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Die Mutter wird zu einer Heirath mit dem widerlichen Verwalter Herrn Ratsch überredet, und gleichzeitig erfährt das Kind, dass der Gutsbesitzer ihr Vater ist. Niemals hat dieser Vater ihr Liebe erwiesen, ihr sogar niemals ein freundliches Wort gesagt. Er bezeichnet sie mit steifer Grandezza als seine kleine Vorleserin. Die Mutter stirbt. Der alte herzlose Gutsbesitzer stirbt wenige Jahre später. Von dessen Bruder erhält Susanna eine kleine Summe, deren sich der Stiefvater bemächtigt. Sie ist erwachsen, ihr Herz spricht zum ersten Male, sie verliebt sich sterblich in ihren Vetter Michael, einen jungen vortrefflichen Offizier, der sie liebt, wie sie's verdient geliebt zu werden. Kaum ist das vertraute Verhältniss des Jünglings zum jungen Mädchen entdeckt, so werden sie auseinandergerissen. Michael wird fortgeschickt und stirbt bald darauf. Sein Vater, der die Verbindung auflöste, hat sich schon seiner jungen Nichte mit entehrenden Anträgen genähert. Endlich stirbt auch er und hinterlässt ihr eine Pension – welche von dem Stiefvater einkassirt wird. Es vergehen drei – sechs – sieben Jahre, die Zeit schwindet, und das Leben mit ihr. Alles ist ihr gleichgiltig geworden. Da fällt ein neuer Lichtstrahl in ihr Leben. Ein junger Mann, der ihr Herz gewonnen hat, erwidert ihre Neigung; dann werden ihm von ihrer Umgebung, besonders von ihrem bodenlos verdorbenen Stiefbruder, so grobe Verleumdungen über ihre Vorzeit hinterbracht, dass er sich zurückzieht und zur Abreise rüstet. Sie tödtet sich durch Gift.

Oder lesen wir „Das Tagebuch eines überflüssigen Menschen“. Der Titel sagt schon den Inhalt. Ein Todtkranker beschäftigt sich in seinen letzten Tagen damit, die Reihenfolge gewöhnlicher Ereignisse aufzuzeichnen, die sein überflüssiges Leben ausmachten. Einmal hat er geliebt, aber nur um alle Qualen der Eifersucht und jegliche Demüthigung des Verschmähtseins durchzukosten! Elisabeth liebt nicht ihn, sondern einen jungen glänzenden Fürsten aus Petersburg, der sich vorübergehend in ihrem Wohnorte aufhält. Er fordert den Fürsten, wird von diesem im Duell geschont und erreicht dadurch nichts weiter, als dass er für einen schlechten Menschen gilt und von der Geliebten als Mörder betrachtet wird. Nachdem Elisabeth vom Fürsten verführt und verlassen worden, erneuert er trotzdem seinen Antrag und wird mit Abscheu zurückgewiesen. Sie reicht ihre Hand einem andern ebenso edelmüthigen Freunde, der ihm zuvorgekommen ist. Sogar bei dieser Gelegenheit ist er überflüssig, das fünfte Rad am Wagen gewesen. Und doch liest man zwischen den Zeilen, wie seelenvoll, wie edel angelegt, wie brav er ist. Die Schlussblätter enthalten die Abschiedsworte, mit welchen der vom Arzte aufgegebene Brustkranke von dem Leben scheidet.

„Jacob Passienkow“ ist noch eine Erzählung derselben Art. Passienkow ist ein Typus der russischen Persönlichkeiten, die Turgenjew mit Vorliebe schildert. Aeusserlich nicht besonders ausgestattet, gross, mager, flachbrüstig, ja sogar etwas rothnasig. Aber die Stirn ist vorzüglich geformt, die Stimme mild und gedämpft, und es heisst bezeichnend von ihm: „In seinem Munde klangen die Worte: Güte, Wahrheit, Leben, Wissen, Liebe niemals phrasenhaft, wie begeistert er sie auch aussprach“. In seiner Geschichte kommt das Grundthema Turgenjew's doppelt vor. Er liebt ein junges Mädchen, das ihn keines Gedankens würdigt; als er einsam und vergessen in einem Winkel Sibiriens stirbt, hat er noch ein paar Andenken an ihr auf seiner Brust. Ihm fehlten, um ihr zu gefallen, einige Laster, etwas Selbstsucht, etwas Leichtsinn. Während er aber in so hoffnungsloser Leidenschaft schmachtet, wird er, ohne es zu ahnen, von ihrer Schwester, einem jungen, unschönen, etwas linkischen Mädchen so heiss geliebt, dass sie niemals der Erinnerung an ihn untreu geworden und um seinetwillen sich nie mit einem Andern hat verheirathen wollen.

Doch das hervorragendste Beispiel all' dieser feinen und ebenso vollendeten wie einfachen Monographien des Unglücks ist sicher die viel spätere Erzählung: „Die lebendige Reliquie“. Das Ganze ist fast nur ein Monolog, die Mittheilung, welche ein junges, vor Zeiten schönes, jetzt zum Skelett abgemagertes russisches Bauernmädchen dem Verfasser über ihr Leben gibt. Er findet sie auf dem Fussboden in einem einsamen Hause liegen. So hat sie auf dem Rücken ausgestreckt gelegen, seit sie vor sieben Jahren einen verhängnissvollen Fall that. Ihr Kopf ist ausgezehrt, einfärbig wie Bronze, die Nase ist scharf und spitz wie eine Messerschneide, die Lippen sind eingeschrumpft, nur die Zähne und das Weisse der Augen glänzen; einige Strähne dünnen, hellgelben Haares fallen auf ihre Stirn nieder. Auf der Bettdecke ruhen ein paar magere Hände, deren dunkelbraune, kleine Finger sich langsam hin und her bewegen. Einstmals war sie das üppigste, schlankeste, lustigste und schönste Mädchen der Gegend, immer zum Lachen, Singen, Tanzen aufgelegt. Sie erzählt, wie es ihr nach jenem Falle ergangen. Sie schrumpfte ein, wurde schwarz, verlor die Kraft zu gehen und zu stehen, den Appetit zum Essen und zum Trinken. Vergeblich hat man ihren Rücken mit glühendem Eisen gebrannt, vergeblich sie in gestossenes Eis gesetzt. Und von alledem erzählt sie in einem fast heitern Tone ohne irgend ein Bestreben, das Mitleid des Anhörenden zu erregen. Ihr Geliebter hat sie verlassen und sich mit einer Andern verheirathet. Er ist, wie sie sagt, Gott sei Dank sehr glücklich in seiner Ehe. Sie findet sein Benehmen gegen sie natürlich und richtig. Sie ist den Leuten dankbar, die sich ihrer annehmen, besonders einem kleinen Mädchen, das ihr Blumen bringt; sie langweilt sich nicht, beklagt sich nicht. Da sind andere, die weit unglücklicher sind, als sie, die Blinden und Tauben; sie sieht vorzüglich und hört Alles, hört den Maulwurf unter der Erde graben und riecht jeden Geruch, selbst den schwachen Duft des Buchweizens, wenn er weit entfernt auf dem Felde blüht, sogar den Duft der blühenden Linden weit unten im Garten.

Zu den grossen Begebenheiten ihres Lebens gehört es, wenn ein Huhn oder ein Spatz oder ein Schmetterling durch die Thür oder das Fenster zu ihr hereinkommt. Mit grossem Vergnügen erinnert sie sich des Besuches, den ihr einmal ein Hase abstattete. Und Lukeria erinnert Turgenjew an die Zeit, da sie Lieder sang; ab und zu singe sie noch. Der Gedanke, dass dieses kaum noch lebende Wesen sich zum Singen vorbereitet, erweckt eine Art von Schrecken bei ihm: und zitternd wie eine feine Rauchsäule erklingt nun ihre kleine feine Stimme in fast unhörbaren, aber klaren und reinen Tönen. Sie erzählt ihre merkwürdigen Träume, die sie während ihres leider so seltenen Schlafes gehabt habe, einen von Jesus, der ihr entgegenging und ihr die Hand reichte, einen von einer Frau, die sie kommen sah und die ihr Tod war. Diese ging an ihr vorüber und beklagte sehr, sie nicht mitnehmen zu können. Lukeria widerspricht dem Erzähler, als er ihre Geduld bewundert. Was sei da zu bewundern! Was habe sie ausgerichtet! Nein, die Jungfrau, die im fernen Lande mit einem grossen Schwerte die Feinde in's Meer hinaustrieb und dann sagte: „Verbrennt mich nur, denn das war mein Gelöbniss, dass ich für mein Volk auf dem Scheiterhaufen sterben wollte!“, die Jungfrau vollführte eine bewunderungswürdige That. – Zum Abschiede bittet Lukeria ihn, bei seiner Mutter für die Bauern in der Gegend ein Wort einzulegen; die Abgaben, die von ihnen gefordert werden, seien zu hoch; sie selbst bedürfe nichts und habe für ihre eigene Person keine Wünsche.

III

Doch diese kleineren Arbeiten sind es nicht, die Turgenjew's Name weltberühmt machten; die grösseren Novellen und seine Romane sind es, Meisterwerke wie: „Am Vorabende“, („Helene“), „Rúdin“, „Frühlingsfluthen“, „Rauch“, „Väter und Söhne“, „Neuland“. Es gibt in der europäischen Litteratur keine feinere Psychologie, keine vollendetere Charakterzeichnung als diese, und was in der Geschichte der modernen Dichtkunst fast unerhört ist, die Frauen- und Männerfiguren sind in gleichem Grade vollkommen.

Um diese vorzüglichsten Werke Turgenjew's recht zu begreifen, ist ein Einblick in seine Lebensgeschichte und seinen Charakter nothwendig:

Es gibt in seinem Dasein zwei Begebenheiten von folgenschwerer Bedeutung. Die erstere ist seine Einkerkerung mit darauf folgender Verweisung auf sein Landgut im Jahre 1842; die zweite seine Bekanntschaft mit Frau Pauline Viardot geb. Garcia.

Turgenjew war in Regierungskreisen, wegen seiner indirecten Angriffe auf die Leibeigenschaft, mit scheelen Augen angesehen. Als dann Gogol starb und Turgenjew in einem Zeitungsartikel (an dem die Censur nichts auszusetzen fand) den Verstorbenen in warmen Worten verherrlichte, ergriff man bei den Haaren die Gelegenheit, ihn zu treffen. Man erblickte – weiss der Himmel wieso – Ungehorsam gegen den Kaiser in dem genannten Artikel, und der Verfasser wurde „auf allerhöchsten Befehl“ in Petersburg in's Gefängniss geworfen. Unter seinen Briefen befindet sich ein Schreiben, das er aus demselben an den Thronfolger (Alexander) richtete; um seine Unschuld darzuthun. Nachdem er einen Monat im Kerker gesessen, was ihm sein schlechter Gesundheitszustand doppelt quälend machte, wurde er auf sein Gut Spaskoje verwiesen, woselbst er mehrere Jahre verweilen musste. Offenbar gab dieser Vorfall den Anstoss dazu, dass er nach der Begnadigung ständigen Aufenthalt ausserhalb seines Vaterlandes nahm.

Die Bekanntschaft mit Frau Viardot hielt ihn für den Rest seiner Lebenszeit – weit über deren Hälfte – in ihrer Nähe gebannt. Sie war 1821 in Paris geboren und hatte mit ihren Eltern ausgedehnte Kunstreisen in Amerika und Europa, erst als Pianistin, dann als Sängerin gemacht. Ihr erstes Auftreten in Paris, welches mit dem der Rachel zusammenfiel, ist von Alfred de Musset besungen worden. Seit 1840 war sie mit dem Schriftsteller Louis Viardot vermählt. Schon 1847 begleitete Turgenjew das Ehepaar nach Berlin und von dort nach Paris. Von 1856 ab war er als ein Mitglied der Familie Viardot zu betrachten und der Einfluss, welchen die Frau des Hauses auf den Dichter übte, ist gross und, soviel sich beurtheilen lässt, günstig gewesen. Als 1847 seine despotische Mutter sich weigerte, ihm Geld zu seinem Unterhalt zu senden, unterstützte ihn Frau Viardot aus ihrer Casse, und so war es nur billig, dass Turgenjew – was zu vielen feindseligen Commentaren von russischer Seite Anlass gegeben hat – sie in seinem Testamente zur Universalerbin einsetzte.

 

Das Verhältniss Turgenjews zu Frau Viardot war das der leidenschaftlichsten Zuneigung und Bewunderung. Er konnte nicht ohne sie sein und berieth jede Angelegenheit mit ihr. Ein ächter Slave, empfänglich für Eindrücke, geistig productiv und beinahe völlig willenlos, war er glücklich, eine Herrscherin über sein Leben zu haben. Wenn irgend ein Freund sich zu ihm über unordentliche oder unglückliche Lebensführung beschwerte, war seine Lieblingsantwort „Thu wie ich, Lieber. Ich lasse mich regieren“. Er that, was Frau Viardot ihm zu thun empfahl, und befand sich wohl dabei.

Sie scheint das einzige Weib von Bedeutung in seinem Leben gewesen zu sein. Er hatte natürlich in der Jugend mit Frauen Bekanntschaft gehabt. Neunzehn Jahre alt, war er in Berlin der Freund eines kleinen Nähmädchens gewesen. Zu seinem Verdruss konnte Bakunin, mit dem er gemeinschaftlich wohnte, es ihm jedesmal, wenn er sie besuchte, anmerken, woher er kam.32 In Russland lebte er zuerst Anfangs der 40ger Jahre, dann von 1851 – 53 mit einer leibeigenen Russin, Avdotja Ermolajewna Iwánowa zusammen, die sehr schön gewesen sein soll, doch die in die Geheimnisse der Lesekunst einzuweihen, sich als schlechterdings unmöglich erwies. Sie gebar ihm 1842 eine Tochter, die er 1864 an einen Franzosen verheirathete. Man ersieht aus seinen Briefen, dass er damals nicht einmal den Wohnort der Mutter kannte, die einen russischen Beamten geheirathet hatte. (Brief an Maslov 26. Dec. 1864.) Allein er war ein guter Vater, wie er auch ein treuer Freund und edelmüthiger Beschützer gewesen war.

Sein Charakter war vornehm, fein und rein bis zur Zartheit, doch weich und unschlüssig. Er brauchte vermuthlich nicht allzu weit zu gehen, um als junger Mann das Modell zu einzelnen Charakterzügen seines Rúdin zu finden. Niemals hat er sich einer niedrigen Handlung schuldig gemacht, doch ebenso wenig dürfte er je, mit kühner, gesammelter Energie gehandelt haben. Wenn man seine Briefe liest, so stutzt man darüber, mit welchen Schlingeln er in freundschaftlichem Verkehr gestanden hat – offenbar um sich an ihnen keine Feinde zu machen – wie über die geringe Achtung, mit der er sich in vertraulichen Briefen über Leute auslässt, denen er in andern Briefen mit vieler Rücksicht begegnet. Wenn Turgenjew bei einem Charakter, dessen Willenselement so schwach entwickelt war, während seines ganzen Lebens der altliberalen Gesinnung seiner Jugend treu blieb, so geht man schwerlich fehl, wenn man das Verdienst hieran zum nicht geringen Theil Madame Viardot zuschreibt. Hätte sie im entgegengesetzten Sinne auf ihn eingewirkt, so wäre er wahrscheinlich conservativ geworden, und wäre ihr Haus, ihr Kreis, nicht so entschieden freisinnig gewesen, wer weiss, ob es nicht anderweitigen Einflüssen geglückt wäre, ihn umzustimmen. Durchaus selbständig scheint er hingegen in seiner hartnäckigen Haltung als der Fürsprecher und Jünger West-Europas gewesen zu sein.

Mit dem schwachen Hervortreten des Willens in Turgenjews' Charakter stimmt es recht wohl überein, dass er als Dichter mit der Sicherheit eines Nachtwandlers seine Werke schuf. Zu Michailow, Prof. der Physiologie in Petersburg (durch den ich es erfuhr) äusserte er einmal: „Ich sehe einen Mann, der mir durch irgend einen Zug, einen vielleicht nicht einmal bedeutenden, auffällt. Ich vergesse ihn. Plötzlich, lange nachher, steht dieser Mensch aus dem Grabe der Vergessenheit wieder auf. Um den Zug, der meine Aufmerksamkeit erregt hatte, gruppiren sich andere Züge, und wenig nützt es, ob ich ihn nun vergessen möchte. Ich kann es nicht. Ich bin von ihm wie besessen. Ich denke, ich lebe mit ihm und kann mich nur dadurch beruhigen, dass ich eine Existenz für ihn finde“.

Turgenjew ist als Schriftsteller mehr elegant als mächtig. Daher liegen seiner Begabung die Frauencharaktere so gut. Mit stiller Zärtlichkeit zeichnet Turgenjew die jungen Mädchen, die seine volle Sympathie haben, Helene und Gemma. Die Künstlerhand ist hier von einer Liebe geführt, die Lob und Bewunderung der Gestalten von Seiten des Dichters völlig ausschliesst. Jedes Wort, das von ihnen gesagt wird, ist bestimmend, begrenzend. Die eine ist in Mienenspiel, Bewegungen, Lachen, Gedankengang und Liebe ganz Italienerin, die andere bleibt in der Erinnerung des Lesers als der schönste Typus russischer Weiblichkeit stehen. Nur die ersten Dichter der Erde haben etwas so Lebensvolles und so Durchgeführtes hervorgebracht. Und der Schönheitskultus, der sich darin äussert, hat dem Naturstudium nicht den geringsten Abbruch gethan. Das sind keine Frauen, die der Dichter willkürlich geschaffen hat und die in das phantastische Reich der Poesie gehören wie die Frauengestalten bei so manchen anderen Dichtern. Das sind keine Produkte der persönlichen Schwärmerei Turgenjews für das Weibliche, nicht Gestaltungen seines Ideals allein, sondern Studien, die auf Grund eines feinen Wirklichkeitssinnes und vermöge tiefer Wirklichkeitserkenntniss ausgeführt sind.

Bei den wichtigsten Mannescharakteren war Turgenjew genöthigt, sich wegen der Natur des Stoffes die Arbeit besonders schwer zu machen. In der Regel ist es ja Hauptaufgabe des Dichters, den Charakter zu halten und den Selbstwiderspruch in demselben zu vermeiden. Die hervorragendsten Charaktere bei Turgenjew bestehen indessen aus lauter Widersprüchen. Er hat verstanden, die Inconsequenz als Grundcharakterzug zu behandeln, ohne die Charaktere dadurch aufzulösen. Bei dem Normalrussen, wie er ihn schildert, ist mit Sicherheit auf nichts Anderes als Unbeständigkeit zu rechnen. Wie Alexis in dem „Briefwechsel“ Marie im Stiche lässt, so verlässt Rúdin Natalia, Ssanin in „Frühlingsfluthen“ Gemma, Litwinow in „Rauch“ Tatjana u. s. w. Sie verlassen Jugend, Frische, Herzensgüte, Schönheit, Glück, um dem Sinnesrausch und der Erniedrigung nachzulaufen, oder sie geben aus reiner Haltlosigkeit, aus Unsicherheit an sich selbst das begonnene Spiel auf. Doch diesen Männern ohne Verlass, deren Leidenschaften so plötzlich erregt werden und wieder verfliegen, entsprechen zu ihrer eigenen Ueberraschung Frauen, die noch schwerer zu berechnen sind, Frauen, die nahe daran sind, zu lieben, und es doch nicht vermögen, wie Frau Odinzow in „Väter und Söhne“, Frauen, die unfreiwillig die Männer bethören, sich hingeben und wieder zurücknehmen, wie Irina in „Rauch“, endlich kalte Bacchantinnen, wie jene Maria Nikolajewna, die den Ssanin der Gemma entführt.

Bisweilen kann die Inconsequenz oder der Verrath etwas ungenügend motivirt vorkommen, wie in „Frühlingsfluthen“, vielleicht desshalb, weil Turgenjew diesen Zug seiner Jünglings-Charaktere sozusagen als bekannt voraussetzt. In seiner frühesten grösseren Erzählung, „Rúdin“ (1855) ist das Studium der Haltlosigkeit so tief und erschöpfend, dass man durch die Schwäche dieses Einen Charakters hindurch die schwache Seite des russischen Charakters überhaupt versteht. Das an der Kunst des Dichters Bewunderungswürdigste ist hier, dass er es vermocht hat, eine nicht geringe Sympathie für Rúdin zu erwecken, dass er uns in dem armen Wicht und Phrasenhelden den aufrichtig Begeisterten gezeigt hat. Rúdin, der mit soviel Wärme spricht und so glänzend erzählt, dem die ganze „Musik der Beredsamkeit“ zur Verfügung steht, ist träge, herrschsüchtig, spielt immer irgend eine Rolle, lebt immer auf Kosten Anderer, ist kalt, wenn er am wärmsten scheint, und zu jeder That am meisten unfähig, wenn man eben glaubt, nun wolle er zur Handlung schreiten. Und doch zeigt uns Turgenjew, dass er viel mehr Mitleid als Unwillen verdient und dass er nicht mit Unrecht grossen Einfluss auf junge Seelen ausübt.

Männer mit festem Herzen und kräftigem Willen kommen als Hauptfiguren in den früheren Werken Turgenjew's nicht vor. Sie sind Hamlette, die von Puschkins Onjaegin und Herzens Beltow abstammen. Schildert er einen Mann, der ganz Mann ist und zu dem eine Frau aufblicken kann, da wählt er wie in „Helene“, um seine Landsleute zu beschämen, einen Fremden, den Bulgaren Insarow, welcher gerade die Eigenschaften hat, die den Russen von dem Besten bis zu dem Geringsten fehlen. Das Modell zu dieser Gestalt war ein wirklicher Bulgare, Namens Katianow, der in seinem Vaterlande eine Rolle gespielt hatte und den Turgenjew (1855) durch die Papiere eines Nachbars, des Gutsbesitzers Karatejew, kennen lernte. Sonst werden Männer, die Turgenjew selbst bewundert, nur flüchtig genannt; er stellt sie als Hintergrundgestalten hin oder benützt sie als Contraste, um die Unwahrheit und Schwäche der Hauptfigur stärker hervorzuheben.

Eine solche Gestalt ist zum Beispiel jener Pokorski in „Rúdin“, über den Leschnew in so warm begeisterten Worten spricht und in welchem man vielleicht ein Porträt des berühmten russischen Kritikers Belinski, des Jugendfreundes und Lehrers Turgenjew's, hat, dessen Andenken er „Väter und Söhne“ widmete und an dessen Seite begraben zu werden er in seiner Todesstunde wünschte. Es heisst über ihn: „Pokorski machte einen sehr ruhigen und weichen, fast schwachen Eindruck; er liebte die Frauen leidenschaftlich, nahm gern an einem kleinen Gelage Theil und duldete von Niemandem eine Beleidigung. Rúdin schien lauter Feuer und Flamme, Leben und Kühnheit zu sein; aber im Grunde seiner Seele war er kalt, fast ein Feigling, das heisst, so lange man seine Eitelkeit nicht reizte, denn geschah das, so gerieth er fast ausser sich vor Wuth. Er versuchte fast immer Andere zu beherrschen, und Viele trugen geduldig sein Joch, aber Pokorski unterwarfen sich Alle freiwillig … Ach, das war eine prachtvolle Zeit, und ich weiss bestimmt, sie war nicht vergeudet. Wie oft bin ich Leuten aus jener Zeit begegnet, meinen Jugend-Kameraden, Männern, die aussahen, als wären sie in einen rein thierischen Zustand hinabgesunken – da brauchte man nur Pokorski's Namen zu nennen, sofort kam all das Gute, was in ihnen zurückgeblieben, wieder zum Vorscheine, gleich als wenn man in einem schmutzigen, dunklen Zimmer eine Flasche Parfüm öffnet, die darin vergessen worden“.

Es war doch zuerst in „Väter und Söhne“ (1861), dass Turgenjew eine typische Darstellung von russischer Charakterstärke und geistiger Ueberlegenheit in der damals modernen Gestalt gab.

Bazarows Gestalt führte den Nihilismus in die schöne Litteratur ein. War es auch allem Anscheine nach Turgenjew hauptsächlich darum zu thun, die ideenarme Nützlichkeitsvergötterung der jungen Generation zu geisseln, so ist es ihm doch hier gelungen, einen Mann zu zeichnen, der durch seine Festigkeit, seinen Muth wie seine Einseitigkeit, eine der hervorragendsten Gestalten der gesammten europäischen, an echten Männertypen nicht eben reichen Litteratur ist. Niemandem, der in modernen Büchern einigermassen orientirt ist, kann es entgangen sein, dass es ist, als sei der Begriff Mann aus ihnen entschwunden. Ein Mann, der einen Willen und einen Gedanken hat, der seinen Willen im Dienste seines Gedankens verwendet, seinem Entschlusse treu, seinen Freunden eine Stütze, seinen Feinden ein ewiger Dorn im Auge ist, und dem die Vertheidigungslosen, die Anfänger im Leben und die Frauen von selbst zufallen, ein solcher Mann kommt heutzutage nur als naive Caricatur in knabenhaften Erzählungen oder Damenromanen vor.

Im Jahre 1860 traf Turgenjew auf der Reise in Deutschland in einem Eisenbahncoupé mit einem jungen russischen Arzt zusammen, welcher in dem kurzen Gespräche, das sie miteinander führten, ihn durch seine originellen und schroffen Anschauungen in Erstaunen setzte. Er gab dem Dichter die Idee zu Bazarow ein. Um sich in den Charakter recht hineinzuleben, begann Turgenjew „Bazarows Tagebuch“ zu führen, d. h. so oft er ein neues Buch las, eine Persönlichkeit traf, die ihn interessirte, irgend etwas in politischer oder socialer Beziehung Charakteristisches erlebte, beurtheilte er es in diesem Tagebuch von Bazarows Gesichtspunkt aus.

Bekanntlich wurden „Väter und Söhne“ nicht so sehr durch die Genialität, mit welcher die grosse Hauptgestalt dargestellt ist, als durch die Wirkung, die das Buch hervorbrachte, durch den Unwillen, die Missverständnisse, die leidenschaftlichen Angriffe, zu welchen es Anlass gab, eine Begebenheit in der Geschichte der russischen Litteratur wie in dem eigenen Leben des Verfassers. Es ist ein tadelloses Meisterwerk, ausserdem das ursprüngliche Vorbild für alle die modernen Romane der verschiedenen Länder, welche ein älteres und ein jüngeres Geschlecht in ihrem gegenseitigen Verhältnisse und Kampf behandeln. Anfangs jedoch erblickte man darin nichts anderes, als eine Herabsetzung der jungen Generation zu Gunsten der Cultur der älteren.

 

Dieser Albernheit gegenüber, haben die eigenen Aeusserungen Turgenjew's über die Gestalt ein erhöhtes Interesse. Ein gewisser Slutschewski hatte ihm vorgeworfen, dass Bazarow einen so überaus ungünstigen Eindruck mache. Darauf antwortet er (1862): Bazarow stellt ja doch alle die andern Personen des Romans in den Schatten … Er ist ehrlich, rechtschaffen und ein Demokrat von reinstem Wasser. Und Sie finden keine gute Eigenschaft an ihm! „Kraft und Stoff“ empfiehlt er besonders als ein populäres, d. h. werthloses Buch. Das Duell mit Pawel Petrówitsch ist eingeflochten, um das geistig Hohle des eleganten, adeligen Ritterwesens zu beleuchten; es ist obendrein fast übertrieben lächerlich dargestellt … Meiner Anschauung nach ist Bazarow dem P. P. beständig durchaus überlegen, nicht umgekehrt. Wenn er sich „Nihilist“ nennt, muss man Revolutionär lesen … Auf der einen Seite ein bestechlicher Beamter, auf der andern ein idealer Jüngling: solche Bilder zu zeichnen überlasse ich Andern. Ich strebe etwas Grösseres an. … Ich schliesse mit der Bemerkung: Wenn der Leser Bazarow nicht trotz aller seiner Grobheit, Herzlosigkeit, unbarmherziger Trockenheit und Schärfe liebgewinnt – so liegt die Schuld an mir, so habe ich mein Ziel verfehlt. Aber mit Syrup versüssen – um mit Bazarow zu reden – das wollte ich nicht, obgleich ich dadurch sofort die Jugend auf meine Seite gezogen hätte.

Und zwölf Jahre später kommt er, auf's Neue angegriffen, nochmals auf sein zärtliches Gefühl für Bazarow zurück: Was, schreibt er, auch Sie behaupten, dass ich in Bazarow eine Caricatur der russischen Jugend geben wollte? Auch Sie wiederholen diesen – verzeihen sie den freimüthigen Ausdruck – unsinnigen Vorwurf? Bazarow, mein Lieblingskind, um dessentwillen ich mit Katkóf brach und an den ich alle Farben, über die ich nur gebot, verschwendete! Bazarow, dieser Verständige, dieser Held, eine Caricatur! …

Der Roman „Rauch“ (1867) entzweite Turgenjew noch mit einer anderen Gruppe in Russland, einer nicht minder einflussreichen, als es jene war, die ihm „Väter und Söhne“ so übel genommen. Er ist zuvörderst ein gegen die Slavophilen gerichteter Schlag. Wenigstens brachte er sie heftig gegen ihn auf. Katkóf und Dostojewski wurden von nun an seine erbitterten Feinde und Verfolger. In diesem Werke werden gewisse geschwätzige, eingebildete russische Quasi-Reformatoren mit beissendem Hohne beseitigt. Die Behandlungsweise erinnert an die Manier Henrik Ibsens, wenn er in seinen Schauspielen die Streber unter seinen Landsleuten züchtigt.

Aber in „Neuland“ (1877) dem letzten grösseren Werke Turgenjew's und dem vielseitigsten von ihm verfassten, hat der Dichter seine Kritik der Gesellschaft mit tiefer unparteiischer Gerechtigkeit zu Ende geführt. Hier vertheilt er streng gerecht Sonne und Wind zwischen den Ständen, Geschlechtern, Tendenzen und Gesellschaftsschichten seines grossen Heimathlandes. „Neuland“ steht hinter den älteren, grössern Romanen insofern zurück, als man es hier zum ersten Male lebhaft inne wird, dass der Dichter, lange von Russland losgerissen, den Augenschein durch Lectüre von Blättern und Prozessreferaten ersetzt hat. Dessenungeachtet ist dieses Werk der reichste, vollste Ausdruck der Humanität und Lebensweisheit, der Freiheits- und Wahrheitsliebe Turgenjew's.

Hier offenbart er vielleicht in der positivsten Weise seine kindlichen Gefühle für Russland und seine Achtung vor der russischen Jugend, hier zeigt sich klar sein unbefangener Blick für den hohen Idealismus derselben. Gewiss strandet auch hier Alles. Bei Turgenjew scheitern eben alle Bestrebungen, misslingt Alles ohne Ausnahme. Im Augenblicke herrscht allein die Hoffnungslosigkeit. Das ältere Geschlecht mit seinem Sipjäginschen Liberalismus ist ein für alle Mal abgethan; bei dem jungen Geschlechte ist Alles sehr wohl gemeint, sehr uneigennützig in's Werk gesetzt, doch nichts führt zum Ziele. Neshdanow will unter das Volk gehen, Bücher und Broschüren austheilen. Es wirkt wie ein Symbol, dass die Bauern das verkehrt auffassen, nur mit ihm trinken wollen und der verunglückte Volksapostel sinnlos betrunken nach Hause gefahren wird. Nicht mit Unrecht hatte Neshdanow kurz zuvor sein Gedicht „Der Schlaf“ mit dem folgenden unvergesslichen Bilde geschlossen:

 
Und in der Hand
Das Branntweinglas, das Haupt dort an den Pol geschlossen,
Die Füsse an den Kaukasus, o Vaterland!
So schläfst du, heiliges Russland, fest und unverdrossen!
 

Und doch erblickt man in diesem letzten grossen Werke in unbestimmten, fernen Umrissen eine Zukunft. Sie wird vorbereitet von jungen Mädchen wie Marianne und Maschurin, von jungen Männern wie Markelow, Ssolomin und Neshdanow selbst.

Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte Turgenjew abwechselnd in den beiden Ländern, die an seiner Bildung den grössten Antheil haben, in Deutschland und Frankreich. Er wohnte in Baden-Baden und Paris. Sein Verhältniss zu Deutschland und Frankreich war jedoch sehr verschiedener Art. Vermuthlich schon kraft alter russischer Tradition, überdies auch durch die Nationalität Frau Viardots stand er Frankreich weit näher als Deutschland. Er hatte in Berlin studirt und sein Geist war durch die Kritik des Junghegelianismus verfeinert und geschärft worden. Er verehrte Goethe über Alles, ging eine Zeitlang in seinen Jugendtagen ganz in Heine auf, unterhielt immer ein freundschaftliches Verhältniss zu deutschen Dichtern und Schriftstellern (wie Paul Heyse, Ernst Dohm und Ludwig Pietsch), sprach Deutsch wie ein Deutscher, war ein aufrichtiger Bewunderer der wissenschaftlichen Grösse Deutschlands; doch so innige Bande ihn auch mit Deutschland verknüpften, in seinen Erzählungen stehen nichtsdestoweniger wie in fast allen russischen Romanen und Novellen die Deutschen in einem höchst satirischen, hie und da sogar in einem gehässigen Lichte. Es scheint mir eine Schwäche der deutschen Kritik, dass sie diese in die Augen fallende Thatsache nicht einfach gesteht. Gewiss schildert in der Regel jede Nation die andere ohne Enthusiasmus. Eine Russin bei Victor Cherbuliez oder Paul Heyse („Ladislaus Bolski“, „Im Paradiese“, „Das Glück zu Rothenburg“) spielt nicht leicht eine schöne Rolle. In Turgenjews Seele aber scheint ein Rest von unbewusstem Nationalhass übrig geblieben zu sein.

Obgleich ihm nun auf der andern Seite gewiss nicht der Blick für die Fehler des französischen Naturells und die Mängel der französischen Kultur fehlte, kam er doch leichter mit denselben zurecht. Er fühlte sich in dem sonst gegen Fremde so vorurtheilsvollen Paris als Künstler voll verstanden und gewürdigt: er hatte ebenso warme Bewunderer unter den älteren Schriftstellern (Mérimée), wie in dem etwas jüngeren Geschlechte (Augier, Taine, Flaubert, Goncourt) und in der später auftretenden Generation (Zola, Daudet, Maupassant). Mit dem Schriftstellerkreise, der sich um Flaubert vereinte, verkehrte er auf einem vertrauten und kameradschaftlichen Fusse, wie mit keinen Schriftstellern anderer Länder.

Wechselnder Art war das Verhältniss zu seinem eigenen Vaterlande. In seiner Jugend war er populär, späterhin förmlich dem Hasse preisgegeben. Erst bei seinem letzten Besuch in Russland offenbarte es sich, dass allmälig das Missverständniss, er wäre seinen Jugendidealen untreu geworden, einer bessern Erkenntniss gewichen war, und seine Reise gestaltete sich durch die ihm von der Jugend dargebrachten Ovationen, zu einem wahren Triumphzuge. Allerdings flössten diese letztern der Regierung eine Unruhe ein, die ihm den Aufenthalt in Petersburg bald verleidete. In Moskau, wo Katkóf in heftigen Ausfällen ihn vaterlandsfeindlicher, aufrührerischer Gesinnung geziehen hatte, wurde ihm zu Ehren ein Festmahl veranstaltet, zu dem man auch Dostojewski einlud, dem man um seiner Jugendüberzeugung und seines Martyriums willen, sein späteres gehässiges Auftreten gegen Turgenjew verzieh.

32Isaac Pavlovsky: Souvenirs de Tourguéneff. S. 112 ff.