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VI

Das Jahr 1874 brachte endlich das Werk, das Flaubert selbst als sein Hauptwerk betrachtete, an welchem er zwanzig Jahre gearbeitet hatte und das die schärfste Definition seines Geistes lieferte – ein verblüffendes Werk. Als es zuerst ruchbar wurde, dass ein französischer Romanschriftsteller „Die Versuchung des heiligen Antonius“ geschrieben hatte, hegten gewiss neun Zehntel des Publikums keinen Zweifel, dass der Titel scherzhaft oder symbolisch aufzufassen sei. Wer konnte ahnen, dass das Werk in vollem Ernst die Versuchungsgeschichte des alten ägyptischen Einsiedlers behandelte.

Etwas Aehnliches hatte kein Romanschriftsteller und kein Dichter überhaupt je versucht. Zwar hatte Goethe „Die classische Walpurgisnacht“ geschrieben, Byron im zweiten Act von „Cain“ ein Vorbild für Einzelnheiten geliefert, Turgeniew in „Visionen“ in ganz kleinem Rahmen einen entfernt verwandten Stoff mit Meisterschaft behandelt; aber ein Drama in sieben Abtheilungen, das aus Einem meilenlangen Monolog bestand, oder das richtiger nur die punktuelle Darstellung dessen war, was in einer Schreckensnacht in dem Gehirn eines einzelnen hallucinirten Menschen vor sich ging – so ein Buch war nie früher in der Welt geschrieben worden. Und doch hatte dieses Werk, verfehlt wie es ist, in seiner schwermüthigen Monotonie eine stille Grösse und ein völlig modernes Gepräge, wie nur wenige Dichterwerke der französischen Litteratur.

Der heilige Antonius steht an der Schwelle seiner Hütte auf einem Berg in Aegypten. Ein langes Kreuz ist in die Erde gepflanzt; eine alte gewundene Palme neigt sich über den Abgrund hinaus, der Nil bildet einen See am Fusse des Berges. Die Sonne sinkt. Der Einsiedler ist von einem in Fasten, Arbeit und Selbstquälereien verbrachten Tag ermattet; so fühlt er beim Anbruch des Dunkels seine Seelenstärke abnehmen. Eine träumerische Sehnsucht nach der Aussenwelt füllt sein Herz. Bald wollüstige, bald stolze, bald idyllisch lächelnde Erinnerungen locken und quälen ihn.

Zuerst sehnt sich Antonius nach seiner Kindheit zurück, nach Ammonaria, einem jungen Mädchen, das er einmal geliebt hat; er gedenkt seines liebenswürdigen Schülers Hilarion, der ihn verlassen hat; er verflucht sein einsames Leben. Die Zugvögel, die über seinem Kopf hinwegziehen, erwecken seinen Wunsch, wie sie davon fliegen zu können. Er bedauert sein Loos, fängt an zu klagen und zu ächzen. Warum ist er nicht ein ruhiger Mönch in der Zelle geworden, warum hat er nicht das friedliche und nützliche Leben eines Priesters gewählt. Er wünscht, dass er Grammatiker oder Philosoph, Zöllner an einer Brücke, ein reicher, verheiratheter Kaufmann, oder ein tapferer, lebenslustiger Soldat sei; seine Körperkraft hätte dann Anwendung gefunden. Er verzweifelt über seine Lage, bricht in Thränen aus, sucht Trost und Erbauung in der heiligen Schrift. Aber in dem Leben der Apostel schlägt er die Stelle auf, wo es Petrus erlaubt wird, alle Thiere, reine und unreine, zu essen, während er selbst sich in strenger Askese abquält; in dem alten Testament liest er eben, wie den Juden das Recht gegeben wird, all' ihre Feinde zu tödten, ein grosses Blutbad an ihnen zu veranstalten, während er seinen Feinden vergeben soll; er liest von Nebucadnezar und beneidet seine Feste – von Ezechias und schaudert vor Begierde zusammen, wenn er an all' seine kostbaren Salben und seine goldnen Schätze denkt, – von der schönen Königin von Saba und fragt sich, wie sie wohl hoffen könnte, den weisen Salomo in Versuchung zu führen – und es scheint ihm, dass die Schatten, welche die zwei Arme des Kreuzes auf die Erde werfen, sich einander nähern wie zwei Hörner. Er ruft Gott an, und die beiden Schatten nehmen wieder ihren alten Platz ein. Vergeblich sucht er sich zu demüthigen; er gedenkt mit Stolz seines langen Märtyrerthums, sein Herz schwillt wenn er sich der Ehre erinnert, die ihm von allen Seiten erwiesen worden ist, selbst der Kaiser hat ihm drei Mal geschrieben; dann sieht er, dass sein Wasserkrug leer, sein Brod von Chakalen verzehrt worden ist; Hunger und Durst nagen an seinem Eingeweide.

Er erinnert sich des Neides und des Hasses, mit dem ihm die Kirchenväter auf dem Concil zu Nicäa entgegen traten, und seine Seele schreit nach Rache. Er träumt von den vornehmen Frauen, die ihn früher so oft hier in der Wüste aufsuchten, um ihm zu beichten und ihn anzuflehen, bei ihm, dem Heiligen, bleiben zu dürfen. Er starrt so lange diesen Träumen nach, dass sie ihm verwirklicht erscheinen. Er sieht die feinen Damen aus der Stadt, die in ihren Sänften getragen sich nähern, er löscht seine Fackel aus um die Gesichter zu vertreiben, und schaut jetzt erst recht an dem dunkeln Nachthimmel die Visionen wie Scharlachbilder auf Ebenholz an ihm in wirbelnder Hast vorbeifahren.

Stimmen, die aus dem Dunkel heraustönen, bieten ihm Frauen, Haufen Goldes, herrliche Gerichte an. Dies ist der Anfang der Versuchung, der Durst der thierischen Triebe. Dann träumt er, dass er der Vertraute des Kaisers, der erste Minister ist, der alle Macht hat. Der Kaiser krönt ihn mit seinem Diadem. Er rächt sich grausam an seinen Feinden unter den Kirchenvätern, watet in ihrem Blut und plötzlich befindet er sich mitten in einem Fest bei Nebucadnezar, wo die Speisen und Getränke Berge und Ströme bilden. Gesalbt und mit Edelsteinen geschmückt sitzt der Kaiser auf seinem Thron, und in der Entfernung liest Antonius an seiner Stirn seine hochmüthigen, hochfliegenden Gedanken. Er durchschaut ihn so vollständig, dass er plötzlich selbst Nebucadnezar wird, und in all' dem Schwelgen fühlt er das Bedürfniss wie ein Thier zu sein; er wirft sich auf alle Viere hinunter und brüllt wie ein Stier; dann kratzt er seine Hand an einem Stein und erwacht. Er peitscht sich, um sich für diese Vision zu bestrafen so lange bis der Schmerz eine Wollust wird, und sofort erscheint vor ihm die Königin von Saba, mit Gold und Diamanten bedeckt, das Haar blau gepudert, und bietet sich ihm an mit wilder Koketterie; sie ist alle Frauen in einer; er weiss, dass wenn er ihre Schulter mit einem Finger berührte, würde ein Feuerstrom durch seine Ader schiessen; sie steht da, duftend von allem Wohlgeruch des Orients, ihre Worte klingen wie sonderbar bestrickende Musik, und er streckt in brennender Begierde seine Arme aus – aber er beherrscht sich und weist sie hinweg. Sie und ihr ganzes Gefolge verschwinden. Dann nimmt der Teufel die Gestalt seines alten Schülers Hilarion an, um ihn in seinem Glauben zu erschüttern.

Der kleine, welke Hilarion macht ihn zu seiner Angst darauf aufmerksam, dass er in der Phantasie sich der Genüsse bemächtigt, auf die er in der Wirklichkeit versagt, erklärt ihm, dass Gott kein Moloch sei, der den Lebensgenuss verpöne, dass die Bestrebungen, Gott zu verstehen, mehr werth seien als alle Selbstquälereien. Er zeigt ihm zuerst die Widersprüche zwischen dem alten und neuen Testament, darauf die Widersprüche des neuen. Und Hilarion wächst. So taucht denn in Antonius' Gehirn die Erinnerung auf an all' die Ketzereien, die er in Alexandria und anderswo gehört und gelesen und für eine Zeit siegreich überwunden hat. Die hundert und aber hundert Ketzereien der ersten christlichen Secten, Ansichten von denen die eine ungeheuerlicher als die andere ist, werden von den Ketzern selbst in sein Ohr gebrüllt. Sie bellen ihn an wie Hyänen. Jeder von ihnen speit seine Tollheit über ihn aus. Hysterische Frauen und Geliebte der Märtyrer werfen sich heulend über die Asche der Todten. Antonius sieht Ketzer, die sich entmannen, Ketzer, die sich selbst verbrennen. Apollonius von Tyrus offenbart sich ihm als Mirakelthäter, der in nichts hinter Christus zurücksteht. Und Hilarion wächst immer mehr. Nach den Ketzern folgen die Götter der verschiedenen Religionen in einem ungeheuren Aufzug, von den abscheulichen und grotesken Steingöttern und Holzfetischen der ältesten Zeiten bis zu den Blutgöttern des Morgenlandes und den Schönheitsgöttern Griechenlands, alle fahren sie vorbei, um jeder für sich mit einem Klagegeschrei den Purzelbaum hinunter in das grosse Nichts zu machen. Er sieht Götter, die in Ohnmacht fallen, andere, die fortgewirbelt werden, wieder andere, welche zerquetscht, zerrissen, in ein schwarzes Loch hinuntergestürzt werden, Götter, die ertrinken, die sich in Luft auflösen oder die sich tödten. Unter ihnen ragt Buddha empor, der in allem, was er über sich erzählt, die unheimlichste Aehnlichkeit mit dem Erlöser hat. Zuletzt machen Crepitus, jener römische Gott der Verdauung, und Jehovah, der Gott der Heerscharen, den Sprung in den Abgrund.

Dann tritt eine fürchterliche Stille, eine tiefe Nacht ein.

„Sie sind alle fort“ sagt Antonius.

„Ich bin übrig“ antwortet eine Stimme.

Und Hilarion steht vor ihm, noch weit grösser, verklärt, schön wie ein Erzengel, leuchtend wie eine Sonne und so gross, dass Antonius den Kopf zurückbeugen muss, um ihn zu sehen.

„Wer bist Du?“

Hilarion antwortet: „Mein Reich ist so gross wie die Welt und meine Begier hat keine Grenzen. Ich gehe immer vorwärts, Geister befreiend und Welten wägend, ohne Furcht, ohne Mitleid, ohne Liebe und ohne Gott. Man nennt mich die Wissenschaft“.

Antonius schreckt zurück: „Du bist eher der Teufel!“

„Willst Du ihn sehen?“ Ein Pferdefuss zeigt sich, der Teufel nimmt den Heiligen auf seine Hörner und trägt ihn durch den Raum, durch den Himmel der modernen Wissenschaft, wo die Weltkörper zahlreich wie Staubkörner sind. Und das Firmament erweitert sich mit den Gedanken des Antonius. Höher, höher! ruft er. Die Unendlichkeit offenbart sich seinem Blick. Aengstlich fragt er den Teufel nach Gott. Dieser antwortet mit neuen Fragen, mit Zweifeln: „Was Du Form nennst, ist vielleicht nur ein Irrthum Deiner Sinne; was Du Substanz nennst, nur eine Einbildung Deines Gedankens. Wer weiss, ob nicht die Welt ein ewiger Strom der Dinge und Begebenheiten, der Schein das einzige Wahre, die Illusion die einzige Wirklichkeit ist!“ – „Bete mich an“, ruft der Teufel plötzlich, „und verfluche das Blendwerk, das Du Gott genannt hast!“ Er verschwindet und Antonius erwacht auf dem Rücken liegend am Rande seines Felsens.

 

Aber seine Zähne klappern, er ist krank, er hat weder Brod noch Wasser mehr in seiner Hütte, und die Hallucinationen fangen von neuem an. Er verliert sich in dem Gewimmel der Fabelthiere, der phantastischen Ungeheuer der Erde. Er befindet sich an einer Küste unter den Bewohnern und Pflanzen des Meeres und des Landes; er kann Pflanzen und Thiere nicht mehr unterscheiden; die Schlingpflanzen winden sich wie Schlangen; er verwechselt die Welt der Pflanzen und der Steine mit der Menschenwelt; die Kürbisse sehen wie Busen aus; der babylonische Baum Dedaim trägt menschliche Köpfe als Früchte; Kieselsteine sehen Gehirnschalen ähnlich, Diamanten glänzen wie Augen. Er fühlt die pantheistische Sehnsucht nach Verschmelzung mit der Allnatur, und dieses ist sein letztes Geschrei:

„Ich möchte fliegen, schwimmen, bellen, brüllen, heulen. Ich möchte Flügel, einen Schuppenpanzer, eine Schale, einen Schnabel haben, meinen Körper winden, mich theilen, in Allem sein, wie ein Geruch herausströmen, wie eine Pflanze mich entfalten, wie ein Ton klingen, wie ein Licht glänzen, mich unter allen Formen verbergen und jedes Atom durchdringen!“

Die Nacht ist zu Ende. Es war nur ein neues Alpdrücken. Die Sonne steigt und in ihrer Scheibe strahlt ihm Christi Gesicht. – Dann die letzte discrete Ironie des Dichters: Antonius macht das Zeichen des Kreuzes und fängt sein durch die Visionen unterbrochenes Gebet wieder an.

In diesem Gedicht hat man Flaubert ganz mit seinem schweren Blut, seiner düsteren Phantasie, seiner schroff sich aufdrängenden Gelehrsamkeit, und seinem Bedürfniss, alte und neue Illusionen, alten und neuen Glauben und Aberglauben zu nivelliren. Die fast brutale Gewaltsamkeit seines Naturells offenbart sich, wo er den Gott Crepitus vor den Gott Jehovah einschiebt. Dass er die Legende von dem heiligen Antonius wählte, um sein Herz zu erleichtern und der Menschheit bittere Wahrheiten zu sagen, beruht darauf, dass er in diesem Stoff das Alterthum und das Morgenland, das er liebte, vorfand. Er konnte hier die grossen Städte und die Landschaften Aegyptens als Hintergrund benutzen, leuchtende Farben und riesige Formen verschwenden. Und hier malte er nicht mehr die Ohnmacht und die Dummheit einer Gesellschaft, sondern einer Welt; hier zeigte er – ganz unpersönlich – der Menschheit, wie sie zu jeder Stunde ihres Lebens bis über die Knöchel in Schmutz und Blut gewatet sei, und wies auf die Wissenschaft – die wie der Teufel gefürchtet wird – als auf die einzige Rettung hin.

Die Idee war eben so gross wie neu; aber leider steht die Ausführung keineswegs auf der Höhe des Plans. Das Buch wird von dem dazu verwendeten Material zu Boden gedrückt. Es ist kein poetisches Werk, halbwegs eine Theogonie, halbwegs ein Stück Kirchengeschichte, und all' dies ist in der Form einer Psychologie des Wahnwitzes gegeben. Es findet sich darin ein Aufzählen von Einzelheiten, das wie das Besteigen einer fast senkrechten Bergwand ermüdet; gewisse Partien sind nur dem Gelehrten vollkommen verständlich und für das einfachere Publikum fast unleserlich. Der grosse Schriftsteller war allmälig in der abstracten Gelehrsamkeit und in dem abstracten Stil aufgegangen. „Es war ein trauriger Anblick“, hat Emile Zola treffend gesagt, „dies so mächtige Talent wie die Gestalten der antiken Mythologie sich versteinern zu sehen. Langsam, von den Füssen bis zum Gürtel, von dem Gürtel bis zum Kopf wurde Flaubert ein Marmor-Standbild“.

VII

Ich habe es aufgeschoben, von einer der letzten Visionen des heiligen Antonius zu sprechen, weil sie mir die merkwürdigste von allen scheint und ganz sicher die selbsteigene Vision des Dichters war. Nachdem alle Götter verschwunden sind und die Reise durch den Himmelsraum ihr Ende erreicht hat, sieht Antonius auf dem andern Nilufer die Sphinx, die ihre Klauen ausstreckt und sich auf den Bauch legt. Aber springend, fliegend, bellend, durch die Nase Feuer blasend und die Flügel mit dem Drachenschwanz schlagend, umkreist sie die Chimäre. Was ist die Sphinx? Was anders als das dunkle Räthsel, das an die Erde genagelt ist, die ewige Frage, die grübelnde Wissenschaft! Was ist die Chimäre? Was anders als die geflügelte Einbildungskraft, die den Raum durcheilt und die Sterne mit ihren Flügelspitzen berührt!

Die Sphinx (französisch männlichen Geschlechts) sagt: „Stehe still, Chimäre! Laufe nicht so schnell, fliege nicht so hoch, belle nicht so stark. Höre auf, mir Deine Flamme in's Gesicht zu blasen, Du schmelzest doch nicht meinen Granit“.

Die Chimäre antwortet: „Ich stehe nie still, Du kannst mich nicht ergreifen, Du fürchterliche Sphinx“. – Die Chimäre galoppirt durch die Corridore des Labyrinthes, fliegt über das Meer, beisst sich fest in die segelnden Wolken.

Die Sphinx liegt unbeweglich und zeichnet mit ihrer Klaue Alphabete in den Sand, denkt und rechnet nach, stiert, während das Meer fluthet, das Getreide wogt, Karawanen vorbeiziehen und Städte zusammenstürzen, mit ihrem festen Blick in den Horizont hinaus.

Dann ruft sie: „O Phantasie! Erhebe mich auf Deinen Flügeln aus meiner tödtlichen Langeweile heraus!“

Und die Chimäre antwortet: „Du Unbekannter! ich bin in Deine Augen verliebt; wie eine brünstige Hyäne kreise ich um Dich, o umarme mich, befruchte mich!“

Die Sphinx erhebt sich. Aber die Chimäre entflieht, aus Schrecken, unter dem Steingewicht zerschmettert zu werden. – „Unmöglich!“ seufzt die Sphinx und versinkt in den tiefen Sand.

Ich sehe in dieser Scene das letzte Bekenntniss Flaubert's, seine erstickte Klage über das Gebrechen seines ganzen Lebenswerkes und dieses Hauptwerkes im besonderen. Die Sphinx und die Chimäre, die Wissenschaft und die Poesie, begehrten sich bei ihm, suchten sich immer wieder, umkreisten mit flammender Sehnsucht und Brunst einander; aber die rechte Befruchtung der Poesie durch die Wissenschaft gelang ihm nie.

Nicht dass sein Grundgedanke ungesund oder unrichtig war. Im Gegentheil. Die Zukunft der Poesie ist da, das glaub' ich gewiss; denn da ist ihre Vorzeit. Die grössten Dichter, ein Aeschylos, ein Dante, ein Shakespeare, ein Goethe haben alles Wesentliche gewusst, was man zu ihrer Zeit wusste und haben ihr Wissen in ihre Poesie niedergelegt. Zwar haben Gelehrsamkeit und wissenschaftliche Bildung an und für sich keinen poetischen Werth. Sie können nie und nimmer dichterisches Gefühl und künstlerische Gestaltungskraft ersetzen. Wo die poetische Begabung aber vorhanden ist, da wird der Blick durch Einsicht in die Gesetze der Natur und der menschlichen Seele geschärft und durch das Studium der Geschichte erweitert. Nur ist es ohne Zweifel in unserem Jahrhundert, wo die moderne Wissenschaft in allen Richtungen neu geschaffen worden, schwieriger als je, ohne überwältigt zu werden, den Wissensstoff zu umspannen, und Flaubert besass nicht die ursprüngliche Harmonie des Geistes, die das schwere leicht macht und die tiefen Gegensätze der Ideenwelt versöhnt.

„La tentation de Saint-Antoine“ wurde in Paris mit einem Boulevardwitz abgefertigt. Nur wenige hatten Geduld um sich in das Buch zu vertiefen, und das grosse Publikum war bald mit seinem Urtheil fertig: das Buch war tödtlich langweilig. Wie konnte der Verfasser meinen, dass solches die Pariser amüsire! Nein, Madame Bovary, das war etwas anderes! Warum wiederholte er sich nicht (wie alle schlechten Schriftsteller), warum schrieb er nicht zehn neue „Madame Bovary“?

Er zog sich nach Croisset zurück, sperrte sich, tief verletzt, wie er war, Monate lang ein und fing allmälig wieder an zu arbeiten. Er wurde alt. Er verlor durch den Tod seine älteren Freunde, George Sand, Théophile Gautier, seinen Bruder, seine Jugendfreunde und Gesinnungsgenossen, Louis Bouilhet, Feydeau, Jules de Goncourt u. s. w. Er wurde einsam. Er wurde kränklich, konnte zuletzt nicht das Gehen vertragen, ja nicht einmal vertragen, Andere gehen zu sehen. Er wurde arm. Er verlor sein Vermögen, das er aus Güte seiner einzigen Nichte anvertraut hatte und das ihr Mann auf's Spiel setzte, und er wurde in den späteren Jahren seines Lebens von Nahrungssorgen gequält. Er kam zuletzt selten mehr nach Paris; ja er ging nicht mehr in seinen Garten hinaus, ging nur hin und her zwischen seinem Schlafzimmer und seinem Arbeitszimmer und hinunter um seine einsamen Mahlzeiten einzunehmen.

Er starb im Jahre 1880 und wurde in Rouen begraben. Das Gefolge war klein, nur wenige Freunde aus Paris gaben das Geleite. Aus Rouen folgte fast Niemand, denn er war der Mehrzahl der Einwohner völlig unbekannt, und als unmoralischer und irreligiöser Schriftsteller der Minderzahl, die ihn kannte, verhasst.

Edmond und Jules de Goncourt.
(1882.)

I

Eines Tages im Juni 1870 bewegte sich in Paris ein nicht sehr grosses Trauergefolge zu Fuss von einem Hause in Auteuil zum Kirchhof Montmartre. Man las echte Trauer in den Gesichtern der Männer, die den kleinen Zug bildeten, der aus Künstlern, Schriftstellern, Philosophen und einigen Verwandten bestand. Doch unter den Leidtragenden war Einer, der unmittelbar hinter dem Sarge ging, und für den der Gang vom Trauerhause bis zum Grabe wie der Gang des Verurtheilten vom Gefängniss zum Schaffot zu sein schien, Einer, dessen edles Gesicht in seinem Schmerz wie versteinert war, dessen Augen, von Thränen geblendet, nichts sahen, dessen hohe Gestalt, obwohl von dem Arm eines Freundes unterstützt, jeden Augenblick schwankte, „als hätte er sich mit den Füssen in dem Zipfel des Leichentuchs verwickelt“.

In dem Sarge lag der 39jährige Jules de Goncourt, Radierer, Aquarellmaler, Geschichtsschreiber und Romandichter. Edmont de Goncourt war durch den Tod seines einzigen Bruders, der ihm viel mehr gewesen war, als der eine Bruder sonst dem andern zu sein pflegt, um zehn Jahr älter geworden.

Er hatte am Tage zuvor an dem Todtenbett gestanden. Die Stirn des Verstorbenen hatte sich gefaltet; seine Augen hatten sich wieder geöffnet, sein gläserner Blick schien eine erschreckende Sehnsucht, ein unsägliches Erstaunen, eine qualvolle Entrüstung auszudrücken über das Schicksal, das mit all' seinen Hoffnungen auf endliche Anerkennung und späten Ruhm auch die Bande einer brüderlichen Freundschaft zerschnitt, die ihresgleichen selten gehabt hat. Während der Tod sonst gewöhnlich die Gesichter, die er berührt, mit einer Maske versöhnter Ruhe deckt, hatte er von den so feinen und regelmässigen Zügen Jules de Goncourt's nicht einen bitteren Ausdruck auslöschen können. Der Todte auf seinem Lager schien über den Lebendigen zu trauern, der verlassen zurückblieb.

Und das ganze Leben der beiden Brüder glitt an dem inneren Auge Edmonds vorüber, während er über die Leiche gebeugt dastand: die Gestalt des tapferen Vaters, eines der jüngsten höheren Officiere der grossen Armee; an dem Kopfe hatte er die Narben von sieben Säbelhieben, die er in Italien erhalten hatte, seine rechte Schulter war am Tage nach der Schlacht bei der Moskowa von einer Kugel zerquetscht worden; sie hatten ihn schon als Kinder verloren – vorüber zog die Gestalt der Mutter, deren Züge Jules geerbt hatte, die nach dem Tode des Vaters sich völlig von der Welt zurückgezogen hatte um nur ihren Kindern zu leben, die jeden Abend Jules in all' seinen Lectionen überhörte, ihn mit Leidenschaft erzog und verzog – und Edmond sah Jules als kleinen Jungen von zehn Jahren, für einen Maskenball geputzt, in dem Frack eines französischen Leibgardisten, den Dreimaster auf dem Ohr, die Hand am Degenknopf, das Auge durch den Puder noch lebhafter als sonst, lieblich und rund wie ein Amor von Fragonard.

Da lag er jetzt ausgestreckt als Leiche.

So hatte im Jahre 1848 die Mutter gelegen. Und seit der Zeit hatte er und Jules eine Brüderschaft geschlossen dergestalt, dass sie in der Regel alle Stunden ihrer Tage gemeinsam verbracht, alle ihre Gedanken sich mitgetheilt, alle Arbeiten gemeinsam ausgeführt, alle Mahlzeiten zusammen gegessen, alle Reisen gemeinsam gemacht, und sich in 22 Jahren nur ein Mal auf 48 Stunden getrennt hatten, als der eine von ihnen eine Reise nach Rouen unternehmen musste, um einige Briefschaften abzuschreiben. Sie hatten in der Zeit kein Buch, keinen Freundes- oder Geschäftsbrief geschrieben, der nicht von ihnen beiden unterzeichnet war.

Edmond hatte den um 8 Jahre jüngeren Bruder in die litterarische Arbeit eingeweiht. Er war zuerst sein Lehrer gewesen, aber bald wich das Verhältniss zwischen Lehrer und Schüler dem ebenbürtigsten Zusammenarbeiten. Sie hatten von Anfang an ein kleines Vermögen gehabt, zwölf bis fünfzehn Tausend Francs jährlich für Beide, was ihnen die Unabhängigkeit sicherte und das Recht, keine Arbeit, die ihnen nicht zusagte, zu übernehmen.

 

Und Edmond sah sie, wie sie ein Jahr nach dem Tode der Mutter, den Ränzel auf dem Rücken, Frankreich zu Fuss durchzogen, die Gegenwart studirten, sich der Vorzeit erinnerten, mit der Feder alte Schlösser und Kirchenthüren zeichneten, Einfälle und Empfindungen notirten; Jules, damals noch so schlank, so fein, so bartlos, dass die Dienstmädchen in den Wirthshäusern ihn für eine hübsche junge Frau hielten, die sich entführen liess; bis zu seinem Tode hatte er ja auch seinen „Frauenmund“ behalten. Edmond erinnerte sich, wie sie sich von Marseille nach Algier einschifften, dort im arabischen Viertel der Stadt herrliche Wochen verlebten, von der Schönheit jenes Himmels berauscht die hellen Nächte in einer Barke verbrachten und sich in dem Grade in das Sonnenland verliebten, dass sie bei der Abreise sich einredeten, sie zögen heim, nur um ihre Sachen zu ordnen, und dann für beständig nach Afrika zurückzukehren.

Er dachte an den grossen Tisch in der dunklen Mezzanin-Etage in der Rue Saint-Georges, an dessen zwei Enden Jules und er sassen und Aquarelle malten, als sie plötzlich eines Herbstabends 1850 darauf verfielen, mit den Tuschpinseln ein Vaudeville zu schreiben, ihren ersten litterarischen Versuch, der wie fast all' ihre folgenden Lustspiele und Schauspiele von zahlreichen Theaterdirectionen verworfen wurde.

Er sah sich um in dem Schlafzimmer des Todten. Dort der Schaukelstuhl, in dem er sich rauchend auszuruhen liebte, wenn er einen Abschnitt geschrieben hatte, dort der weisse Tisch, an dem er zum letzten Mal dem Bruder eine Seite aus seinem Lieblingsbuch Chateaubriand's „Memoires d'Outre-Tombe“ vorlas, als er mit Eins stammelte, das Wort wiederholen wollte, ohne es sagen zu können, nochmals mit Zorn es versuchte, erbleichend aufstand und schwankte.

Edmond dachte zurück an die schönen Jugendtage, wo sie auf der Jagd nach Zeichnungen und Autographen aus dem achtzehnten Jahrhundert Paris kreuz und quer durchstreiften, Jules, der jugendlichere und eifrigere, immer einen Schritt voraus, obwohl nur Edmond mit Leidenschaft Sammler war; er sah, wie sie, nach Hause gekommen, wie botanisirende Naturforscher ihre Schätze auskramten, ihre Concurrenten an den Auctionstischen verwünschten, sich des Erworbenen freuten, einander die Beobachtungen, Einfälle, Vergleiche mittheilten, welche die beste Beute des Tages ausmachten.

Welch' gute Tage in jener niedrigen Wohnung! Während er selbst über die Arbeit gebeugt sass, lag Jules auf der von Floretstössen durchbohrten Bettdecke, rauchend, träumend, Brochüren durchblätternd, von Ideen sprudelnd. Wenn die Ratten unten in dem halbdunklen Brunnen, den man den Hof nannte, allzu laut wurden, ergriff man aus der Trophäe an der Wand eine Salonpistole und feuerte hinunter in den Schwarm.

Und die Mittage bei dem Restaurant Magny, die berühmten Mittage, wo Sainte-Beuve präsidirte, Théophile Gautier mit heiserer Stimme seine farbenreichen Tiraden gegen die „Bôrgeois“ schleuderte, wo Renan den Stil des siebzehnten Jahrhunderts gegen die sprachlichen Neuerer vertheidigte, Taine Alfred de Musset gegen die Jünger Victor Hugo's in Schutz nahm, jene glücklichen Stunden, wo in der feinen Erregung der leichten Speisen, der duftenden Früchte, des echten alten Weins Jules all' seinen so ganz parisischen Geist an den Tag legte, und Edmond an dem Bruder seine Freude hatte, wie ein Vater an seinem Kind – diese Mittage, von denen Jules nie zurückkehrte, ohne die Nachwallungen seines Blutes, das in den Schläfen pochte, mit dem Schreiben einiger Seiten zu beruhigen.