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Jede Blume erzählt in dem letztgenannten Märchen ihre Geschichte; hören wir, was die Feuerlilie sagt: „Hörst du die Trommel: bum! bum! Es sind nur zwei Töne, immer: bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang! höre den Ruf der Priester! – In ihrem langen rothen Mantel steht das Hindu-Weib auf dem Scheiterhaufen; die Flammen lodern um sie und ihren todten Mann empor; aber das Hindu-Weib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heisser als die Flammen brennen, an ihn, dessen glühender Blick ihr Herz mehr versengt, als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Können die Flammen des Herzens in den Flammen des Scheiterhaufens ersterben?“ – „Das verstehe ich ganz und gar nicht“, sagte die kleine Gerda. – „Das ist mein Märchen!“ sagte die Feuerlilie“.

Noch einen Schritt weiter und die Phantasie des Dichters eignet sich das Leblose an, kolonisirt und annektirt Alles, Grosses und Kleines, ein altes Haus und einen alten Schrank („Die Hirtin und der Schornsteinfeger“), den Kreisel und das Bällchen, die Stopfnadel und den Halskragen, und die grossen Lebkuchenmänner mit bitteren Mandeln als Herzen. Nachdem sie die Physiognomie des Leblosen erfasst hat, identificirt seine Phantasie sich mit dem formlosen All, segelt mit dem Mond über den Himmel, heult und erzählt mit dem Winde, sieht den Schnee, den Schlaf, die Nacht, den Tod und den Traum als Personen.

Das Bestimmende in dieser Phantasie war also die Sympathie mit dem Kindlichen, und durch die Darstellung so tiefliegender elementarer und konstanter Seelenzustände wie diejenigen des Kindes werden die Hervorbringungen dieser Phantasie über die Fluthen der Zeit erhoben, über die Grenzen des Landes hinaus verbreitet, und gemeinschaftliches Eigenthum der verschiedenen Klassen der Gesellschaft. Die Zeit ist längst vorüber, wo man das Genie für ein vom Himmel gefallenes Meteor ansah; jetzt weiss man, dass das Genie, wie alles Natürliche, seine Voraussetzungen und seine Bedingungen hat, dass es in einem durchgängigen Abhängigkeitsverhältnisse zu seinem Zeitalter steht als eins der Organe seiner Ideen. Die Sympathie für das Kind ist nur eine Aeusserungsform der Sympathie des neunzehnten Jahrhunderts für das Naive. Die Liebe zum Unbewussten ist eine Aeusserungsform der Liebe zur Natur. In der Gesellschaft, in der Wissenschaft, in der Poesie, in der Kunst waren die Natur und das Kind zum Gegenstande der Verehrung gemacht worden; zwischen Poesie, Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft findet eine Wechselwirkung statt. Ersteht also ein Dichter, dessen Liebe ihn zum Kinde hinzieht, dessen Phantasie vom Thiere, von der Pflanze, von der Natur angelockt wird, so wagt er seinem Triebe zu folgen, so empfängt er Muth, sein Talent zu äussern, indem hunderttausend dumpfe Stimmen rings um ihn her seine Berufung verstärken. Der Strom, wider den er zu schwimmen glaubt, schaukelt und trägt ihn zu seinem Ziele hin.

Man studirt also seine Kunst, indem man die Ideen studirt, welche ihn inspiriren. Sie in ihrem Entstehen und ihrer Verzweigung, in ihrem abstrakten Wesen und ihrer konkreten Macht zu beobachten, ist daher keine überflüssige Handlung, wenn man sich die Aufgabe stellt, sich in die einzelne Dichterphantasie zu vertiefen. Denn die nackte Idee kann zwar nicht dichten; allein ohne die Idee und ohne die Umgebungen, welche sie in Bewegung setzt, kann der Dichter eben so wenig dichten. Um den glücklichen Dichter steht eine Schaar, die mit weniger Glück in derselben Richtung wie er, arbeitet, und um diese Schaar tummeln sich die Völker als stumme, aber theilnehmende Mitarbeiter. Denn das Genie ist wie ein Brennspiegel; es sammelt und vereint die weit zerstreuten Strahlen. Es steht niemals allein. Es ist nur der herrlichste Baum im Walde, nur die höchste Aehre in der Garbe, und man erkennt es erst in seiner wirklichen Bedeutung und in seiner wahren Stellung, wenn man es an seinem Platze gesehen hat.

III

Es genügt nicht, den Welttheil anzugeben, wo das Genie zu Hause gehört; man kann nicht Dänemark nach einer Karte von Europa bereisen. Man muss zum ersten die Stätte deutlicher bezeichnet sehen; sodann kennt man noch nicht das Genie, weil man, ob auch noch so genau, seine Verbindungen und Umgebungen kennt, so wenig wie man eine Stadt kennt, weil man um ihre Wälle herum schritt. Denn das Genie wird zwar theilweise, aber nicht erschöpfend, durch die Zeit erklärt. Was es vorfindet, vereinigt es unter einem neuen Gesetz; selbst ein Produkt, bringt es Produkte hervor, die es allein in der Welt hervor zu bringen vermag. Man braucht nur seine Aufmerksamkeit ein wenig anzustrengen, man braucht nur das Urtheil eines Fremden zu hören, um zu fühlen, wie viel in Andersen's Märchen national, lokal und individuell ist. Ich sprach einmal mit einem jungen Franzosen über Dänemark. „Ich kenne Ihr Land sehr gut“, sagte er. „Ich weiss, dass Ihr König Christian heisst, dass Ihr erster Schriftsteller ein verkanntes Genie ist und auf den Namen Schmidt hört, dass Herr Ploug der tapferste Kriegsheld Ihres Vaterlandes ist, den kein Schlachtfeld jemals weichen sah, und dass Herr Bille der Gambetta Dänemarks genannt wird. Ich weiss, dass Sie Studenten haben, die sich durch ihre wissenschaftliche Selbständigkeit und ihre freie Forschung auszeichnen, und ich kenne Herrn Holst, welchen man bei Ihnen ja den Tyrtäus des Danebrog nennt …“ Da ich sah, dass er orientirt war, unterbrach ich ihn mit der Frage: „Haben Sie Andersen's Märchen gelesen?“ – „Ob ich das habe!“ antwortete er, „es ist das einzige dänische Buch, welches ich las“. – „Was halten Sie davon?“ frug ich. – „Un peu trop enfantin“, lautete die Antwort. Ich bin überzeugt, wenn man Andersen's Märchen einem fünfjährigen französischen Kinde vorlegte, würde es sie auch etwas kindisch finden. – Ich habe gesagt, dass die Andersen'sche Kindlichkeit allgemein verständlich sei. Das ist wahr, allein es ist nicht die ganze Wahrheit. Diese Kindlichkeit hat ein entschieden germanisches Gepräge, sie wird am besten in England und Deutschland verstanden, minder gut von den romanischen Nationen, am schwersten von der französischen. In Wirklichkeit ist Andersen daher in Frankreich äusserst wenig bekannt und gelesen. England ist das einzige Land, in welchem man ganze und halbe Romane auf die Darstellung des Seelenlebens kleiner Kinder verwendet (Dickens' „Paul Dombey“ und „David Copperfield“, Miss Wetherell's „Die weite, weite Welt“, George Eliot's „Die Mühle am Floss“), und die englische Kindlichkeit ist einzig in ihrer Art; man braucht nur das erste beste, französische illustrirte Kinderbuch aufzuschlagen, um den Unterschied zu merken. Das englische und das französische Kind sind eben so ungleichartig wie eine Eichel und eine Buchecker. In Frankreich wird Andersen schon aus dem Grunde niemals festen Fuss fassen können, weil der Platz besetzt, weil er seit lange von La Fontaine eingenommen ist.

Es gibt zwei Arten von Naivetät. Die eine ist die des Herzens, die andere die des Verstandes, jene offen, frei, einfältig und rührend, diese anscheinend verstellt, neckisch, schlagfertig und fein. Die eine erweckt Thränen, die andere ein Lächeln, die erste hat ihre Schönheit, die andere hat ihren Reiz, die erste kennzeichnet das gute Kind, die andere das enfant terrible, und Andersen ist der Dichter jener, La Fontaine der Dichter dieser Naivetät. Diese letztere Form der Naivetät ist der Ausdruck der Frühreife, welche das treffende Wort spricht, ohne noch recht zu wissen, was sie sagt, und welche daher wie der Deckmantel eines Schalknarren aussieht; die andere Naivetät ist die der Unschuld, welche voraussetzt, dass ihr Garten Eden die ganze Welt sei, und welche daher die ganze Welt durch ihre Unschuld beschämt, ohne zu wissen dass sie es thut, aber mit so treffenden Worten, dass die Naivetät sich wie eine Maske ausnimmt. Vergleicht man daher Andersen's Märchen mit La Fontaine's Fabeln, so findet man eine Grundverschiedenheit in der Lebensanschauung und lernt dadurch die nordische Lebensanschauung in ihrer Begrenzung kennen; denn jede Bestimmung ist eine Begrenzung.

Einer der tiefsten Züge in La Fontaine's und der gallischen Lebensanschauung ist der Krieg gegen die Illussion. Das launige Spiel in La Fontaine's Naivetät besteht darin, dass sie, so harmlos sie ist, so gutmüthig und mild sie sich immer beweist, ab und zu ahnen lässt, dass sie sich nicht foppen lässt, sondern recht wohl all' die Dummheit und Heuchelei, all' das Predigen und all' die Phrasen zu schätzen und zu würdigen weiss, von denen die Menschen sich, wie durch Verabredung an der Nase oder am Herzen herumführen lassen. Mit einem Lächeln geht sie an dem Ernste vorüber, dessen Kern Fäulniss, an all' der Grösse, die im Grunde nur Frechheit, an all' der Ehrwürdigkeit, deren Wesen Lüge ist. So bringt sie „Alles an seinen rechten Platz“, wie der Titel einer der populärsten Geschichten Andersen's lautet. Der Grundton ihres Ernstes ist eine poetische Begeisterung, und ihr witziger Scherz hat einen Stachel, den sie sorgsam verhehlt. Die französische Satire ist ein Stossdegen mit einem vorläufigen Knopfe. Sie hat in „Tartuffe“, „Candide“ und „Figaro“ Revolution vor der Revolution gemacht. Das Gelächter ist Frankreichs älteste Marseillaise.

Der tiefste Zug in Andersen's Lebensanschauung ist der, das Herz am höchsten zu setzen, und dieser Zug ist dänisch. Selbst gefühlvoll, hebt diese Anschauung bei jeder Gelegenheit die Schönheit und Bedeutung des Gefühls hervor, überspringt den Willen (alle Schicksale des Flachses, in dem Märchen seines Lebens, kommen von aussen), bekämpft die Verstandeskritik als das Böse, als ein Werk des Teufels, als einen Hexenspiegel, versetzt der pedantischen Wissenschaft treffliche und witzige Seitenhiebe („Die Glocke“, „Ein Blatt vom Himmel“), schildert die Sinne als Versucher oder übergeht sie wie unnennbar, verfolgt und denuncirt die Hartherzigkeit, stürzt die Rohheit und Bornirtheit von ihrem Throne, hebt die Unschuld und die Wohlanständigkeit hinauf, und bringt so Alles an seinen rechten Platz. Das Grundwesen ihres Ernstes ist das moralisch-religiöse Gefühl, mit dem Hasse der Genialität gegen die Bornirtheit gepaart, und ihre humoristische Satire ist launig, ruhig, in Uebereinstimmung mit dem idyllischen Geiste der Dichtart. Diese Satire sticht nur wie eine Mücke, allein an den empfindlichen Stellen. Welche dieser Anschauungen ist die beste? Eine solche Frage verlohnt keiner Antwort. Nur weil sie mir einfallen, nicht um mich für das Eine oder Andere zu entscheiden, führe ich die Zeilen Georg Herwegh's an:

 
 
Auch mir hat sich das Aug' schon oft genetzt,
Sah ich das Herz misshandelt und zerschlagen
Und von den Rüden des Verstands gehetzt.
 
 
Es darf das Herz wohl auch ein Wörtchen sagen,
Doch ward es weislich in die Brust gesetzt,
Dass man's so hoch nicht wie den Kopf soll tragen.
 

Wie die Lebensanschauungen hier verschieden sind, so auch die poetischen Begabungen. La Fontaine schreibt klare, formvollendete, höchst melodische Verse, deren Poesie eine leichte Schalkhaftigkeit und eine sanfte Wehmuth ist. Andersen schreibt eine barocke, unregelmässige, leichtmanierirte Prosa, deren Poesie eine üppig sprudelnde, ganz entzückende Phantastik ist. Diese Phantastik macht Andersen den Franzosen zu fremdartig, deren ziemlich graue Poesie ganz und gar der farbigen Blumenpracht entbehrt, die ihre höchste Schönheit in Shakespeare's „Sommernachtstraum“ erreicht, die man aber überall in der Poesie der nordischen Völker verspürt, und die Andersen's Märchen ihren feinsten Duft mittheilt. Und wie die phantastische Laune derselben allgemein nordisch ist, so ist ihr idyllischer Grundton insbesondere dänisch. Kein Wunder, dass die ersten und eigenthümlichsten dieser Märchen unter dem Regimente Friedrich's VI. gedichtet wurden; seine Zeit hat ihnen den Stempel aufgedrückt, man findet ihn wieder in all' jenen väterlich-patriarchalischen alten Königen; man findet den Geist der Zeit in dem vollständigen Mangel an gesellschaftlicher, geschweige politischer Satire, welchen man in den Märchen verspürt. Kein Wunder auch, dass Thorwaldsen nicht müde werden konnte, diese Märchen vorlesen zu hören, während er seine Ambe und Terne im Lottospiel besetzte, denn sein dänisches Wesen war naiv und seine Kunst, trotz ihrer Grösse, idyllisch wie die Kunst, welche diese Dichtungen erzeugt hat.

Ein Genie, das zu einer Zeit geboren wird, wo Alles seiner Entwicklung entgegen steht, wird entweder zermalmt oder geht zu Grunde wie ein untergeordnetes Talent: ein Andersen 1705 statt 1805 in Dänemark geboren, wäre ein Unglücklicher, ein ganz Unbedeutender, vielleicht ein Wahnsinniger geworden. Ein Talent, das in einem Zeitalter geboren wird, wo ihm alles zu Statten kommt, erzeugt klassische, geniale Produkte. Allein dieser ersten Uebereinstimmung zwischen dem Genie und der Zeit (zum Theil auch dem Lande), entspricht eine zweite zwischen den eigenen Kräften des Genies, und eine dritte zwischen dem Genie und seiner Kunstart. Die geniale Natur ist ein organisch zusammenhängendes Ganzes, ihre Schwäche an dem einen Punkte bedingt ihre Stärke an dem andern, die Entwicklung jener Fähigkeit verursacht die Hemmung dieser Fähigkeit, und es ist unmöglich, etwas Einzelnes zu verändern, ohne die ganze Maschinerie zu verändern und zu stören. Man wünscht wohl das Eine oder Andere anders, aber man begreift ohne Mühe, dass es so sein muss. Man möchte dem Dichter mehr Persönlichkeit, ein männlicheres Wesen und eine ruhigere Geisteskraft wünschen; aber man versteht leicht, dass das Unpersönliche, Abschlusslose der Individualität, welche man aus dem „Märchen meines Lebens“ kennen lernt, im innigsten Zusammenhange mit seiner Art der Begabung steht. Ein zugeknöpfterer Geist könnte die poetischen Eindrücke nicht so empfänglich aufnehmen und empfinden, ein härterer nicht diese Schmiegsamkeit mit seiner strammeren Haltung vereinen, ein für Kritik und Philosophie empfänglicherer nicht so naiv sein. Wie nun die moralischen Eigenschaften die intellektuellen bedingen, so bedingen diese gegenseitig einander. Ein so überströmendes lyrisches Gefühl, eine so exaltirte Sensibilität kann nicht mit der Erfahrung und Methode des Weltmanns bestehen; denn Erfahrung kühlt ab und verhärtet. Eine so leicht voltigirende und vogelmässig hüpfende und fliegende Phantasie lässt sich nicht mit dem logisch abgemessenen Crescendo und Decrescendo der poetischen Handlung vereinen. Eine so wenig kaltblütige Beobachtung kann nicht psychologisch bis ins Mark dringen, eine so kindliche, so leicht erbebende Hand kann nicht einen Schurken anatomiren. Stellen wir daher eine Begabung, wie diese, verschiedenen bestimmten und bekannten Kunstarten gegenüber, so können wir im Voraus entscheiden, wie es sich zu jeder derselben verhalten muss.

Der Roman ist eine Dichtungsart, welche nicht allein Einbildungskraft und Gefühl, sondern den scharfen Verstand und das kalte, ruhige Beobachtungsvermögen des Weltmanns bei demjenigen erfordert, welcher Ausgezeichnetes darin leisten soll; daraus ergiebt sich, dass derselbe nicht ganz für Andersen passt, wiewohl er seinem Talente auch nicht durchaus fern liegt. Die ganze Scenerie, der Naturhintergrund, das Malerische des Kostüms wird ihm gelingen; aber im Psychologischen wird man die Schwäche verspüren. Er wird für und wider seine Personen Partei nehmen; seine Männer werden nicht männlich genug, seine Frauen nicht recht weiblich sein. Ich kenne keinen Dichter, dessen Geist geschlechtsloser ist, dessen Talent weniger ein bestimmtes Geschlecht verräth, als Andersen. Desshalb hat er seine Stärke darin, Kinder darzustellen, bei denen das bewusste Geschlechtsgefühl noch nicht hervorgetreten ist. Alles beruht darauf, dass er das, was er ist, so ausschliesslich ist, kein Gelehrter, kein Denker, kein Bannerträger, kein Kämpfer, wie mehrere der grössten Dichter, sondern ausschliesslich Poet. Ein Poet ist ein Mann, der zugleich Weib ist. Andersen sieht im Manne und im Weibe am kräftigsten das Elementare, das gemeinsam Menschliche, viel weniger das Besondere, das Interessante. Ich übersehe nicht, wie er das tiefe Gefühl einer Mutter in „Die Geschichte einer Mutter“ geschildert oder eine Darstellung weiblichen Seelenlebens in „Die kleine Seejungfer“ gegeben hat; aber was er hier darstellt, sind nicht die zusammengesetzten Seelenzustände des Lebens und des Romans, sondern das Lebenselement; er lässt den ganz einzelnen und reinen Ton erklingen, der in den verschlungenen Harmonien und Disharmonien des Lebens weder so rein noch so einzeln vorkommt. Indem sie in das Märchen eintreten, erleiden alle Gefühle eine Vereinfachung, eine Läuterung und Verwandlung. Der Charakter des Mannes liegt dem Kinderdichter am fernsten, und ich entsinne mich nur einer einzigen Stelle in den Märchen, wo man auf eine feine psychologische Charakteristik einer weiblichen Seele stösst; sie steht so unschuldig da, dass man sich fast fragen möchte, ob sie sich nicht selbst geschrieben habe. Man findet sie in einer Geschichte von zwei Porzellanfiguren, „Die Hirtin und der Schornsteinfeger“:

„Hast Du wirklich Muth, mit mir in die weite Welt hinaus zu gehen?“ frug der Schornsteinfeger. „Hast du bedacht, wie gross die ist, und dass wir nie mehr hierher zurückkehren können?“ – „Das hab' ich“ sagte sie. Und der Schornsteinfeger sah sie fest an, und dann sagte er: „Mein Weg geht durch den Schornstein! Hast Du wirklich Muth, mit mir durch den Ofen, durch die Trommel sowohl wie durch das Rohr zu kriechen? …“ Und er führte sie zu der Ofenthür hin. „Da sieht es ganz schwarz aus!“ sagte sie, aber sie ging doch mit ihm durch die Trommel sowohl wie durch's Rohr, wo die pechfinstere Nacht herrschte. Nach einer langen und beschwerlichen Wanderung erreichten sie den Schornsteinrand. Der Himmel mit all' seinen Sternen war hoch über und alle Dächer der Stadt tief unter ihnen. Sie sahen weit umher, weit, weit hinaus in die Welt. Die arme Hirtin hatte sich's nie so gedacht; sie lehnte sich mit ihrem kleinen Kopfe an ihren Schornsteinfeger und dann weinte sie, dass das Gold von ihrem Leibgürtel absprang. „Das ist allzu viel!“ sagte sie. „Das kann ich nicht ertragen! Die Welt ist gar zu gross! Wäre ich doch wieder auf dem Tischchen unter dem Spiegel! Ich werde niemals froh, ehe ich wieder dort bin! Nun bin ich Dir ja gefolgt! Nun bin ich Dir in die weite Welt hinaus gefolgt, nun kannst Du mich auch wieder zurückbegleiten, wenn Du mich wirklich lieb hast!

Eine tiefere, eine unbarmherziger wahre, eine handgreiflichere Analyse einer gewissen Art von weiblicher Begeisterung und ihrer Thatkraft, wenn es rücksichtslos, kühn und ohne einen Blick nach rückwärts zu handeln gilt, findet man, glaube ich, bei keinem anderen dänischen Dichter. Welche Feinheit in der Darstellung: der augenblicklich entschlossene Enthusiasmus, das heroische Ueberwinden des ersten Schauders, Ausdauer, Tapferkeit, Festigkeit bis zu dem Augenblicke – wo es darauf ankommt, wo die Festigkeit zerbricht und die Sehnsucht nach dem Tischchen unter dem Spiegel erwacht! Mancher dicke Roman wird durch solch' eine Seite in die Höhe geschnellt, und man tröstet sich darüber, dass Andersen kein Meister im Romanfache ist.

Das Drama ist eine Dichtungsart, welche die Fähigkeit erfordert, eine Idee zu differentiiren, sie auf viele Träger zu vertheilen; es erfordert Sinn für die bewusste Handlung, eine logische Kraft, sie zu lenken, einen Blick für die Situation, eine Leidenschaft dafür, sich in das unerschöpfliche Studium der einzelnen, vielseitigen Seele zu vertiefen und zu versenken; daraus ergibt sich, dass das Drama Andersen ferner liegt, als der Roman, und dass seine Unfähigkeit für das Dramatische mit mathematischer Bestimmtheit in dem Verhältnisse steigt, in welchem die einzelne dramatische Abart dem Märchen und damit seiner Begabung ferner liegt. Die Märchenkomödie gelingt ihm natürlich am besten; aber sie hat auch nicht viel anders von der Komödie, als den Namen. Sie ist eine Mischart, und wenn sie auf die Probe des spanischen Märchens gestellt werden könnte, würde man sie als Bastarden erkennen. Im Situationslustspiele ist er glücklich betreffs der poetischen Ausführung der einzelnen Scenen selbst („Der König träumt“), aber höchst unglücklich in der Durchführung der Idee im Ganzen („Die Perle des Glücks“). Das eigentliche Lustspiel passt nicht übel für seine Gaben. Einzelne seiner Märchen sind ja bereits fast Holberg'sche Lustspiele: „Die glückliche Familie“ ist eine Holberg'sche Charakterkomödie, und „Es ist ganz gewiss“ ein Holberg'sches Intriguenstück. Hier fällt ihm die Charakterzeichnung denn auch leichter als im ernsten Drama, denn hier wandelt er direkt in Holberg's Spuren; so auffällig stimmt sein Vermögen in einer einzelnen Richtung mit dem jenes grossen Mannes überein. Andersen ist, wie ich schon bemerkt habe, kein eigentlicher Psycholog; er ist mehr Biolog als besonderer Menschenkenner. Seine Vorliebe ist, den Menschen durch das Thier oder durch die Pflanze zu schildern, ihn sich von seinem Naturgrunde aus entwickeln zu sehen. Alle Kunst enthält eine Antwort auf die Frage: was ist der Mensch? Fragt Andersen, wie er den Menschen definire, und er wird antworten: der Mensch ist ein Schwan, ausgebrütet auf dem Entenhofe der Natur.

Dem psychologisch Interessirten, der, ausser Stande, einen ganzen zusammengesetzten Charakter zu umfassen, einen fein entwickelten Blick für die einzelne Eigenschaft oder Eigenthümlichkeit besitzt, bieten die Thiere, insbesondere die uns wohlbekannten, eine grosse Erleichterung. Man ist nämlich gewohnt, sie auf eine einzige Eigenschaft, oder doch nur auf ganz wenige, zurückzuführen: die Schnecke ist langsam, die Nachtigall ist die unscheinbare Sängerin mit den herrlichen Tönen, der Schmetterling der schöne Flatterhafte. Nichts also hindert, dass ein Dichter mit der Gabe, diese treffenden kleinen Züge darzustellen, in die Spuren Holberg's tritt, des Mannes, welcher die „Wankelmüthige“ u. s. w. geschrieben hat, wie Andersen es in „Der neuen Wochenstube“ that. Er zeigt hier übrigens eine seiner vielen Aehnlichkeiten mit Dickens, dessen Komik sich häufig auf einige wenige, in's Unendliche wiederholte Züge beschränkt.

In der Epopöe, die in unsern Tagen zu den unmöglichen Dichtungsformen gehört, und die Alles erfordert, was Andersen gebricht, kann er nur einzelne hübsche Einfälle haben, wie z. B. wenn er in „Ahasverus“ den Geist China's in einer drolligen lyrischen Episode charakterisirt, oder wenn er die zwitschernden Schwalben (ganz wie im Märchen) uns Attila's Festsaal schildern lässt.

In der Reisebeschreibung kommt naturgemäss eine grosse Anzahl seiner besten Eigenschaften zum Vorschein. Wie sein Liebling, der Zugvogel, ist er in seinem Elemente, wenn er reist. Er beobachtet wie ein Maler, und er schildert wie ein Schwärmer. Zwei Fehler treten jedoch hier hervor: der eine, dass sein lyrischer Hang zuweilen mit ihm durchgeht, so dass er lobsingt statt zu schildern, oder übertreibt statt zu malen (siehe z. B. die allzu überschwängliche Beschreibung von Ragatz und Pfäffers); der andere, dass das untergeordnet Persönliche, das Ichsüchtige, welches erkennen lässt, dass der tieferen Persönlichkeit die Geschlossenheit fehlt, bisweilen in störender Weise sich aufdrängt. Letzteres charakterisirt besonders stark die Art seiner Selbstbiographie. Was man mit Recht dem „Märchen meines Lebens“ vorwerfen kann, ist nicht so sehr, dass der Verfasser so durchaus mit seiner Privatperson beschäftigt ist (denn das ist hier ganz natürlich), sondern dass diese Persönlichkeit fast nie mit etwas Grösserem als mit sich selbst beschäftigt ist, niemals in einer Idee aufgeht, sich niemals ganz von dem Ich befreit. Die Revolution von 1848 erscheint in diesem Buche wie ein Niesen; man ist ganz erstaunt, daran erinnert zu werden, dass es noch eine Welt ausserhalb des Verfassers gibt.

 

In der lyrischen Poesie hat er äusseren Erfolg gehabt; Chamisso hat sogar einzelne Lieder von ihm übersetzt; ich sehe ihn aber ungern seine farbige, naturgetreue und realistische Prosatracht ablegen, um sich in den einförmigen Mantel des Verses zu hüllen. Seine Prosa hat Phantasie, ungebundenes Gefühl, Rhythmik und Melodie – warum also nach Wasser über den Bach gehen? Seine Gedichte zeichnen sich übrigens häufig durch einen friedevollen und kindlichen Geist, ein warmes und mildes Gefühl aus. – Man sieht, dass das Resultat seiner Versuche in den verschiedenen Dichtungsarten ganz direkt, wie das unbekannte X in der Mathematik, aus der Natur seiner Anlagen einerseits und der Natur der Dichtungsart andererseits hervorgeht.

So bleibt denn nur seine eigene Dichtungsart zurück, diejenige, auf welche er kein Patent zu nehmen braucht; denn Niemand wird sie ihm rauben. Zu Andersen's Zeiten machte man nach dem Vorbilde Hegel's überall den Versuch, alle Dichtungsarten mit ihren Varietäten in ästhetische Systeme zu ordnen, und der dänische Hegelianer Heiberg entwarf denn auch ein reich gegliedertes System, in welchem die Rangordnung der Komödie, der Tragödie, des Romans, des Märchens u. s. w. festgestellt und den Kunstarten, die Heiberg selbst pflegte, ein besonders hoher Rang gesichert wurde. Es ist aber gewissermassen schon doctrinär, von allgemeinen Kunstarten zu reden. Jeder Dichter individualisirt seine Dichtungsart vollständig. Die Form, welche er gebraucht hat, vermag kein Anderer zu benutzen. So ist es mit dem Märchen, dessen Theorie Andersen nicht zu schreiben versucht, dessen Platz im Systeme er nicht feststellen gewollt, und den bestimmen zu wollen ich mich wohl hüten werde. Es ist überhaupt sonderbar mit der ästhetisch-systematischen Rangordnung, es ergeht Einem mit ihr wie mit der Rangordnung im Staate: je mehr man darüber nachdenkt, desto ketzerischer wird man. Vielleicht kommt es daher, weil Denken überhaupt gleichbedeutend ist mit Ketzer sein. Doch wie jeder Naturtypus, hat das Andersen'sche Märchen seinen Charakter, und seine Theorie besteht in den Gesetzen, denen es folgt, und die es nicht zu überschreiten vermag, ohne dass eine Missgeburt zum Vorschein kommt. Alles in der Welt hat sein Gesetz, selbst die Dichtungsart, welche die Naturgesetze aufhebt.

Andersen gebraucht irgendwo den Ausdruck, er habe sich nun ungefähr in allen Radien des Märchenkreises versucht. Dieser Ausdruck ist treffend und gut. Die Märchen bilden ein Ganzes, ein in vielfachen Radien ausstrahlendes Gewebe, das dem Beschauer, wie das Spinngewebe in „Aladdin“ zu sagen scheint: „Sieh, wie im schwachen Netz die Fäden sich verschlingen!“ Wenn es nicht allzu viel Schulstaub in's Wohnzimmer mitbringen heisst, so will ich den Leser darauf aufmerksam machen, dass er in einem berühmten wissenschaftlichen Werke, in Adolf Zeising's „Aesthetischen Forschungen“, die ganze Reihe ästhetischer Gegensatz-Begriffe mit all' ihren Nuancen (das Schöne, Komische, Tragische, Humoristische, Rührende u. s. w.) in einem grossen Sterne geordnet sehen kann, ganz wie Andersen es sich betreffs seiner Märchen gedacht hat.

Die Phantasieform und Erzählungsweise der Märchen gestattet nämlich die Behandlung der verschiedenartigsten Stoffe in der verschiedenartigsten Tonart. Hier findet man erhabene Erzählungen wie „Die Glocke“, tiefsinnige und weise Märchen wie „Der Schatten“, phantastisch-bizarre wie „Erlenhügel“, lustige, fast muthwillige wie „Der Schweinehirt“ oder „Die Springer“, humoristische wie „Die Prinzessin auf der Erbse“, „Eine gute Laune“, „Die Halskragen“, „Das Liebespaar“, und mit einer Schattirung von Wehmuth „Der standhafte Zinnsoldat“; herzergreifende Dichtungen wie „Die Geschichte einer Mutter“, unheimlich beklemmende wie „Die rothen Schuhe“, rührende Phantasien wie „Die kleine Seejungfer“, und gemischte, zugleich grossartige und heitere wie „Die Schneekönigin“. Hier begegnet uns eine Anekdote wie „Herzeleid“, die einem Lächeln durch Thränen gleicht, und eine Inspiration wie „Die Muse des neuen Jahrhunderts“, in welcher man den Flügelschlag der Geschichte, das Herzklopfen und den Pulsschlag des lebendigen Lebens der Gegenwart vernimmt, heftig wie im Fieber, und doch gesund wie in einem glücklichen, begeisterten Momente. Kurz gesagt, hier ist alles, was zwischen dem Epigramm und der Hymne liegt.37

Gibt es denn wirklich eine Grenze, welche das Märchen beschränkt, ein Gesetz, das es bindet, und wo liegt es? Das Gesetz des Märchens liegt in der Natur des Märchens, und dessen Natur beruht auf derjenigen der Poesie. Scheint es im ersten Augenblicke, dass nichts der Dichtart verwehrt sei, welche eine Prinzessin eine Erbse durch zwanzig Matratzen und zwanzig Eiderdaunenbetten hindurch verspüren lassen kann, so ist das nur ein Schein. Das Märchen, welches die ungebundene Freiheit der Erfindung mit dem Zwange vereint, den sein Grundgedanke ihm auferlegt, muss zwischen zwei Klippen hindurch steuern: zwischen der ideenlosen Ueppigkeit und der trockenen Allegorie; es muss die Mittelstrasse halten zwischen der allzu starken Fülle und der allzu grossen Magerkeit. Das thut Andersen fast immer, aber zuweilen doch nicht. Die aus Volksmärchen entnommenen Stoffe, wie „Der fliegende Koffer“, oder die eigentlichen Feenmärchen, wie „Däumelinchen“, haben für die erwachsenen Leser nicht so viel Anziehendes wie für Kinder, weil das Märchen hier keinen Gedanken verbirgt. Im „Garten des Paradieses“ ist alles das meisterhaft, was dem Eintritt in den Garten vorausgeht, allein der Fee des Paradieses selbst scheint es mir schwer etwas Schönes oder Ergötzliches abzugewinnen. Das entgegengesetzte Extrem ist nun, dass man die dürre Absicht, die trockene Lehre durch das Gewebe der Dichtung sieht; dieser Fehler ist, wie es in unserer reflektirenden und bewussten Zeit sich erwarten liess, weit häufiger. Man empfindet ihn stark, weil das Märchen das Reich des Unbewussten ist. Nicht nur, dass die unbewussten Wesen und Dinge hier das Wort führen, sondern was im Märchen siegt und verherrlicht wird, ist eben das Unbewusste. Und das Märchen hat Recht; denn das Unbewusste ist unser Fond und der Quell unserer Stärke. Desshalb kann der Reisekamerad Unterstützung von dem Todten empfangen, weil er ganz vergessen hat, dass er ihm früher geholfen, und desshalb bekommt selbst Tölpel-Hans, weil er bei all' seiner Einfältigkeit naiv ist, die Prinzessin und das halbe Reich. Denn auch die Dummheit hat ihre Genialität und ihr Glück; nur mit den armen Zwischengeschöpfen, ohne Scharfsinn und ohne Dummheit weiss das Märchen nichts anzufangen.

37Es gibt keinen einzigen dänischen Dichter, der es in solchem Grade wie Andersen verschmäht hätte, durch die Romantik der Vergangenheit zu wirken; er ist selbst im Märchen, das von der romantischen Schule in Deutschland von Anfang an in so mittelalterlichem Stile behandelt ward, immer voll und ganz in der Gegenwart. Er wagt, eben so wie Oersted, das Interessante in der Schwärmerei für König Hans und seine Zeit aufzuopfern, und er sagt gerne wie Ovid: Prisca juvent alios! ego me nunc denique natum Gratulor. Haec aetas moribus apta meis. Ars amat. III, 121.