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Moderne Geister

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III

Er stand auf, um zu gehen, und da er wusste, dass ich nach London zu reisen beabsichtigte, fragte er mich, ob ich die Reise mit ihm machen wolle. Um mich nicht zudringlich zu zeigen, gab ich eine verneinende Antwort, und erhielt eine Einladung, ihn in England zu besuchen, wozu noch die Aufforderung gefügt wurde, mich ja stets im Vorhinein anzukündigen, damit ich ihn sicher zu Hause träfe. Ich hatte eben damals Mill's meisterhaftes Werk über die Philosophie William Hamilton's gelesen, war davon sehr erfüllt und hatte tausend philosophische Fragen auf dem Herzen; es freute mich desswegen sehr, dass eine so seltene Gelegenheit sich darbot, meine Zweifel mit dem Verfasser selbst zu erörtern, und eine Woche nachher schellte ich an dem Gartenpförtchen vor Mill's Landhaus in Blackheath-Park bei London, diesem Pförtchen, vor welchem ich nie ohne frohe Erwartungen gestanden und das ich niemals ohne das Gefühl, geistig bereichert zu sein, hinter mir schloss. Andere Menschen fühlen sich ergriffen, wenn ein König ihnen eine herablassende Aufmerksamkeit erweist. Was ist ein König? Von der hohen jährlichen Apanage abgesehen, ist er ein Machthaber. Es will mir demnach scheinen, dass Männer wie Stuart Mill die wahren Könige sind, denn wer in Wirklichkeit die Länder regiert, das sind Männer wie er, ja sie regieren sie noch nach ihrem Tode.

Meine Universitätserziehung in Kopenhagen war abstract-metaphysisch gewesen. Die Professoren der Philosophie waren Männer, die trotz der tiefen Verschiedenheit ihres Wesens, trotz der abweichenden Standpunkte, die sie auf religiösem Gebiete vertraten, in allem Wesentlichen dasselbe Schulgepräge trugen. Sie hatten beide ihre Laufbahn als Theologen begonnen und waren danach Hegelianer geworden, der eine von der Hegel'schen Linken, der andere von der Hegel'schen Rechten beeinflusst. Sie hatten demnächst, wie alle Welt in der damaligen Zeit, sich „von Hegel emancipirt“, was doch so zu verstehen war, dass Hegel immer in ihrem Gedankenkreise das Erste und das Letzte blieb; seine Methode wurde bald mit abstractem Scharfsinn, bald mit sophistischer Geschmeidigkeit angewendet, auf den Kathedern gepredigt, die dem Cultus des Absoluten, des Subject-Objects geweiht waren, seine Werke wurden citirt, seine paar Witzwörter wiederholt und eine ermüdende, endlose Polemik gegen seine vermeintlichen Irrthümer geführt, von denen wir erfuhren, dass sie fast alle in seiner Unterschätzung des Realen, besonders in seiner mangelhaften Einsicht in die Naturwissenschaften begründet gewesen. Aber selbst seine Irrthümer mussten dem Schüler köstlicher als die Wahrheiten anderer Denker erscheinen, denn um zur Wahrheit zu gelangen, war es, wie schon das Beispiel des Herrn Professors zeigte, immer nothwendig, zuerst durch einen Irrthum Hegel's zu kriechen. Der Kopenhagener Universität galt, den sonstigen nicht allzu freundlichen Gesinnungen gegen Deutschland zum Trotz, der Satz als unbestritten, dass die moderne Philosophie eine deutsche, wie die antike eine griechische Wissenschaft sei. Die Existenz des englischen Empirismus und des französischen Positivismus war an der Universität nicht anerkannt; von englischer Philosophie insbesondere hörten wir nur als von einer durch Kant längst überwundenen und todtgemachten Richtung. Es war mir durch eine gewisse Kraftanstrengung möglich geworden, mich, so gut es eben ging, aus den Banden der in Dänemark herrschenden Schule loszuwinden, und ich stand damals zwischen speculativen und positivistischen Tendenzen schwankend. Ich machte Stuart Mill gegenüber kein Hehl aus meiner Unsicherheit.

„Sie kennen also Hegel so genau“, sagte er, „Sie verstehen Deutsch?“

„Ich verstehe deutsch“, erwiderte er. „Aber ich spreche so wenig deutsch, dass ich in Deutschland sogar auf Eisenbahnstationen Mühe gehabt habe, mich zurechtzufinden“.

„Sie kennen die deutschen Philosophen aus Uebersetzungen?“

„Kant habe ich in einer Uebersetzung gelesen, von Hegel weder im Original, noch in Uebersetzung das Geringste. Ich kenne ihn nur aus Referaten und Gegenschriften, am besten durch die kurzgefasste Darstellung, die der einzige Hegelianer Englands, Sterling, gegeben hat.

„Und welchen Eindruck haben Sie so von Hegel erhalten?“

„Den, dass die Schriften, in welchen Hegel seine Principien anzuwenden versucht hat, vielleicht etwas Gutes enthalten können, dass aber alles rein Metaphysische, was Hegel geschrieben hat, Nonsens ist“.

Ich wurde bei dem Worte stutzig und meinte, dass diese Aeusserung doch wohl cum grano salis zu verstehen sei.

„Nein, ganz nach dem Wortlaute“, antwortete er. Er verweilte bei dem Grundrisse des Systems, bei den ersten Anfängen, der Lehre vom Sein, das mit dem Nichts identificirt wird, und rief aus: „Was wollen Sie, dass aus dem Ganzen herauskommen soll, wenn man mit einem solchen Sophismus anfängt? Haben Sie wirklich Hegel gelesen?“

„Gewiss, die meisten seiner Werke“.

Mill (mit einer höchst ungläubigen Miene): „Und Sie haben ihn verstanden?“

„Ich denke, wenigstens in allen Hauptzügen“.

Er (mit fast naiver Verwunderung): „Aber gibt es denn wirklich da etwas zu verstehen?“

Ich versuchte diese sonderbare und weitläufige Frage, so gut es ging, zu beantworten, und Mill sagte, nicht eben überzeugt aber entgegenkommend: „Ich begreife sehr wohl die Pietät oder Dankbarkeit, die Sie gegen Hegel fühlen. Man ist immer denen dankbar, die uns das Denken lehrten“.

Niemals habe ich so, wie während dieses Gespräches gefühlt, wie völlig Mill ein Mann aus Einem Gusse war, ein echter Engländer, eigensinnig und hartnäckig, mit einer sonderbaren knochigen Willenskraft ausgerüstet und der Gabe eines geschmeidigen kritischen Aneignens völlig beraubt. Was mich aber bei dieser Gelegenheit am meisten ergriff, das war der tiefe Eindruck der Unwissenheit, in welcher noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bedeutendsten Männer der verschiedenen Länder, selbst der Paar Hauptländer über ihre gegenseitigen Verdienste schweben. Ich fühlte, dass man bis zu einem gewissen Grade schon dadurch nützlich sein könnte, dass man diese grossen Geister, die einander nicht verstehen, studire, confrontire und verstehe.

Ich versuchte die Anschauungsweise, die ich meiner Universitätserziehung verdankte, gegen die Principien der empirischen Philosophie in's Feuer zu führen. Zu meinem Erstaunen waren alle Argumente, die ich vorbrachte und von deren Wirkung auf Mill ich mir viel versprochen hatte, ihm längst bekannt. „Das sind“, sagte er, „die alten deutschen Argumente“; er führte sie alle auf Kant zurück und hatte seine Beantwortung derselben bereit.

Es würde hier nicht am Platze sein, die Realität der grossen, zwischen den beiden modernen Schulen schwebenden Streitfrage zu behandeln, eine Frage, die in Deutschland von fast allen Denkern im deutschen, in England von fast allen Denkern im englischen Sinne gelöst wird; natürlicherweise wollte Stuart Mill durchaus nicht einräumen, dass David Hume von Kant widerlegt sei, eine Anschauung, die ich jetzt vollständig theile und die, wie ich glaube, allgemein durchdringen wird, wenn die jetzige Kant-Vergötterung ein bisschen nachgelassen hat. Ein Zeichen der Zeit ist es in dieser Hinsicht, dass die jüngeren Professoren und Docenten an der Berliner Universität alle der englischen Richtung der Philosophie angehören und von dieser selben Universität ein Buch wie Friedrich Paulsens „Kant's Erkenntnisstheorie“ ausgegangen ist. Damals ahnte ich zwar schon, dass die rationalistische und die empiristische Erkenntnisslehre sich irgendwie vermitteln liessen, aber ich kannte noch nicht Herbert Spencer's einfache Lösung des Räthsels. Mill sprach sich kurz, aber entschieden gegen alle Vermittlungsversuche aus und schloss mit den eigenthümlich bescheidenen, aber festen Worten, die mir im Gedächtnisse geblieben sind: „Ich glaube, dass man zwischen den Theorien wählen muss“.

In diesem Geiste äusserte er sich auch über die verschiedenen modernen Philosophen, die ihm nahestanden. Er empfahl mir, Herbert Spencer kennen zu lernen. Die späteren Werke Spencers zu studiren, glaubte er jedoch nicht mir rathen zu sollen. Er meinte, dass er sich in diesen von „der guten Methode“ entfernt habe; er empfahl mir dagegen eindringlich Spencer's „Principles of Psychology“ und namentlich die beiden Hauptwerke „The senses and the intellect“ und „The emotions and the will“ von Bain. Er schenkte mir ein Exemplar des im Verein mit Bain von ihm herausgegebenen und mit Anmerkungen versehenen Werkes seines Vaters „Analysis of the human mind“ das er mir als ein Hauptwerk der englischen Schule dieses Jahrhunderts rühmte, und da ich ihm von meiner Bewunderung seiner Kritik der Hamilton'schen Philosophie gesprochen hatte, schickte er mir Tags darauf noch dieses Buch. Fast von selbst musste das Gespräch auf Taine's eben erschienenes Werk „De l'intelligence“ fallen, in welchem Mill so eifrig studirt, benützt und widerlegt wird und in welchem die englische Richtung in der französischen Philosophie sich vielleicht ihr dauerndes Denkmal gesetzt hat. Mill lobte Taine; nannte sein Buch eines der gründlichsten und bedeutendsten des neuen Frankreich und sagte mir darüber ungefähr, was ich später in seiner Besprechung dieses Werkes („Fortnigthly Review“, Juli 1870) wiederholt fand; das Buch als Ganzes war ihm lieb; gegen die letzten Capitel desselben hatte er dieselbe Art von Einwendungen zu machen wie gegen die späteren Werke Herbert Spencers. Man musste ja nach seiner Ueberzeugung zwischen dem bedingten Wissen der Empirie und der unbedingten Gewissheit der Intuition ein für alle Mal entschieden „wählen“, und Taine hatte in dem letzten Buche seines Werkes über die Intelligenz eben versucht, Axiome aufzustellen, die sich nicht aus der Erfahrung herleiten liessen und desswegen für das ganze Universum, unabhängig von den Grenzen unserer Erfahrung, Gültigkeit hätten. Mill selbst meinte bekanntlich, sogar den Lehrsätzen der Algebra und der Geometrie, deren empirischen Ursprung er darzustellen suchte, nur einen beschränkten Herrschaftskreis sichern zu können. Er lobte mir das kleine Buch „Essays by a Barrister“, von dem er selbst einige Sätze citirt hat. Der anonyme Verfasser findet es vollständig denkbar, dass sowohl unser Einmaleins wie unser Euklides in anderen Sonnensystemen keine Gültigkeit haben. Die Frage ist, sagt dieser, ob unsere Gewissheit, dass das Einmaleins wahr ist, von der Erfahrung oder von einer transcendenten Ueberzeugung von dieser Wahrheit herrührt, die wohl durch Erfahrung erweckt wird, aber der Erfahrung vorausgeht und sie formt; er stellt, um der ersteren Anschauung das Wort zu führen, einige zum Denken anregende Beispiele auf:

 

„Es gibt eine Welt, in welcher, wenn zwei Paar Dinge entweder einander nahe gebracht oder zusammen beobachtet werden, ein fünftes Ding unmittelbar geschaffen und in den Gesichtskreis dessen gebracht wird, der beschäftigt ist, zwei und zwei zusammenzulegen. Dies ist gewiss nicht unfassbar, denn wir können leicht, wenn wir an gewöhnliche Taschenspielerkunststücke (oder an Schalttage, möchte ich hinzufügen) denken, dieses Resultat fassen. Eben so wenig kann man sagen, dass die Sache über die Kräfte der Allmacht gehe. In einer solchen Welt würde nun gewiss zwei und zwei fünf ausmachen. Dies zeigt, dass diese Addition durchaus nicht unfassbar ist, und doch ist es auf der anderen Seite völlig leicht, zu sehen, warum wir gänzlich überzeugt sind, dass zwei und zwei vier ausmachen. Es gibt vermuthlich kaum einen Augenblick unseres Lebens, in welchem wir nicht diese Thatsache erfahren. Wir sehen sie, so oft wir vier Bücher, vier Tische oder Stühle, vier Männer auf der Strasse oder die vier Ecken eines Pflastersteines zählen, und wir fühlen uns von dieser Thatsache versicherter als davon, dass die Sonne sich morgen erheben werde, weil unsere Erfahrung über jene Thatsachen so viel häufiger ist und auf eine solche Unzahl von Fällen ihre Anwendung findet. Es ist auch nicht wahr, dass alle Personen, die jene Addition gemacht haben, von ihrer Richtigkeit gleich fest überzeugt sind. Ein Knabe, der eben das Einmaleins gelernt hat, ist völlig sicher, dass zwei und zwei vier sind, ist aber oft äusserst unsicher, ob sieben mal neun 63 sind oder nicht. Wenn sein Lehrer ihm sagte, dass zwei mal zwei fünf sind, würde seine Gewissheit sehr beeinträchtigt werden.“

„Man könnte sich auch eine Welt denken, in welcher es allgemein angenommen sei, dass zwei gerade Linien einen Raum einschliessen. Man stelle sich einen Mann vor, der nie durch irgend einen seiner Sinne eine Erfahrung über gerade Linien gemacht hätte, und man denke sich ihn plötzlich auf eine Eisenbahn gestellt, die sich in völlig geraden Linien in's Unendliche fort in beiden Richtungen erstreckte. Er würde die Schienen – die ersten geraden Linien, die er jemals sähe – an beiden Horizonten sich begegnen oder sich dem Zusammentreffen nähern sehen; und er würde in Ermangelung jeder anderen Erfahrung schliessen, dass sie wirklich, wenn weit genug fortgesetzt, einen Raum einschliessen würden. Erfahrung allein könne ihn enttäuschen. Eine Welt, in welcher jeder Gegenstand rund wäre, eine gerade, aber unzugängliche Eisenbahn allein ausgenommen, würde eine Welt sein, in welcher Jedermann von zwei geraden Linien glaubte, dass sie im Stande seien, einen Raum zu umspannen“.

Mill spendete diesen humoristischen, von Spencer und Jevons kritisirten Sophismen, an die er mich erinnerte, mündlichen Beifall, oder genauer: er huldigte der Grundanschauung, der sie entsprangen. „Wenn wir den Gesichtssinn ohne den Fühlsinn hätten, würden wir“ sagte er „keinen Zweifel darüber hegen, dass zwei oder mehrere Körper sich an demselben Orte befinden können, so völlig hängen jene sogenannt apriorischen Axiome von der Beschaffenheit unserer Organe und Erfahrungen ab“.

IV

Das Gespräch kam eines Tages auf die damaligen Verhältnisse in Rom. Ich verglich den religiösen Zustand in Italien mit dem in Frankreich, erinnerte Stuart Mill an das von uns beiden in Paris beobachtete Zusammenströmen der Beaumonde zu einer Kirche und sagte: „Sie haben in Ihren „Dissertations and Discussions“ einige Worte geschrieben, die Sie jetzt kaum gelten lassen würden; Sie sagen: „Man kann, was die höheren Stände betrifft, Frankreich eben so gut ein buddhistisches wie ein katholisches Land nennen; das letztere ist nicht wahrer als das erstere! Wollten Sie heute noch diesen Satz vertheidigen?“ Er antwortete: „Es war damals wahrer als jetzt; es ist in unseren Tagen eine neue Reaction gekommen, deren Möglichkeit ich mir nicht denken konnte. Ich glaubte in meiner Jugend nicht daran, dass die Menschheit zurückgehen könne, jetzt aber weiss ich's“. Einen Theil der Schuld an dieser geistigen Reaction schrieb er der französischen Universitätsphilosophie zu. Er sprach mit einer Geringschätzung, die in seinem Munde nicht verwundern konnte, von Cousin und seiner Schule. „Trotz alledem“ schloss er, „verbleibe ich bei meiner alten Ueberzeugung: Die Geschichte Frankreichs in der neueren Zeit ist die Geschichte des ganzen Europa“.

Diese Ansicht, die in Stuart Mill's Schriften überall durchscheint, ist unzweifelhaft eine Einseitigkeit, die sich durch seine geringe Kenntniss der deutschen Litteratur und durch seine Unterschätzung der englischen Verhältnisse, in welchen er selbstverständlich am leichtesten die Schäden entdeckte, recht wohl erklären lässt. Man kann darüber streiten, ob er sich über die Bedeutung und die neuere Geschichte Englands nicht allzu geringschätzend ausgesprochen. Was aber die höchste Anerkennung verdient, das ist der Muth, den er dem reizbaren Nationalgefühl seiner Landsleute gegenüber allezeit an den Tag gelegt. So ganz Engländer er in seiner Entwicklung und Bildung auch ist, er nennt in seinen Schriften England und englische Verhältnisse doch fast nie, ohne sie zu tadeln, und wo er eine Gelegenheit findet fremde, zumal französische Zustände auf Kosten der englischen zu erheben, lässt er sich sie gewiss nicht entgehen. Seit den Zeiten Byrons und Shelleys ist von der gepriesenen Constitution Englands, von englischem Gesellschaftsleben, von englischen Fehlern und Lastern nicht so wegwerfend gesprochen worden, wie in den gemeinfasslichen Schriften Mills. Geht er in diesem Punkte auch offenbar zu weit, so macht ihm doch sein Widerwille dagegen, durch Schmeichelei der Nationaleitelkeit Popularität zu gewinnen, die grösste Ehre.

Er setzte den nationalen Vorurtheilen womöglich noch kühnern Trotz auf dem religiösen als auf dem politischen Gebiete entgegen. In allen seinen Schriften findet sich auch nicht eine Zeile, welche als Zugeständniss an die englische Kirche und ihre Lehren ausgelegt werden könnte, nicht die kleinste Zweideutigkeit, kraft deren die englische Religiosität ihn für sich hätte in Beschlag nehmen können. Und noch deutlicher als zu seinen Lebzeiten sprach er von seinem Grabe aus.

„Was die Religion betrifft“, sagt er in seiner Selbstbiographie „so halte ich die Zeit für gekommen, wo jeder verständige Mann, der nach ernstlicher Ueberlegung die Ueberzeugung gewonnen hat, dass die geltenden Meinungen nicht nur falsch, sondern auch schädlich sind, die Verpflichtung trägt, sich zu seiner abweichenden Meinung zu bekennen. Wenigstens muss der es thun, dessen Name oder Stellung es wahrscheinlich machen, dass man auf seine Meinung Gewicht legt. Ein solches Eingeständniss würde ein für alle Mal dem allgemeinen Vorurtheil ein Ende machen, dass, was man sehr uneigentlich Unglaube nennt, mit unklarem Denken oder schlechtem Herzen verbunden sei. Die Welt würde staunen, wenn sie erführe, wie viele ihrer leuchtendsten Zierden, wie viele von Jenen, die ihrer Weisheit und Güte halber höchst allgemein Anerkennung und Verehrung gemessen, in religiösen Fragen vollständig skeptisch sind. Viele unterlassen indess, ihren Skepticismus zu gestehen, weniger aus persönlichen Rücksichten als aus einer gewissenhaften, obgleich wie mich dünkt, durchaus unberechtigten Furcht, mehr Schaden als Nutzen durch Aeusserungen anzustiften, welche den herrschenden Glauben, und damit, wie sie meinen, zugleich die herrschende Sittlichkeit schwächen könnten“.

Man geht vielleicht nicht fehl, wenn man in der freieren Haltung der französischen Litteratur in religiösen Fragen, zum Theil die Erklärung des Reizes sucht, den sie auf Mill beständig übte, trotz allem, was ihm darin fremdartig und fernliegend sein musste. Er war sehr jung nach Frankreich gekommen; er erzählte mir, dass er sein fünfzehntes Jahr dort verbracht, und damals schon so viel Französisch gelernt habe, wie er jetzt könne. Da die französische Sprache die einzige fremde war, welche er fliessend und häufig (wenn auch nicht ohne starke englische Betonung) sprach, da er sein ganzes Leben hindurch bemüht gewesen, französische Ideen in England einzuführen und seinen Landsleuten Liebe zum französischen Nationalgeiste beizubringen, musste Frankreich nothwendiger Weise für ihn fast wie für einen eingeborenen Franzosen Europa vertreten.

Unter allen Franzosen, die Mill kannte, war, glaube ich, Armand Carrel ihm der liebste gewesen; der Aufsatz, den er ihm gewidmet, ist vielleicht auch der schönste und gefühlvollste, den er je geschrieben hat. Aus der grossen Verehrung, mit der er Armand Carrel's gedachte, erkläre ich mir zum Theile seinen heftigen Widerwillen gegen Sainte-Beuve. Nie konnte er Sainte-Beuve vergeben, dass er, der einmal Mitarbeiter des „National“ und Freund Carrel's gewesen war, sich mit dem Kaiserreiche befreundete und zum Senator wählen liess. Und doch würde diese vereinzelte Thatsache nicht genügen, um so harte Worte über Sainte-Beuve zu begründen, wie er sie in meiner Gegenwart fallen liess. Sainte-Beuve war ihm zuwider aus derselben Ursache, aus welcher Carrel ihm so sehr gefiel. Er hatte ihn eben nicht gründlich studirt, sein „Port-Royal“ z. B. niemals gelesen, Aber ein Geist von so principienfester Schärfe wie der seinige fühlte sich von dem schmiegsamen und wogenden Naturell Sainte-Beuve's ganz abgestossen; denn Stuart Mill war ein Charakter von, man möchte sagen, mineralischer Beschaffenheit, starr, kantig und fest; der Geist Sainte-Beuve's dagegen war wie ein See: weit, weich, elastisch und von grossem Umfange, bewegte sich aber auch in lauter kleinen und unbestimmt abgegrenzten Wellen. Desswegen war Stuart Mill wie geschaffen zur Autorität; sein Ton war der eines Befehlshabers, und selbst wenn er sich am kühnsten benahm, schien er durch die Bündigkeit und Sicherheit, mit welcher er seine Resultate feststellte, jeden Widerspruch abzuweisen. Sainte-Beuve dagegen hat sich nie ganz und ohne Vorbehalt einer Sache angeschlossen, nur scheinbar in seiner Jugend der Sache der Romantik, etwas ernster der der Geistesfreiheit in seinen letzten Lebensjahren. Er ist nie ganz katholisch oder ganz saint-simonistisch, ganz Republikaner oder ganz kaiserlich, ganz klassisch gesinnt oder ganz Naturalist gewesen. Nur eines war er ganz: Sainte-Beuve, d. h. der Kritiker mit der femininen Sympathie und der immer lauernden Skepsis.

Er war vom Tigergeschlechte, doch er war kein Tiger. Er schloss sich an niemand und an nichts vollständig an, aber er rieb sich an allem und dieses Sich-Reiben lockte Funken hervor. Der Unwille Mill's ihm gegenüber war die Antipathie des Hundes gegen die Katze. Es war Sainte-Beuve unmöglich, einfach zu schreiben; er konnte kein Urtheil abgeben, ohne es durch ein ganzes System von Nebensätzen zu bedingen; er konnte kein noch so kurzes Lob aussprechen, ohne es mit allerlei Malice zu würzen. Der nach seinem Tode grösste Kritiker Frankreichs sagte mir einmal: „Ein lobender Satz von Sainte-Beuve ist ein wahres Nest von Blutegeln“. Man vergleiche nun die Denkweise und den ganzen Stil Stuart Mill's: seine Gedanken immer gross angelegt, das Allgemeine umspannend, das Individuelle durchschlüpfen lassend, sein Vortrag schmucklos, kunstlos, nackt wie eine Landschaft, deren einzige Schönheit in den einfachen und gewaltigen Terrainformen besteht.

An einem der letzten Tage meines Aufenthaltes in London drehte sich das Gespräch mit Stuart Mill um das Verhältniss zwischen Litteratur und Theater in England und Frankreich. Er sprach die in unserer Zeit so häufige Behauptung aus, dass die Franzosen, die im 17. Jahrhundert die spanischen, im 18. Jahrhundert die englischen und im 19. Jahrhundert die deutschen Ideen sich angeeignet haben, im Grunde keine andere litterarische Originalität besitzen als die, welche in der Form liege. Stuart Mill, dem für das eigentlich Aesthetische der Sinn so ziemlich fehlte und der mehr die Ideen in der Kunst als die Kunst um der Kunst willen liebte (seine Abhandlung über Alfred de Vigny gibt davon Zeugniss), schien durchaus nicht zu fühlen, dass die poetische und künstlerische Originalität der Franzosen selbst durch diese (allzu starke) Begrenzung ihrer Erfindungsgabe keiner Einschränkung unterliegen würde; denn wo Form und Inhalt unzertrennlich sind, ist die Ursprünglichkeit in der Formgebung mit der Ursprünglichkeit überhaupt identisch. Ohne mich im Gespräche auf diesen Gesichtspunkt einzulassen, antwortete ich nur, dass eine Eigenschaft, die man den Franzosen vorzuwerfen pflegt, ihre sogenannte Oberflächlichkeit ihnen in hohem Grade zugute kommt, wenn sie nachahmen. Denn die Nachahmung ist nur scheinbar. Mit einem starken Drange, sich von allem Fremden beeinflussen zu lassen, verbinden die Franzosen in der Regel einen fast vollständigen Mangel an Fähigkeit, das Fremde sachlich aufzufassen, und desshalb bleibt das nationale Gepräge überall unter einem leichten Anstriche des fremden Firnisses erkennbar. Ich nannte beispielsweise Victor Hugo als Nachahmer Shakespeare's, Alfred de Musset als Nachahmer von Byron. „Uebrigens“, fügte ich hinzu, „will ich herzlich gern die Vorzüge, welche die englische Poesie vor der französischen voraus hat, eingestehen, wenn Sie mir zum Ersatze die Ueberlegenheit der französischen Schauspielkunst über die englische einräumen wollen“. Ich hatte eben am Abend vorher der Aufführung von Molière's „Le malade imaginaire“ unter dem Titel „The robust invalid“ im Adelphi-Theater beigewohnt und, da ich das Stück sehr oft in Paris gesehen, reichliche Gelegenheit gehabt, die englische Spielweise mit der französischen zu vergleichen. In London wurde das Stück grob, karikirt, ohne den geringsten Versuch einer Charakterauffassung gespielt. Der Kranke und das Dienstmädchen erlaubten sich allerlei plumpe Uebertreibungen, brüllten, um den Sinn recht deutlich zu machen, auf die roheste Weise, ja hatten sogar die Frechheit, zwei der Acte mit einem Cancan abzuschliessen, und das, während gleichzeitig aus englischer Prüderie die Scenen mit der Klystierspritze und alle Ausdrücke, welche die Decenz verletzen könnten, ausgelassen waren. „Ja“, sagte Mill, „das Theater ist bei uns in Verfall gerathen. Was die Komödie betrifft, liegt es vielleicht daran, dass das englische Wesen so formlos und untheatralisch, unsere Gesten so steif und so selten sind, während die Franzosen auch in ihrem täglichen Leben sich immer als Schauspieler benehmen; aber in tragischer Richtung haben wir doch grosse Namen aufzuweisen. Wer weiss, ob nicht in unseren Tagen das Lesen überhaupt den Theaterbesuch verdrängen und ersetzen wird“.

 

Er führte das Gespräch vom Theater auf die englischen Schriftsteller und besprach mit Wärme zwei von ihm so verschiedene Männer wie Dickens und Carlyle. Wie sehr er auch selbst Verstandesmensch war, er wusste so gut wie nur jemand den Dichter mit dem grossen, warmen Herzen und den Historiker mit der springenden, visionären Einbildungskraft zu schätzen. Dickens war damals gerade gestorben; ich hatte in jenen Tagen eben in der Westminster-Abtei an dem Orte gestanden, wo seine Leiche hinuntergesenkt ward. Dieses eine Grab war mit lebenden Rosen bedeckt, während ringsum schwere, kalte Steindenkmäler die anderen Gräber deckten; es wirkte wie ein Symbol. Ich theilte Mill meinen Eindruck mit, und er sprach mit Bedauern davon, dass er Dickens nicht persönlich gekannt und nur durch Andere von seiner Liebenswürdigkeit im privaten Verkehre etwas erfahren hatte.

Die letzten Worte, die wir wechselten, galten dem unmittelbar bevorstehenden deutsch-französischen Kriege, dem Mill mit bösen Vorahnungen entgegensah. Er betrachtete ihn als ein Unglück für die ganze Menschheit, für die ganze europäische Cultur.

Ich sah ihm lange in seine tiefen, blauen Augen hinein, bevor ich mich überwinden konnte, ihm zum letzten Male Lebewohl zu sagen. Ich wollte versuchen, mir diesen so ernsten und strengen, aber zugleich so kühnen Blick einzuprägen, der noch so frisch wie der eines Jünglings war. Ich wollte mir es gern unmöglich machen, die besondere Grösse, die über der Gestalt des Mannes lag und seine Worte prägte, zu vergessen. Es hat Bedeutung für die Auffassung eines Schriftstellers, in welchem Verhältnisse der Eindruck seines menschlichen Wesens zu dem seines Schriftstellerwesens steht. Ich habe keinen grossen Mann gekannt, bei welchem diese beiden Eindrücke sich so vollständig deckten, wie bei Mill. Ich habe keine Eigenschaft bei ihm als Schriftsteller gefunden, die man nicht im persönlichen Verkehr mit ihm wiederfände, und ich habe seine verschiedenen Eigenschaften in beiden Sphären nach derselben Ordnung und auf dieselbe Weise einander über- und untergeordnet gefunden. Es gibt Schriftsteller, bei welchen eine bestimmte Eigenschaft, z. B. die Philanthropie oder der Witz oder die Würde, eine grössere Rolle spielt, wenn sie schreiben, als sonst in ihrem Leben, andere, bei welchen Eigenschaften, wie Humor oder freie Menschlichkeit, die sie im Privatleben liebenswürdig machen, in den Schriften nicht zu spüren sind. Die meisten stehen weit hinter ihren Büchern zurück. Bei Stuart Mill fand sich keine Ungleichheit solcher Art, denn er war die fleischgewordene Wahrhaftigkeit selbst. Es kommt in Mill's „Autobiography“ eine Situation vor, die den Höhegrad dieser Wahrhaftigkeit messen lässt. Ich denke hier an seine Lage, als er, der allem demagogischen Wesen so fernstehende Socialreformator, in einer aus lauter Arbeitern bestehenden Wählerversammlung als Parlamentscandidat gefragt wurde, ob er die Worte geschrieben und veröffentlicht habe, dass die arbeitenden Klassen in England „in der Regel noch lügenhaft seien“. Er antwortete sogleich und kurz „I did“. „Kaum“, fügt er hinzu, „hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ein gewaltiger Beifall durch die Versammlung rauschte. Die Arbeiter waren offenbar so gewohnt, von denen, die sich um ihre Stimmen bewarben, zweideutige und ausweichende Antworten zu hören, dass, wenn sie statt dessen ein directes Geständniss von etwas ihnen Unangenehmem erhielten, sie, weit entfernt, beleidigt zu werden, den Schluss zogen, dass sie diesem Manne vertrauen könnten“.

Mill gibt die bescheidenste Deutung des Vorganges. Aber der Leser ahnt, welche Glorie der Wahrhaftigkeit in jenem Augenblicke den umstrahlen musste, dem Männer, die von den Schmeicheleien ihrer Führer verwöhnt waren, eine Beschuldigung durchgehender Lügenhaftigkeit mit solchem Beifallssturme lohnten. Auch im täglichen Leben trug Mill jenen unsichtbaren Nimbus der hohen Wahrheitsliebe. Von seinem ganzen Wesen strahlte die Reinheit des Characters aus. Man muss auf die erhabensten philosophischen Charaktere des Alterthums, auf Marcus Aurelius und seinesgleichen, wenn es sonst seinesgleichen gibt, zurückdenken, um eine Parallele zu Mill zu finden. Er war gleich wahr und gleich gross, ob er in einem weltberühmten Werke an einen über den Erdball verbreiteten Leserkreis reiflich überlegte Gedanken richtete, oder ob er in seinem Heim, ohne jemals seine Ueberlegenheit fühlen zu lassen, an einen fremden Besucher eine zufällige Aeusserung hinwarf.