste Beobachter Frankreichs ausserhalb Frankreichs, Späherdienste in den Salons von Paris geleistet habe. Schauspiele, wie Dora von Sardou oder wie La femme de Claude von Dumas oder Romane wie La grande Iza, in dem man Briefe mit dem Poststempel Varzin in den Schubladen eines leichtfertigen Frauenzimmers findet, endlich der Prozess gegen Frau Kaulla und die übrigen verwandten Prozesse zeigen, dass der Schaden, den Frankreich durch die Demüthigungen an seinem Gehirn litt, noch nicht geheilt worden ist.

In dem Drama Renan's ist die deutsche Brutalität der Gegenstand, auf den besonders gezielt wird. Das Stück, das in Avignon um das Jahr 1310 unter dem babylonischen Exil der Päpste vor sich geht, dreht sich um einen Lebenselixir, den Prospero, der vertriebene Herzog von Mailand, ein ausgezeichneter Philosoph und Alchymist, erfunden hat. Kaum ist die Erfindung bekannt geworden, als der Kaiser von Deutschland einen Legaten schickt, um Prospero zu einem Besuch bei ihm zu überreden, damit er durch List oder Gewalt sich in den Besitz des wunderthätigen Getränkes setzen könne. Dieser Gesandte sagt bei seinem ersten Auftreten auf die Bühne unter anderem:

„Fürchte unsererseits keine Lächerlichkeiten, keine Spur von Sentimentalität. (Er bricht in Lachen aus.) Ich bin in alten Tagen Idealist und Träumer gewesen; jetzt aber sehe ich ein, wie lächerlich die Grossmuth ist; sei ruhig, ich bin ein positiver Mann, ein ernster Mann. Meine Collegen, die Diplomaten, sind alle zusammt Dummerjahns. Jeder von ihnen ist der Dümmste in Europa. (Er lacht). Ich bin witzig, nicht wahr? …

Seine Majestät, der Kaiser, mein Herr, handelt nie anders als nach den strengsten Principien der Gesetzlichkeit. Aber die politische Nothwendigkeit hat ihre Forderungen. Das Schloss Kniphausen ist ihm für seine Souveränität nothwendig. Du begreifst, dass wir uns nicht von den Kleinlichkeiten aufhalten lassen, die sentimentale Menschen zurückhalten würden“.

Die Franzosen, die jetzt so lebhaft gegen deutsche Heuchelei losziehen, müssen sich bald vorsehen, dass man nicht gezwungen wird, den Spiess gegen sie zu drehen und sie selbst Heuchler zu nennen wegen dieses ewigen Appells an das Gefühl auf einem Gebiete, wo sie selbst noch niemals von anderen Rücksichten als rein politischen sich haben leiten lassen. Das Volk, das Ludwig dem Vierzehnten und Napoleon dem Ersten folgte, das die Pfalz brandschatzte und die drei Viertel Europas eroberte, sollte sich über dies Fürsprechen der Gefühlspolitik schämen. Die sentimentalen Rücksichten, die Napoleon von irgend einem Unternehmen zurückhielten, das seinem wirklichen oder vermeintlichen Interesse entsprach, sucht der Historiker noch immer vergebens.

Als Gegenstück zu dem deutschen Gesandten wird Léolin, das ideale Selbstbild Renan's eingeführt, ein wandernder Ritter und Troubadour, von der Geburtsgegend des Verfassers, Bretagne. Der, welcher von dem Zauberwasser trinkt, sieht im Traum den Gegenstand seiner Sehnsucht und erreicht das Ziel seiner Begierde; als Léolin einige Tropfen trinkt, sucht und umarmt er deshalb mit Entzücken die verklärte Gestalt seiner verstorbenen Schwester. (Bekanntlich verlor Renan während eines Aufenthalts in Palästina seine einzige hochgeliebte Schwester, deren Andenken er „Das Leben Jesu“ gewidmet hat.)

Nun ist die Reihe an dem Deutschen zu trinken. Mit thierischer Gier reisst er den Becher an sich und schlürft den starken Trank bis zur Neige, dass er sogleich wie vom Blitz getroffen zum Boden stürzt, dann schnarcht, und endlich zu träumen anfängt. Was glaubt man, dass er jetzt sagt?

 

„Sieg! Sieg! hängt, brennt, erschiesst! Wir sind die Herren, Alles ist uns erlaubt um sie zum Unterschreiben von Allem, was wir wollen, zu bewegen. Grossmuth! Sentimentalität! lauter Dummheiten!

Wie ärgerlich! Die Truppen sind allzu milde; unsere Leute verstehen wohl todtzuschlagen, aber nicht hinzurichten. Man sollte alle Dörfer verbrennen, alle Mannspersonen aufhängen. So geben sie es wohl auf, sich zu vertheidigen. (Er lacht.) Gefangene! … Unbegreiflich, dass man Leute, die sich vertheidigen, gefangen nimmt. Man sollte sie erschiessen … Man sollte höflich gegen sie sein bis zur obersten Stufe des Schaffots (er lacht vor Vergnügen); aber man sollte sie aufhängen … Man muss den Krieg so grausam wie möglich führen. Sentimentalität! welch lächerliches Ding! Man soll erschiessen, man soll hängen, man soll verbrennen … ah! welch ein angenehmer Geruch! es riecht wie gebratene Zwiebel; es sind Bauern, die man in ihren Häusern verbrennt. Von 160 sind 120 mit Säbeln niedergehauen worden. Ihr Schufte! Warum habt Ihr die übrigen geschont? Wisset Ihr nicht, dass Sentimentalität lächerlich ist? … Wesshalb beginnt man nicht das Bombardement? Man kann leicht das psychologische Moment versäumen“.

Und so noch weiter, Seite auf, Seite ab. Ist dies nicht sonderbar direct und nuancenlos? Welch ein Keulenschlag nach dem Schmetterling der Wahrheit! Welch ein Uebermass polemischer Leidenschaft! Ich will bei der künstlerischen Versündigung gar nicht verweilen, diese vermeintliche Bismarckiade in das Jahr 1310 zu verlegen und mit Ausdrücken wie das „psychologische Moment“ aus dem Ton zu fallen. Wie ist aber all' dies krankhaft bitter! Glaubt Renan wirklich, dass es die Denkart war, die sich hier geltend macht, die in dem grossen Schreckensjahr Frankreich besiegte? Ahnt er wirklich noch nicht, dass die Genialität und das Wissen der Führer, Mannszucht, Pflichtgefühl und Heldenmuth der Geführten das war, was den Ausschlag gab?

Das Unglück ist: Renan kennt Deutschland nicht mehr, kennt es noch weniger als Cherbuliez. Die beiden Männer zehren jetzt an den Eindrücken von Büchern und Zeitungen, lesen mit feindlichen Blicken und machen sich dann Luft in Karikaturen wie Renan oder in witzigen Anzüglichkeiten wie Cherbuliez, und da sie in gar keiner directen persönlichen Beziehung zu Deutschland stehen, nicht mit ihren Augen sehen, nicht mit ihren Ohren hören, so verlieren sie nach und nach die Auffassungsgabe und beurtheilen Deutschland, wie der ungebildete Deutsche Frankreich beurtheilt, wenn er über die französische Unsittlichkeit und desgleichen lamentirt. Aber Renan, der schon 1870 die gegenseitige Verleumdung der Völker als die verhängnissvollste Folge des Krieges voraussah, hätte mehr als irgend ein Anderer auf seiner Hut dagegen sein sollen, besonders seitdem der grosse Krieg bewiesen hat, wie theuer jedes Volk für solche Irrthümer büsst.

V

Mit wechselnden Gefühlen hat Renan der Entwickelung des republikanischen Frankreichs zugeschaut. Obwohl die Republikaner ihm fast sogleich seinen Lehrstuhl zurückgaben, zeigten sie sich doch Renan, wie den übrigen Freunden des Prinzen Napoleon gegenüber, ziemlich kühl und reservirt. Durch und durch aristokratischer Gesinnung wie er ist, gab er in „Caliban“ der Demokratie die glatte Lage, sagte jedoch nichts desto weniger kurz nachher in dem seine Antrittsrede in die französische Akademie erklärenden Brief an einen deutschen Freund: „Wenn nun, während Eure Staatsmänner in dieses undankbare Geschäft (der Ahndung) vertieft sind, der französische Bauer mit seinem groben Verstande, seiner unübertünchten Politik, seiner Arbeit und seinen Ersparnissen glücklich eine ordnungsliebende und dauerhafte Republik gründete! Das wäre spasshaft! Nicht wahr?“ Renan ist Skeptiker genug um immer den Zweifel bereit zu haben und sich häufig zu widersprechen, Patriot und Philosoph genug, um sich zuletzt mit jeglicher Staatsform zu befreunden, welche die Mehrzahl seiner Landsleute befriedigt und ihrem geistigen Standpunkt entspricht.

Renan ist, wie schon erwähnt, Bretagner und hat die Eigenschaften seiner Race. Die Bretagner in der neueren französischen Literatur haben einen gemeinschaftlichen Zug. Wie Chateaubriand und Lamennais, hasst Renan das Alltägliche, das Gutmüthig-Frivole, und hat, während er eine Beute des Zweifels ist, das heisseste Bedürfniss nach einem Glauben und einem Ideal. Desshalb hat er, der grosse Wundervertreiber, irgendwo einen Sehnsuchtsseufzer nach jener Zeit ausstossen können, da die Könige von Frankreich Wunder thaten, durch Handauflegung Kehlkopfs-Entzündungen heilten. Desshalb schwärmt er für den heiligen Franciscus von Assisi, während er den nüchternen Amerikaner Channing geringschätzt. Er hegt für sein engeres Vaterland eine tiefe Anhänglichkeit. Hat er doch sogar in einem hoffnungslosen Augenblick seinen Stamm mit den Worten apostrophirt: „O du einfacher Clan von Ackerbauern und Seeleuten, dem ich es verdanke, in einem erloschenen Land die Kraft meiner Seele bewahrt zu haben!“ Man darf gewiss diesen Stimmungsausbruch nicht buchstäblich nehmen. Niemand empfindet ja tiefer als Renan, wie weit jenes Frankreich, von dem er an Strauss schrieb, es sei „als bleibender Protest gegen Pedanterie und Dogmatismus“ für Europa nothwendig, davon entfernt ist, erloschen zu sein. Aber das Wort ist für den zugleich hartnäckigen und unruhigen, schwärmerischen und skeptischen Bretagner bezeichnend. Gibt er seinen Glauben (wie hier den Glauben an Frankreich) an einem Punkte auf, so ist es nur, um anderswo mit um so wärmerer Begeisterung sich an ein Ideal anzuschliessen. Auch in der Religion hat er ein Bretagne, an welches er glaubt.

Ernest Renan als Dramatiker.
(1893.)

I

Das vornehmste Kennzeichen Renan's ist die mit den Jahren wachsende Originalität.

Es gibt Geister, die bei ihrem ersten Auftreten sich selbständig zeigen, kräftig und vieleckig wie Sonderlinge dastehen, deren Ecken der Lauf der Welt, der Einfluss der Umgebung jedoch allmälig abschleift. Interessanter sind immerhin diejenigen, welchen nur die Anlage zur Ursprünglichkeit angeboren ist, die aber das Verhältniss zur umgebenden Welt, die äusseren Einflüsse so bereichern, so selbständig machen, dass ihre Eigenart am klarsten in ihrer Todesstunde zu Tage tritt. Ernest Renan war solch ein Geist, dessen Eigenthümlichkeit sich erst so recht im letzten Zeitabschnitte seines Lebens enthüllte. In seiner abschliessenden Periode offenbart er sich als eine Persönlichkeit, die allmälig durchaus originell geworden war.

Er ward es in folgender Weise: Aus der Bretagne stammend, der Abkömmling einer langen Reihe schlichter Ackerbauer und Seeleute, wurde er frühzeitig zum Priester erzogen. Als Erbe hatte er einen gesunden, aber schweren, plumpen Körper mitbekommen, einen Geist, der ernst, subtil, schwärmerisch, je mehr er sich verweltlichte, um so mehr Witz zu entfalten vermochte. Er empfand stark und tief und lebte in sich zurückgezogen, verschlossen, nach Aussen hin verschämt, scheinbar furchtsam, sein inneres Leben mit der Energie der Innigkeit. Bei aller Lernbegier einer reich ausgestatteten Intelligenz wartete er in den Tiefen des Gemüthes mancher schönen Traumblüthe, erhob sich auch nicht selten zum Fluge auf den Fittigen einer keltischen sagenfrohen Einbildungskraft.

Er schien dazu geboren, ein gläubiger, einflussreicher Geistlicher zu werden. Katholische Hymnen lagen ihm auf der Zunge, ein Duft von Weihrauch breitete sich über sein Gefühlsleben, und Salbung war in seinem Pathos.

Indessen brachten das Studium der semitischen Sprachen, das philologische Verhältniss zur Bibel seinen Jugendglauben ins Schwanken. Er lernte deutsche Literatur und Philosophie kennen, ward von Herder ergriffen, von Hegel mit fortgerissen. Bald war sein religiöser Glaube aus allen Verschanzungen geworfen. Ein Rausch von intellectueller Begeisterung überwältigte ihn. Sein Bretagner Christenthum schien im ersten Augenblicke von der deutschen Vernunft gänzlich ausgerodet. Jene ältere französische Verstandescultur, welche die Voraussetzung der deutschen Wissenschaft war, hatte ihm keinen Abbruch gethan; denn die französische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts erregte in ihrer Dürftigkeit und Trockenheit nur seine heftige Missachtung. Das Deutschland der Jahrhundertwende schien ihm das ideale Land. Ein Land, in dem der Denker ohne Pietätlosigkeit kritisirte, ohne Frivolität leugnete, ein Land, in dem man ohne Aberglauben religiös war, und freidenkerisch ohne Spott. Hier war der Zweifel nicht Zweifel, sondern Wissenschaft, die, niemals schwankend, Vorurtheile niederriss, und niemals schwindelnd, Gedankensysteme, hoch wie Kathedralen, aufbaute. Er fühlte sich von der deutschen Pedanterie nicht abgestossen, weil sie in seinen Augen der französischen Leichtfertigkeit unendlich vorzuziehen war.

Ein Glaube an die Wissenschaft, so feurig, wie es nur sein Glaube an die Religion gewesen, bemächtigte sich seiner. Seine Jugendschrift, das schwere Buch „L'avenir de la science“, ist ein flammendes Glaubensbekenntniss, naiv, kühn, herausfordernd, Programm und Fanfare eines Neubekehrten. Eine Wahrheit nur gibt es: die Wissenschaft, Ein Vorurtheil: den Glauben an das Uebernatürliche. Wie in ein Leichentuch hüllt er diesen Glauben in die Kutte, die er abgeworfen, und begräbt ihn für alle Zeiten. Sein Lebensziel ist, ein Pfleger der Wissenschaft zu sein. Vorläufig ist er der Verkünder ihrer Zukunft; ihr gehört das Reich, die Macht und die Herrlichkeit.

Es war im Jahre 1848. Renan ward Optimist und Socialist. In kürzester Frist erwartete er die Verjüngung der Menschheit, die Erneuerung aller Zustände.

Diese Gaukelbilder zerstieben nur zu rasch. Der junge Mann erhielt einen Eindruck der Wirklichkeit. In Frankreich wurden Freiheit und Republik durch einen Staatsstreich abgeschafft, und das Volk hiess ihn gut. Zu jener Zeit fiel das erste Samenkorn des Pessimismus in Renan's hoffnungsfreudige Seele.

Allein nicht lange, und die alten Jugendgefühle mögen in seinem neuen Gedankenleben wieder aufgetaucht sein. Seine Empfindungs- und Denkweise durchdrangen und neutralisirten nicht einander, wie es im Protestantismus geschehen, wo das Gefühl bis zu einem gewissen Grade rationalisirt, der Gedanke hingegen theologisch angesteckt ist. Nein, ein durchaus katholisches Gefühl, weich, sentimental, ja zuweilen verzärtelt, erhielt sich in seiner ganzen Frische, unbeeinflusst von einem Gedankenleben, das bei aller Sanftheit kühn war bis zu einer durch nichts zu schreckenden Verwegenheit. Renan gehört zu jener grossen Gruppe von Romantikern, die ihr Leben damit verbringen, die Romantik zu bekämpfen.

Im Uebrigen blieb er als Mensch im Privatleben unweltlich, von sanfter Stätigkeit, Idealist ohne Unklugheit. Er kam in den letzten zwanzig Jahren mit jeder französischen Regierung gut aus.

Renan führt selbst mit voller Billigung die Aeusserung eines Freundes an: er denke wie ein Mann, fühle wie ein Weib und handle wie ein Kind. Er fühlte zwar stark, doch wie jene Frauen, mit denen das Herz nie durchgeht, er handelte unweltmännisch, doch wie jene Kinder, deren Unbekanntschaft mit dem Leben eine gewisse instinktive Klugheit nicht ausschliesst.

Seine Empfindungsweise machte sein Denken geschmeidig, geschmeidiger, als man es vielleicht je gesehen, wenn nicht bei so grossen Geistern wie Goethe oder so feinen wie Sainte-Beuve. Seine Stärke bestand darin, das Zusammengesetzte, Reichabgestufte zu erfassen. Während sein Freund und Zeitgenosse Taine, der ebenso entschieden wie er dazu veranlagt war, zu verstehen, überall nach den Grundlinien suchte, nach dem Festen und Bleibenden in der Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit der Erscheinungen, dem Knochenbau, dem Granit, den Höhenzügen, den Wasserscheiden, von denen aus man die Lebensfluthen sich theilen und nach verschiedenen Seiten strömen sieht, verfolgte Renan den Lauf dieser Flüsse in allen seinen Krümmungen und Windungen. Er scheute das Grelle, Ausgesprochene. Andere sahen und sehen die Wahrheit in klaren kräftigen Farben, sehen sie roth oder blau oder glänzend weiss. Dass sie sich in so umfangreiche Worte einfangen liesse, schien ihm nimmermehr glaublich. Er erblickte sie in den Nuancen, in den unmerklichen Uebergängen von der einen Farbe zu der andern. Und wenn er im Handeln ein Kind war, so lag der Grund darin, dass man, wie schon oben gesagt, in Nuancen nicht zu handeln vermag.

Doch aufzufassen vermag man sie, und der feinste Geist ist jener, der sie am sichersten auffasst. Renan war dazu veranlagt, lauter Schattirungen zu sehen, mit Takt die richtige herauszufinden und sie bei ihrem schwer bestimmbaren Namen zu nennen.

 

Der Einfalt seiner Kindheit war bei ihm die unendlich vielfältige Empfänglichkeit des modernen Kritikers gefolgt.

So entwickelt und ausgestattet, fand er den Stoff, der sein ganzes Leben hindurch den Gegenstand seiner Forschung und einen der Hauptgegenstände seiner Darstellungskunst bilden sollte. Die in solcher Weise ausgerüstete jugendliche Persönlichkeit stand von Angesicht zu Angesicht dem Geiste Israels gegenüber. Er, der junge, freigelassene Katholik aus der Bretagne, vertiefte sich in die Betrachtung und das Studium des Genius, der ihm aus dem alten Palästina entgegentrat.

Der hellenische Geist war ihm damals noch ziemlich fremd, und noch gar manches Jahr verging, ehe er das Gebet niederschrieb, welches er mit einer Mischung von Dichtung und Wahrheit auf der Akropolis zu Athene gebetet zu haben behauptet. Dieser israelitische Genius aber mit seiner eigenartigen Männlichkeit und dem Feuer seiner religiösen Begeisterung rief ein gewaltiges, fruchtbares Staunen in ihm hervor. Alle Fangarme seines Wesens reckte er aus, um ihn zu greifen, zu begreifen.

Das Griechenvolk hat unsere Cultur, unsere Kunst und Wissenschaft geschaffen, hat Europa politische Ideen gegeben, ihn aber fesselte es weniger als das israelitische. Es war nicht so in unserem Leben gegenwärtig. Noch heutigentags sind Europas Feste jüdische, nicht griechische, Europas Gott jüdisch, nicht griechisch. Das Buch, das die civilisirte Welt als heilig betrachtet, ist eine Sammlung jüdischer Literatur; die Begriffe der Massen von Pflicht und Glauben, vom Leben dies- und jenseits stammen aus Syrien. Das Ideal Europas wurde in Nazareth geboren.

Alles, was weiblich war in Renan, fühlte sich von dem Geiste Israels angezogen, von Ehrfurcht davor erfüllt.

Worüber er stutzte, war dies: ein kleiner Volksstamm, anfangs aus Nomaden, sodann aus Ackerbauern bestehend, äusserst kriegerisch durch den Zwang der Verhältnisse – ohne Schifffahrt, da er vom Meere abgesperrt war, ohne Handel, der in den Händen anderer Stämme lag, ohne Bau- oder Bildnerkunst, gänzlich ohne Wissenschaft – hatte nur Eine geistige That vollbracht, nur Eine Schöpfung hinterlassen: Religion oder richtiger zwei Religionen, die ihrem Wesen nach eine einzige war; wiederholte das ursprüngliche Christenthum doch nur auf gemeinfassliche Weise, was jüdische Propheten 750 Jahre früher gesagt hatten. Die Griechen hatten uns Staatsformen, wissenschaftliche Grundanschauungen, Denkmale und Kunstwerke hinterlassen, die nie der Vergessenheit anheimfallen konnten. Die Israeliten hatten nur Eines hervorgebracht. Sie hatten einen so energischen, so leidenschaftlichen Schrei nach Gerechtigkeit ausgestossen, dass er noch nach Verlauf von beinahe 3000 Jahren uns in den Ohren tönte.

Dies sprach seinen Idealismus an, und dass Alles in der Zeit so weit zurücklag, bildete nur einen Reiz mehr für ihn. Es gibt Historiker, die sich nur wohl fühlen, wenn sie sicheren Grund und Boden unter den Füssen haben. Sie lieben das Anschauliche, Handgreifliche. Renan hingegen sah gut, sah gerne im Dunkeln, spähte am liebsten in ferne Zeiten und fühlte mit Befriedigung ihre Zustände und Empfindungen sich zu Leben vor seinem inneren Sinn gestalten. Ob es gerade das Leben war, wie es in jenen alten Zeiten gelebt worden – wer vermag es zu entscheiden? Doch leitete ihn eine glückliche Gabe, aus dem Wenigen, das wir wissen, Weiteres zu ahnen und zu errathen. Alle seine Kräfte wendete er auf, um die Gefühls- und Denkweise eines Jahrtausends aus jener längst entschwundenen Vorzeit wieder aufleben zu lassen. Dazu gibt es nur Ein Mittel, die Geistesentwicklung, Kritik genannt, die kein früheres Jahrhundert gekannt hat.

Die Astronomie hat das Sehrohr. Die historische Kritik ist das Sehrohr, das uns ferne Zeiten nahe rückt. Die Physiologie hat das Mikroskop. Die literarische Kritik ist das Mikroskop, das den verborgenen seelischen Zug gross und deutlich macht. Der Physiker hat seine feinen Instrumente, Luftdruck und Wärme damit zu messen. Der Kritiker hat in seiner angeborenen Empfänglichkeit, in der mannigfachen Sensibilität, die er allmälig in sich ausbildet, den Barometer, womit er die Atmosphäre ferner Zeit, den Thermometer, mit dem er die Hitze der Leidenschaften misst. Der Chemiker hat das kostbare Geräth, die Wage. Der Kritiker besitzt in seiner Gabe, das Gelesene zu prüfen, eine feinere Wage, als es in der äusseren Welt eine gibt.

Die Vorarbeit, die Renan von deutschen und holländischen Männern der Wissenschaft gethan fand, war, was Gelehrsamkeit und Scharfsinn anbelangt, bewunderungswürdig. Man hatte (um ein Gleichniss zu gebrauchen, dessen sich Renan einmal bedient) die Bibel ungefähr in dem Zustande vorgefunden, in welchem sich die in Herculanum ausgegrabenen Buchrollen befanden. Tausende von Schriftzeichen in wirrem Durcheinander, die Blätter zu einer Masse zusammengeklebt, des einen Blattes Text in den des andern hineingerathen. Eine Arbeit von der Art, hier Blatt von Blatt zu scheiden, war genial eingeleitet und im vollen Zuge, als Renan seine Alterthumsstudien begann.

Er war als Kritiker weniger ein sondernder, zergliedernder, als ein zusammenfügender Geist. Er zog Linien zwischen den festen Punkten, welche die Arbeiten der germanischen Gelehrten ihm an die Hand gaben. Er kannte die Menschenseele so gut, dass er in der Regel das jedesmal Mögliche erschaute, zwischen zwei Möglichkeiten die wahrscheinliche herausfand und unter den wahrscheinlichen Erklärungen die festhielt, die innere Wahrheit hatte. So hat er in zwölf grossen Bänden Israels Geschichte und den Ursprung des Christenthums erzählt.

Er ging zuvörderst gerade auf das los, das ihn am meisten fesselte, die Persönlichkeit Jesu. Um sich ihr jedoch zu nähern, unternahm er einen Schritt, wie ihn vor ihm noch Niemand, der das Leben Jesu schildern wollte, unternommen. Er reiste nach Palästina und erfüllte Auge und Sinn mit den Eindrücken der Stätten und Gegenden, woselbst Jesus gelebt und gewallt.

Die Formen der Berge und Thäler, der Lauf der Flüsse, das Bett der Seen, sie bleiben durch Jahrtausende dieselben. Im Morgenlande haben überdies die Formen der Zelte und Häuser, der Schnitt der Trachten, die Art der Beschäftigungen, die durch das Klima bestimmte Lebensweise sich Jahrtausende lang unverändert erhalten, so dass Renan wie zur Weihe eine lebendige Vorstellung davon einsog, wie die Naturverhältnisse und die Umgebungen beschaffen gewesen, unter welchen die religiösen Grundbegriffe der civilisirten Welt entstanden.

Sein Jesus ist geistreich aufgefasst, zart ausgeführt, eine Statuette aus Elfenbein. Dem Stile fehlte es an Sicherheit und Grösse, nicht an Feinheit.

Renan's Unentschiedenheit, seine Lust, zugleich Ja und Nein zu sagen, war ihm hier ab und zu ein Hinderniss. Voltaire hatte Nein, die Theologen hatten Ja gesagt. Uneinig mit beiden, wie er war, bestätigte und verwarf er zuweilen in einem Athemzuge. Sein ursprünglich allzu grosser Respect für die Ueberlieferung gereichte besonders den ältesten Ausgaben zum Nachtheile. Man kann ihn hier wie sonst nicht davon freisprechen, eine allzu nachlässige Quellen-Kritik betrieben zu haben. Indem er das vierte Evangelium als Quelle aus dem ersten christlichen Jahrhundert annimmt, gelangt er dahin, den Charakter Jesu auf unhistorische Weise anzuschwärzen. Sein Blick ist durch die Nebel der Zeiten hindurchgedrungen, und hat manchen Zug erschaut, welcher der grossen Gestalt wesentlich zuzugehören scheint. Zuweilen jedoch lebt er sich zu persönlich in sie ein, modernisirt sie unwillkürlich und legt ihr seine Lieblingseigenschaften bei, so zum Beispiel, wenn er Jesus den Gründer „der grossen Lehre von der transscendenten Geringschätzung“ nennt. Man kann sich manchmal des peinlichen Eindruckes nicht erwehren, er sei selbst Modell gestanden.