Za darmo

Moderne Geister

Tekst
0
Recenzje
iOSAndroidWindows Phone
Gdzie wysłać link do aplikacji?
Nie zamykaj tego okna, dopóki nie wprowadzisz kodu na urządzeniu mobilnym
Ponów próbęLink został wysłany

Na prośbę właściciela praw autorskich ta książka nie jest dostępna do pobrania jako plik.

Można ją jednak przeczytać w naszych aplikacjach mobilnych (nawet bez połączenia z internetem) oraz online w witrynie LitRes.

Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

II

Renan stand im Vorsommer 1870 in Begriff, eine Reise nach Spitzbergen in Begleitung des Prinzen Napoleon anzutreten. Kurz vor dieser Reise sprach er eines Tages von Politik. „Sie können“, sagte er, „den Kaiser vollständig durch seine Schriften kennen lernen.23 Er ist ein Journalist auf dem Thron, ein Publicist, der immer die öffentliche Meinung ausfragt. Da seine ganze Macht auf ihr beruht, braucht er trotz seines geringeren Gehalts mehr Kunst als Bismarck, der sich über alles hinwegsetzen kann. Bis jetzt ist er nur körperlich, nicht geistig geschwächt, aber er ist äusserst vorsichtig geworden (extrêmement cauteleux) und hat ein Misstrauen in sich selbst, das er früher nicht kannte“. Renan urtheilte über Napoleon ungefähr wie Sainte-Beuve in dem bekannten nach seinem Tode herausgegebenen Fragment über „Das Leben Cäsars“, in welchem er die Cäsaren „zweiter Classe“ schildert, jene die „im Purpur oder neben dem Purpur geboren“ sind und „etwas Gequältes, Ausgearbeitetes, Fabricirtes“ an sich haben. Ollivier, den Renan schon sehr lange kannte und der eben in jenen Tagen seine kurze Rolle als anscheinend constitutioneller Premierminister spielte, beurtheilte er mit Strenge. Er sagte: „Er und der Kaiser passen vorzüglich zusammen. Sie sind geistig verstanden Verwandte, sie haben dieselbe Art von ehrgeiziger Mystik, sind so zu sagen durch die Chimäre verschwägert“. Schon im Jahre 1851 hatte Ollivier oft zu Renan gesagt: „Sobald ich ans Ruder komme, sobald ich Premier-Minister werde …“

Wenn ich nun in diesen Gesprächen mit meinem damaligen einfachen politischen Grundgedanken, der Nothwendigkeit des Schulzwangs, des unentgeltlichen oder doch äusserst billigen Unterrichts auch für Frankreich, hervorrückte, einem Gedanken, den ich überall zu vertheidigen Anlass hatte und der überall wie eine Ungereimtheit oder eine alte längst aufgegebene Schrulle behandelt wurde, war Renan nach meinen Vorstellungen so paradox, dass ich kaum an seinen Ernst glauben konnte. Seine Argumente haben besonders deswegen Interesse, weil man sie (nur in anderer Form) allenthalben in Frankreich von den Männern des zweiten Kaiserreichs vorbringen hörte. Renan behauptete erstens, gezwungener Unterricht sei eine Tyrannei. „Ich habe selbst“, sagte er „ein kleines Kind, das gebrechlich ist. Wie despotisch, es von mir zu nehmen, um es zu unterrichten!“ Ich entgegnete, dass es durch das Gesetz Ausnahme gäbe. „Dann würde Niemand die Kinder in die Schule schicken“, antwortete er. „Sie kennen nicht unsere französischen Bauern. Sie würden sich nie was daraus machen. Lassen Sie sie die Erde bauen und ihre Steuern zahlen oder geben Sie ihnen ein Gewehr in die Hand und einen Sack auf den Rücken, und sie sind die besten Soldaten der Welt. Aber was für die eine Race passt, passt für die andere nicht. Frankreich ist kein Land wie Schottland oder Skandinavien; die puritanischen und germanischen Gewohnheiten finden hier keinen Boden. Frankreich ist z. B. kein religiöses Land und jeder Versuch, es dazu machen zu wollen, wird scheitern. Es ist ein Land, das zwei Sachen hervorbringt; was gross und was fein ist (du grand et du fin). Die respektable Mittelmässigkeit wird nie hier gedeihen. In diesen zwei Worten ist das ideale Bedürfniss der Bevölkerung ausgedrückt; im Uebrigen will sie nur eins, sich amüsiren, durch Vergnügungen empfinden, dass sie lebt. Und endlich, glauben Sie mir, es ist meine feste Ueberzeugung, dass der elementare Unterricht geradezu ein Uebel ist. Was ist ein Mensch, der lesen und schreiben kann, ich meine: ein Mensch, der nicht mehr als lesen und schreiben kann? Ein Thier, ein dummes und eingebildetes Thier. Geben Sie den Menschen einen Unterricht von 15 bis 20 Jahren, wenn Sie es können, sonst Nichts! Was dazwischen liegt, ist so fern davon, sie klüger zu machen, dass es nur ihre liebenswürdige Natürlichkeit, ihren Instinkt, ihre gesunde Vernunft verdirbt, und sie unerträglich macht. Gibt es etwas Schlimmeres, als von Seminaristen regiert zu werden? Die einzige Ursache, warum wir uns jetzt mit dieser Frage beschäftigen müssen, ist, weil dieser Haufen Gassenbuben (ce tas de gamins) uns zu seiner Zeit das allgemeine Stimmrecht aufzwang. Nein, seien wir darüber einig, dass nur bei den Hochgebildeten die Bildung ein Gutes ist und dass die Halbgebildeten nur wie unnütze und hochmüthige Affen zu betrachten sind“. Ich sprach von Dezentralisation, davon, die Provinzialstädte, Lyon z. B. zu heben. „Lyon“, brach er in vollem Ernste aus, „es würde doch wohl Niemanden einfallen, die Provinzial-Hauptstädte zu geistigen Brennpunkten zu machen, sie kämen sogleich unter die Bischöfe“. „Nein“, fügte er mit drolliger Ueberzeugung hinzu, „in solchen Städten wird man nie etwas anderes als Dummheiten machen“. Man wird nach diesen Aeusserungen des Mannes in Frankreich, der mehr als irgend ein anderer für eine Reform des höheren Unterrichtswesens gekämpft hat, vielleicht besser verstehen, warum da zu Lande die Gleichgültigkeit der Liberalen Hand in Hand mit dem Eifer der katholischen Geistlichkeit ging, wenn die Rede davon war, jener Unwissenheit der niedrigeren Klassen abzuhelfen, die sich später so gefährlich für die äussere und innere Sicherheit des Landes zeigte. Der alte Philarète Chasles, der doch wahrlich kein Chauvinist war, machte sich eines Abends im Mai 1870 bis zu dem Grad über mein Vertrauen in die wirksame Kraft des gezwungenen Unterrichts lustig, dass er ihn mein Revalenta arabica nannte und behauptete, ich hoffe, durch ihn das Menschengeschlecht für alle Zeiten glücklich zu machen. Auch er fragte mich, ob ich nicht meinte, dass die Bauern ohne Schulmeister hinlänglich gute Familienväter und gute Soldaten seien. Der Krieg lehrte bald diese Männer, dass es eine bis dahin nicht genug beachtete Stärke des Soldaten ist, dass er lesen und schreiben kann. Merkwürdig war es aber, zu sehen, wie Ideen, von denen man versucht war, sie ausschliesslich der katholischen Geistlichkeit zuzuschreiben, wie z. B. diese Idee von der unbedingten Schädlichkeit unvollständiger Kenntnisse, nach und nach eine solche Autorität in einem von dem Katholizismus durchdrungenen Lande gewonnen hatten, dass sie mit einer geringen Formveränderung selbst die ausgesprochensten, entschiedensten Gegner des katholischen Glaubens beherrschten.

Eine andere, ebenso interessante Anwendung der Renan'schen Lehre: dass, was in Deutschland oder im Norden gut sei, nicht desshalb für Frankreich tauge, hörte ich eines Tages – Renan selbst war nicht zugegen – in seinem Landhaus in Sèvres. Das Gespräch fiel auf die französische Convenienzehe. Seine Gattin, eine geborene Deutsche, die Tochter des Malers Henri Scheffer, die jedoch ganz von seinen Ideen durchdrungen war, vertheidigte die französische Weise, auf eine Verabredung zwischen dem Freiwerber und den Eltern hin, nach ganz wenigen pflichtschuldigen Besuchen die Hochzeit zu halten. „Diese Weise die Ehen zu schliessen“, sagte sie, „würde nicht existiren, wenn sie nicht ihren guten Grund hätte. Obwohl in Frankreich erzogen, habe ich, die ich deutsch geboren bin, mich nicht so verheirathet. So oft man mir vorschlug, einen Freier in Augenschein zu nehmen, erklärte ich ihn nicht sehen zu wollen; schon dass er als Freier kam, war genug, um ihn in meinen Augen abscheulich zu machen. Ich habe meinen Mann viele Jahre vor unserer Verheirathung gekannt. Wer kann aber etwas einwenden, wenn man sieht, wie ich es bei so vielen unserer Freunde gesehen habe – sie nannte diesen und jenen – dass man eine Woche vor der Hochzeit einander vorgestellt worden, und dass eine solche Ehe sich glücklich und befriedigend für beide Parteien gestaltet hat!“

Während ich in diesen Worten halbwegs eine Ausflucht sah, um nicht die Verhältnisse naher Freunde beurtheilen zu müssen, halbwegs ein Anzeichen der französischen Eigenschaft, jede Nationaleigenthümlichkeit, wie unglücklich sie auch sei, als unabänderliches Racenmerkmal darstellen zu wollen, legte ein Anwesender, einer der vorurtheilsfreiesten französischen Schriftsteller seine Hand auf den Kopf seiner kleinen Tochter, eines Kindes von zwei Jahren und sagte: „Sie meinen also, ich sollte mein kleines Mädchen dem ersten besten Manne geben, der, ohne sich an uns, ihre Eltern zu wenden, sich ihr Herz erschleichen könnte. Erinnern Sie sich doch, wie gross die Unerfahrenheit eines jungen Mädchens ist, vergessen Sie doch nicht die Beschaffenheit der wirklichen Welt, nicht, welche Schufte es gibt, nicht, welche Vorzeit, welche Krankheiten, welche bestialischen Neigungen ein junger Mann haben kann, Eigenschaften, die das Auge eines Vaters ahnt, deren Anwesenheit aber das unschuldige Gemüth eines jungen Mädchens nicht für denkbar halten kann oder darf. Die Welt ist ein Feind. Sollte ich denn nicht nach Kräften meine kleine Tochter gegen den Feind vertheidigen? Wenn einmal in fünfzehn Jahren sich Freiwerber für sie anmelden, so wollen wir, wenn wir bis dahin am Leben sind, uns solcherweise betragen: wir werden die aussondern, die nicht in Betracht kommen können entweder wegen ihrer bürgerlichen Stellung oder wegen moralischer oder körperlicher Schwächen, wir werden eine Auslese (triage) unternehmen, und erlauben dann im Uebrigen, wie alle Eltern, dem jungen Mädchen, zu wählen, wie es will“. Als Voraussetzung dieser Betrachtungsweise muss man sich der abgesperrten Erziehung der Töchter in dem Kloster oder in der Pension erinnern. Mit dieser – selbst wenn jede Rücksicht auf die grössere Feurigkeit und Sinnlichkeit der romanischen Nationen genommen wird – ungereimten Voraussetzung vor Augen, wird die gezogene Folgerung vielleicht vernünftig.

 

III

Ich hielt mich zur Zeit der deutsch-französischen Kriegserklärung in London auf und da ich das Glück hatte, dort mit einigen unparteiischen Männern von grosser politischer Einsicht zu verkehren, ahnte ich früher als meine französischen Bekannten all' das Missgeschick, das der Krieg über Frankreich bringen würde. Bei meiner Rückkehr nach Paris war man dort voller Hoffnung und Zuversicht, ja man legte bekanntlich sogar einen Uebermuth an den Tag, der jeden Fremden unheimlich berühren musste. Dieser Uebermuth wurde jedoch nicht von den Männern der Wissenschaft getheilt. Noch war es zu keiner Schlacht gekommen; aber schon die Nachricht von dem Selbstmord Prévost-Paradol's in Nordamerika hatte einen Jeden, der ihn kannte und es wusste, wie genau die Vorbereitungen und Hilfsquellen Frankreichs dem Verfasser von „La France nouvelle“ bekannt seien, mit den peinlichsten Vorgefühlen erfüllt. Denn Niemand bezweifelte, dass er, wenn auch nach einem Fieberanfall, so doch mit vollem Bewusstsein und vollem Vorsatz Hand an sich gelegt habe. Dass er nicht einfach sein Abschiedsgesuch als Gesandter eingab, hatte – so schien es – darin seinen Grund, dass er allzu stolz war, um überhaupt jemals einen Irrthum einzuräumen; er that es nicht einmal in einem Wortwechsel; und jetzt hatte er den dreifachen Irrthum begangen: an die Aufrichtigkeit der konstitutionellen Bestrebungen des Kaisers zu glauben, den Posten als Gesandter in Washington zu suchen und endlich diesen Posten nicht sogleich aufzugeben, als die hässliche Komödie der allgemeinen Abstimmung im Mai bewies, was die konstitutionellen Velleitäten des Kaisers zu bedeuten hatten. Jetzt kam die Kriegserklärung, die ihm mit dem Untergang Frankreichs gleichbedeutend vorkam, und er zog den Tod einer Stellung vor, in der er nicht verbleiben konnte, und aus welcher er sich nicht ohne eine Demüthigung, die ihm schlimmer als der Tod war, zu ziehen vermochte. Aber dieser einsame Pistolenschuss, der über den Ocean als ein Signalschuss der vielen Hunderttausende schrecklicher Salven ertönte, erschütterte alle die Jugendfreunde und Genossen Prévost-Paradol's. Taine, der eine kurze Reise nach Deutschland gemacht hatte um Materialien für einen Aufsatz über Schiller zu sammeln, der durch den Krieg vereitelt wurde, war durch den Gedanken an das Bevorstehende schmerzlich bewegt. „Ich komme eben aus Deutschland“, sagte er, „und habe mit so vielen arbeitsamen, zum Theil ausgezeichneten Männern gesprochen. Wenn ich bedenke, wie viel Mühe es kostet, ein Menschenkind zu gebären, es zu pflegen, zu erziehen, zu unterrichten und auszustatten, wenn ich ferner bedenke, wie viele Kämpfe und Beschwerden es selbst aushalten muss, um sich für das Leben vorzubereiten, und dann erwäge, wie alles dieses jetzt als ein Haufe blutigen Fleisches in eine Gruft geworfen werden soll, wie kann ich dann anders als trauern! Mit zwei Regenten von der Art Louis Philippe's hätten wir dem Krieg entgehen können; mit zwei Capitaines, wie Bismarck und Louis Napoleon, war er nothwendig“. Er war damals der erste Franzose, den ich die Möglichkeit der deutschen Ueberlegenheit in Betracht ziehen hörte.

Dann kamen Schlag auf Schlag die ersten Nachrichten von grossen Niederlagen, nur gleich nach der Botschaft von der Schlacht bei Weissenburg durch falsche Siegesgerüchte unterbrochen. Düster und traurig war die Stimmung der Stadt an den Tagen, als die Proklamationen an den Strassenecken von geschlagenen Heeren und verlorenen Schlachten erzählten, aber fürchterlicher noch war die Stimmung in Paris an jenem 6. August, da die erste Hälfte des Tages in tollem Siegesrausche, die andere Hälfte in verschämter Abspannung verging – wie gross würde erst die Beschämung gewesen sein, wenn man von der in derselben Stunde gelieferten Schlacht bei Wörth etwas geahnt hätte! Als sich am frühen Morgen die Nachricht von einem grossen gewonnenen Siege verbreitete, bedeckte ganz Paris sich mit Fahnen; alle Leute gingen mit kleinen Flaggen an dem Hut; alle Pferde hatten kleine Flaggen an der Stirn. Ich sass vor einem Café dem Hôtel de Ville gegenüber und betrachtete die mit Hunderten von Fahnen geschmückten Häuser des Platzes, als plötzlich durch das Fenster eines mir nahen Hauses eine Hand sich zeigte, die eine herausgestellte Fahne zurückzog. Ich werde nie diese Hand und diese Bewegung vergessen. So gering der Vorgang war, er machte mich stutzig, denn diese Hand hatte etwas so trauriges, so enttäuschtes in ihrer Bewegung, dass mir augenblicklich der Gedanke kam: Die Siegesnachricht muss falsch sein! … Bald zeigten sich ringsum in den Fenstern Hände, die Fahnen hereinzogen, und in einer Viertelstunde war der ganze Flaggenschmuck wie weggeweht: Wie nackt die Häuser aussahen! Eine Proklamation der Regierung hatte eben erklärt, „dass heute durchaus nichts vom Kriegsschauplatz verlaute und dass die Polizei auf den Spuren der Verbreiter falscher Nachrichten sei, um sie strengstens zu bestrafen“. Die Verbreiter falscher Nachrichten! Als ob nicht die hungernde Phantasie und die schmachtende Sehnsucht der grossen Stadt die einzigen Schuldigen wären!

Ungefähr eine Woche später, am 12. August, traf ich Renan, der vor der festgesetzten Zeit vom hohen Norden zurückgekommen war. Er fasste meine Hand und drückte sie mit beiden Händen. Ich habe ihn nie so bewegt gesehen. Drauf nahm er meinen Arm und ging eine volle Stunde mit mir Strasse auf Strasse ab. Er war verzweifelt, dies triviale Wort ist das einzig passende. Er war ausser sich vor Erbitterung. „Nie“, sagte er, „wurde ein unglückliches Volk so wie das unsrige von Dummköpfen regiert. Man sollte glauben, dass der Kaiser einen Anfall von Wahnsinn gehabt hätte. Aber er ist von den verächtlichsten Schmeichlern umringt; ich kenne hohe Offiziere, die es sehr wohl wussten, dass die preussischen Kanonen unsere gepriesenen Mitrailleusen übertreffen, die es aber dem Kaiser zu sagen nicht wagten, weil er sich mit diesen Sachen selbst beschäftigt, ein bischen an den Entwürfen gezeichnet hat, was in der offiziellen Sprache so ausgedrückt wird, dass er der Erfinder des Geschützes ist. Nie war so wenig Kopf (si peu de tête) in einem Ministerium des Kaisers; er hat es selbst eingesehen; ich kenne Jemand, dem er es gesagt hat, und dann führt er Krieg mit solch einem Ministerium. Hat man jemals solche Tollheit gesehen, ist es nicht herzzerreissend? Wir sind ein Volk, das für lange Zeiten aus dem Sattel geworfen ist. Und nun zu denken, dass alles, was wir Männer der Wissenschaft in fünfzig Jahren aufzubauen bestrebt waren, mit einem Schlage zusammengestürzt ist, die Sympathien zwischen Volk und Volk, das gegenseitige Verständniss, das fruchtbare Zusammenarbeiten. Wie tödtet ein solcher Krieg die Wahrheitsliebe! Welche Lüge, welche Verläumdung des einen Volkes wird nun nicht auf's neue in den nächsten fünfzig Jahren mit Begierde von dem andern geglaubt werden und sie für unüberschauliche Zeiten von einander trennen! Welche Verzögerung des europäischen Fortschritts! In hundert Jahren werden wir nicht wieder aufführen können, was diese Menschen an einem Tage heruntergerissen haben“. Mehr als irgend einen andern musste die Spaltung der beiden grossen Nachbarn Renan schmerzen, der in Frankreich so lange als Vertreter der deutschen Bildung gestanden hatte. Niemand konnte sich auch mit grösserer Dankbarkeit über die deutsche Kultur aussprechen als Renan. Einer seiner Lieblingswendungen war: „Es gibt nichts, das so viel bergen kann, wie ein deutscher Kopf“. Er stellte in Abrede, dass die Deutschen als Volk von irgend einer Rechtsidee beseelt seien, er schien sie persönlich wenig zu mögen, aber von ihrer hohen Intelligenz sprach er immer mit Achtung. Nur schrieb er den Süddeutschen in jeder anderen Richtung als der administrativen, eine weit höhere Begabung als den Norddeutschen zu, eine Auffassung, die von der Mehrheit der gebildeten Franzosen getheilt wird. Das Verhältniss erscheint ihnen analog dem, welches zwischen den Piemontesen und den übrigen Italienern besteht.

Bekanntlich hat man des öfteren behauptet, Renan hätte alles den Deutschen, vornehmlich Strauss zu verdanken. Wer mit dem letzteren nur einigermassen vertraut ist, wird die Unrichtigkeit dieser Behauptung erkennen. Ist doch er es vielmehr, der in seiner späteren Zeit sich in Bezug auf Form und Charakter der Darstellung stark von Renan beeinflussen liess. Die zweite Auflage von Strauss „Leben Jesu“ hat offenbar an dem entsprechenden Werke Renans ihr Vorbild.

Renan erzählte von seiner Reise. „Wir waren in Bergen, als die erste zweideutige Nachricht über den drohenden Krieg uns von Frankreich zukam. Keiner von uns wollte die Sache für möglich halten. Der Prinz und ich sahen einander an. Er, der einen so seltenen und scharfen Verstand hat, sagte nur: „Das können sie nicht!“ und gab Befehl, dass wir weiter reisen sollten. Wir segelten nach Tromsöe. Als wir dahin kamen, lagen da zwei Depeschen an den Prinzen, eine von seinem Sekretär in Paris und eine andere von Emile Ollivier mit diesen Worten: Guerre inévitable! Wir hielten einen kurzen Rath, aber so unsinnig kam uns die Sache vor, nachdem Leopold von Hohenzollern seine Kandidatur zurückgezogen hatte, so unmöglich schien uns dieser Vorwand, der ganz Europa und besonders ganz Deutschland gegen uns aufhetzen musste, und endlich – so grosse Lust hatten wir, nach Spitzbergen zu segeln und ‚das grosse Eis‘ zu sehen, dass wir uns entschlossen, am nächsten Morgen aufzubrechen. Wir gingen zu Bett. Mein Zimmer lag neben dem des Adjutanten des Prinzen. Am frühen Morgen höre ich den Kammerdiener mit einer Depesche den Adjutanten wecken. Ich stand auf, wir gingen an Bord, das Schiff setzte sich in Bewegung, und Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich sah, dass es gegen Süden ging. Der Prinz sass verzweifelt und stierte vor sich hin. Die ersten Worte, die er sagte, waren: ‚Voilá leur dernière folie, ils n'en feront pas d'autres‘. Er ist Prophet gewesen, es wird ihre letzte Tollheit sein. „Ich selbst“, fügte Renan hinzu, „war derselben Ansicht. Ich wusste, wie schlecht wir vorbereitet waren, aber dass es so schnell gehen würde, wer hätte das geahnt! Sagen Sie nicht, dass wir noch siegen können. Wir werden nie mehr siegen, wir haben nie unter diesem Kaiser auf entschiedene Weise Völkerschaften besiegt, deren Ueberwindung als eine glückliche Vorbedeutung gelten kann, wenn von Preussen die Rede ist. Die Araber sind die schlechtesten Taktiker der Erde“. Mehr als ein Mal brach er aus: „Hat man jemals so etwas gehört! Armer Prinz! Armes Frankreich!“ Er war so heftig, dass er sich in Flüchen über alle die leitenden Männer erschöpfte, die nach seiner diesmal sehr wenig nuancirten Auffassung alle zusammen Schwachköpfe oder Schufte seien: „Was ist dieser Palikao? ein Dieb, ein erklärter Dieb, dem alle guten Häuser verschlossen sind, und weiss nicht alle Welt von Jérôme David, dass er ein Verbrecher, ein Mörder ist, der nur durch Flucht in's Ausland sich einer Strafe wegen Todschlags entzogen hat! Und in den Händen solcher Menschen liegt unser Schicksal!“

Ich sah Thränen in seinen Augen und sagte ihm Lebewohl. Ich habe ihn seit dem Tage nicht wiedergesehen. Er gewann schnell seine Ruhe und seine Herrschaft über den Schmerz zurück. Aber in jenen Augenblicken war Renan ein anderer, als da er schrieb: „Der Gelehrte ist Zuschauer im Weltall. Er weiss, dass die Welt ihm nur als Studiengegenstand gehört, und selbst wenn er sie bessern könnte, würde er sie vielleicht so anziehend finden, wie sie ist, dass er die Lust dazu verlöre“. Vollständig ernst hat Renan wohl nie diese kühlen und theilnahmlosen Worte gemeint; wenn aber doch, so durchlebte er im Jahre 1870 Gemüthsbewegungen, während derer sie für ihn keinen Sinn mehr hatten.

In einem alten Buche „Die französische Aesthetik unserer Tage“ habe ich zu schildern versucht, welchen demoralisirenden Einfluss während des zweiten Kaiserthums das Leben unter der Herrschaft und dem Druck des fait accompli auf die französischen Gelehrten ausübte. Eine Neigung zum Quietismus und Fatalismus, zum Gutheissen alles einmal Vollbrachten kennzeichnet unter Napoleon III. die französische Geisteswissenschaft überhaupt. Spuren dieses Einflusses merkte man überall im geselligen Leben, in den Gesprächen. Die völlige Freiheit von Enthusiasmus war mit Bildung und Reife fast synonym geworden. Ein junger Fremder hatte täglich Gelegenheit, über die Zurückhaltung und die Passivität selbst der Besten sich zu wundern, sobald die Rede auf irgend ein praktisches Ziel kam, und ich erinnere mich, dass ich eines Abends im Mai 1870, missmuthig nach Hause gekommen, in mein Notizbuch schrieb: „Es gab einmal ein anderes Frankreich“. Es hatte doch einmal ein waches, begeistertes, poetisches, für die ganze Menschheit fühlendes Frankreich gegeben. Es scheint, dass ein solches Frankreich nach und nach wieder aus der Erniedrigung hervorgehen wird, die, wenn sie auch nichts anderes gutes mit sich führte, wenigstens allen edel strebenden Geistern aufs neue die Richtung nach der Wirklichkeit hin gegeben hat.

 
23Anatole Leroy-Beaulieu hat später einen wohlgelungenen Versuch gemacht, ihn auf Grund derselben zu charakterisiren. (Un Empereur. 1879.)