Volk Gottes

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Die bewegte Geschichte der dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ lässt bereits erahnen, dass dieses Dokument zu einer ebenso bewegten Rezeptionsgeschichte Anlass geben würde. Die Bemühungen des Redaktors Gerard Philips und der mit ihm verbundenen Theologen, einen neuen Text auf der stark kritisierten Grundlage des Ausgangsschemas von „De ecclesia“ zu entwickeln, erfordert, wie gesehen, eine Kompromissbereitschaft bei der Berücksichtigung verschiedener ekklesiologischer Ansätze und Vorstellungen. Das Ergebnis ermöglicht es, einerseits eine lehramtliche Kontinuität in der Behandlung der Ekklesiologie sicherzustellen, andererseits eine gleichzeitige Öffnung gegenüber den neuen theologischen Strömungen zu erwirken.386 Zugleich kann für „Lumen gentium“ auf diese Weise eine fast einmütige Zustimmung der Konzilsversammlung erreicht werden. Nachteil des Vorgehens ist, dass die Konstitution die Lehre von der Kirche nicht so eindeutig darlegt wie es sowohl von traditionellen als auch von progressiven Kreisen auf ihre je eigene Weise gewünscht worden wäre. Mit Blick auf das Thema der Grundlagen einer Ekklesiologie, der Bestimmung von Wesen und Auftrag der Kirche, ergibt sich ein Diskussionsfeld in der Auslotung des Verhältnisses der Grundbegriffe „Sakrament“, „Leib Christi“ und „Volk Gottes“. In Bezug auf den letztgenannten Begriff etablieren sich in frühen Kommentaren zu „Lumen gentium“ zwei Grundthesen.

Die erste These betrifft die theologischen Hauptaspekte, die sich mit „Volk Gottes“ verbinden. Zum einen kommt in ihm die geschichtliche Dimension der Kirche zum Ausdruck, die sich u.a. in der heilsgeschichtlichen Kontinuität zwischen dem alttestamentlichen Volk Israel und der Kirche387 zeigt, aber auch in ihrer eschatologischen Dimension im Bild der Pilgerschaft.388 Hierbei wird die besondere Erwählung und geschichtliche Verantwortung des Volkes betont.389 Zum anderen wird der Begriff eingesetzt, um die gemeinschaftliche und verfasste Struktur der Kirche zum Ausdruck zu bringen. Die gemeinsame Sendung aller Glieder der Kirche ist hierbei als Ausgangspunkt für die innerkirchliche Gliederung und die verschiedenen Grade der Zugehörigkeit zur Kirche.390 Philips schreibt dazu:

„Die Einfügung eines besonderen Kapitels II über das Volk Gottes entsprach dem Bemühen, die Verwirklichung des Geheimnisses der Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte und die Entfaltung ihrer eigentümlichen Katholizität zu zeigen. Es war ein allgemeiner Überblick über den von Christus gestifteten Organismus, eine Gesamtschau, mit Hilfe derer der Ort der einzelnen Teile und die Bedeutung der differenzierten Funktionen genauer bestimmt werden konnten. So wurden die Geschichte des auserwählten Volkes und die des Neuen Bundes miteinander verbunden. „Volk“ bezeichnet hier also nicht die Laien, sondern alle Gläubigen von den Bischöfen bis zum einfachsten Christen, die alle zur Teilhabe an den Ereignissen der Heilsgeschichte berufen sind.“391

Die zweite These betrifft die Zusammengehörigkeit der ersten beiden Kapitel der Konstitution. Bereits der Bericht der Unterkommission, die die redaktionelle Arbeit vor der dritten Sitzungsperiode des Konzils vorgenommen hatte, betont, dass Kapitel I und II eigentlich auch ein einziges Kapitel bilden könnten.392 Philips, der mutmaßliche Verfasser des Berichts393, verdeutlicht dies, indem er ausführt, die ersten beiden Kapitel brächten das Geheimnis der Kirche einmal in seiner transzendenten Dimension (Kap. I) und in seiner geschichtlichen Verwirklichung (Kap. II) zum Ausdruck.394 Beiden Thesen soll im Folgenden anhand von zwei Leitfragen nachgegangen werden: 1. Wie wird der Begriff „Volk Gottes“ in „Lumen gentium“ verwendet? 2. In welchem Verhältnis stehen in Kapitel I und II die Leitbegriffe „Sakrament“ und „Volk Gottes“ zueinander? In einem dritten Schritt folgen dann noch einige Anmerkungen zur Struktur der Kirchenkonstitution.

2.2.1 Die Bedeutung von „Volk Gottes“ in „Lumen gentium“

Das Kapitel I „De mysterio“ bietet nach der Grundbestimmung der Kirche als „Sakrament“ (LG 1) eine Betrachtung der Kirche als Teil des göttlichen Heilsplans in trinitarischer Perspektive (LG 2–4). Von der ehemals umfangreicheren Darstellung des „Volkes Gottes“ an dieser Stelle ist nur ein Verweis auf das Volk Israel als Vorausbild der Kirche geblieben (LG 2). In LG 4 wird das Wirken des Heiligen Geistes und damit die auch die gemeinschaftliche, durch hierarchische und charismatische Gaben beschenkte Struktur der Kirche dargestellt. Der Abschnitt schließt zusammenfassend: „So erscheint die ganze Kirche als ‚das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk‘“ (LG 4). Diese Bestimmung nimmt das zweite Kapitel „De populo Dei“ in LG 9 wieder auf und entfaltet die heilsgeschichtliche Sendung der Kirche als „Volk Gottes“. Der aus den ehemaligen Nr. 2, 3 und 22 des zweiten Schemas zusammengestellte Absatz beginnt beim Entschluss Gottes, die Menschen nicht einzeln, sondern gemeinschaftlich als Volk zu retten und somit das Volk Israel zum Vorausbild der Kirche zu machen. Aus dem neuen und vollkommenen Bund, den Christus durch seinen Tod stiftet, entsteht das neue Gottesvolk aus Juden und Heiden, das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft (1 Petr. 2,9f.). Das messianische Gottesvolk wir durch den Heiligen Geist belebt und nimmt das neue Gebot der Liebe an. Es wird seine Vollendung im Reich Gottes finden und ist als „Keimzelle der Einheit für das ganze Menschengeschlecht“ (LG 9) Werkzeug („instrumentum“), dessen sich Gott zur Erlösung der Menschheit bedient. Das „Volk Gottes“ ist in der Zeit auf dem Weg zur Vollendung und wird in dieser Zwischenzeit „Kirche Christi“ genannt. Auf diesen heilsgeschichtlich ausgerichteten Artikel folgt der Abschnitt, der die Gemeinschaft der sichtbaren Kirche als „Volk Gottes“ besonders kennzeichnet. Artikel 10 beschreibt das gemeinsame Priestertum der Gläubigen. Mit Verweis auf den zweiten Petrusbrief geht es um das Volk, das durch Christus „zum Königreich und zu Priestern für Gott und seinen Vater“ (LG 10) gemacht wurde (Offb 1,6). Auch wenn gemeinsames und amtliches Priestertum sich voneinander unterscheiden, sind sie einander doch eng zugeordnet. Die Eingliederung der Gläubigen geschieht sakramental durch Taufe und Firmung (LG 10). Artikel 11 macht die Bedeutung der Sakramente, insbesondere der Eucharistie, ebenso wie das tugendhafte Leben für das Bestehen und das Leben des Gottesvolkes deutlich. Die weiteren Artikel des Kapitels befassen sich mit dem übernatürlichen Glaubenssinn des gesamten Volkes und seinen in ihm vorhandenen Gnadengaben (LG 12), der Einheit und Katholizität der Kirche (LG 13) und den unterschiedlichen Graden der Zugehörigkeit bzw. Hinordnung der Menschen auf das Gottesvolk (katholische Christen, Nicht-Katholiken, Angehörige anderer Religionen, Menschen guten Willens)(LG 14–16). Das Kapitel schließt mit einem Artikel über den missionarischen Auftrag der Kirche (LG 17).

Das dritte Kapitel über die hierarchische Verfassung der Kirche, insbesondere das Bischofsamt, hält die in LG 9–12 grundgelegte Bestimmung der Einheit des ganzen Volkes bei innerer Differenzierung der Aufgaben und Ämter nicht konsequent durch.395 An mehreren Stellen ist von einem Gegenüber zwischen dem „Volk“ bzw. „Volk Gottes“ und seinen Hirten die Rede. „Volk“ wird hier synonym für „Laien“ verwendet.396 Zudem bemühen einzelne Artikel das Bild des „mystischen Leibes Christi“, um die Aufgabe des Dienstamtes innerhalb der Kirche zu beschreiben.397 In LG 26 ist eine Verbindung dieser Aspekte zu sehen. Zunächst werden im Sinne von LG 10 Gläubige und Bischöfe als „das von Gott gerufene neue Volk“ beschrieben. In der Feier der Eucharistie verdeutlicht sich dann die Einheit des „mystischen Leibes“. Im nächsten Abschnitt wird der Dienst der Bischöfe „für das Volk“, also die Laien, genannt (LG 26). In der Schilderung der Einsetzung der Apostel in LG 19 wird zudem die heilsgeschichtliche Analogie zur Zahl der Stämme Israels nicht erwähnt.398

Das vierte Kapitel über die Laien steht als Ursprungsort für Kapitel II klar unter dem Leitwort „Volk Gottes“. Dies ist der Grundbegriff der kirchlichen Gemeinschaft (LG 30–33).399 So sagt das Konzil an einer markanten Stelle bezüglich der Berufung der Christen:

„Eines ist also das auserwählte Volk Gottes: ‚Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe‘ (Eph 4,5); gemeinsam die Würde der Glieder aus ihrer Wiedergeburt in Christus, gemeinsam die Gnade der Kindschaft, gemeinsam die Berufung zur Vollkommenheit, eines ist das Heil, eine die Hoffnung und ungeteilt die Liebe.“ (LG 32)

Das Kapitel V über die Berufung zur Heiligkeit in der Kirche beleuchtet, wie gesehen, Aspekte, die zu den Kapiteln I und II gehören und durchaus im Sinne des Konzils an dieser Stelle besser aufgehoben wären. Auch wenn es eine inhaltliche Verknüpfung gibt, wird das theologische Leitmotiv „Volk Gottes“ im Kapitel nur an einer einzigen Stelle erwähnt. An dieser wird auf den besonderen Dienst der Priester verwiesen (LG 41). In Kapitel V ist eher das Motiv der Kirche als Braut zu finden (LG 39, 41). In ähnlicher Weise lässt auch das Kapitel VI über die Ordensleute keine besondere Präferenz für den „Volk Gottes“-Begriff erkennen. In LG 43 ist die eschatologische Perspektive des pilgernden Gottesvolkes Ausgangspunkt, um die eschatologische Zeichenhaftigkeit des Lebens der Ordensleute zu betonen. In LG 45 begegnet „Volk Gottes“ wieder als Gegenüber zur kirchlichen Hierarchie.

Eine Besonderheit stellt das siebte Kapitel „Der endzeitliche Charakter der pilgernden Kirche und ihre Einheit mit der himmlischen Kirche“ dar. Dieser spät in die Konstitution eingefügte und redaktionell bearbeitete Text folgt insgesamt eher einer vom Leitbild des „Leibes Christi“ geprägten Ekklesiologie.400 Die in LG 9 erwähnte Analogie zwischen dem Volk Israel auf dem Weg durch die Wüste und der pilgernden Kirche findet hier keine Aufnahme.401 Die pilgernde Kirche führt mit dem Beistand des Geistes die Gläubigen durch die Zeit. Diese wird eher pessimistisch als Zeit der Anfechtung, Prüfung und der Heimatlosigkeit gedeutet und hält dazu an, „die Waffenrüstung Gottes“402 zu tragen. In der jetzigen Zeit ist die zukünftig erwartete Herrlichkeit in der Gottes- und Nächstenliebe bereits erfahrbar (LG 49). Die Kirche steht in Gemeinschaft mit den Heiligen. Zeichenhaft verbinden sich in der Liturgie die himmlische und irdische Dimension der Kirche (LG 50).

 

Anders als im siebten Kapitel wird das Bild des „wandernden Gottesvolkes“ im letzten Abschnitt des achten Kapitels über „Maria im Geheimnis Christi und seiner Kirche“ wieder aufgenommen (LG 68). Hier endet der eschatologische Ausblick auf die vollendete Gemeinschaft der Heiligen mit dem Bild des einen Gottesvolkes:

„Alle Christgläubigen mögen inständig zur Mutter Gottes und Mutter der Menschen flehen, dass sie […] in Gemeinschaft mit allen Heiligen bei ihrem Sohn Fürbitte einlege, bis alle Völkerfamilien, mögen sie den christlichen Ehrennamen tragen oder ihren Erlöser noch nicht kennen, in Friede und Eintracht glückselig zum einen Gottesvolk versammelt werden, zur Ehre der heiligsten und ungeteilten Dreifaltigkeit.“ (LG 69)

In der Übersicht lässt sich feststellen, dass der Terminus „Volk Gottes“ in der Kirchenkonstitution in dreifacher Weise gebraucht wird: 1. „Volk Gottes“ wird verwendet als heilsgeschichtlicher biblischer Begriff, der die Kontinuität von altem und neuem Bund zum Ausdruck bringt und die Kirche als pilgernde Gemeinschaft in der Zeit zwischen dem Christusereignis und Vollendung der Welt beschreibt.403 2. „Volk Gottes“ ist die Bezeichnung der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, zu der alle Christen, unabhängig von ihrem spezifischen Auftrag als Laie, Kleriker oder Ordensangehöriger gehören.404 3. Es findet sich an einigen Stellen der Konstitution die im Ausgangsschema vorhandene Bezeichnung „Volk (Gottes)“ für die Laien.405 In dem teilweise ungleichmäßigen Hervortreten der „Volk Gottes“-Bestimmung lassen sich noch die verschiedenen Bearbeitungsschichten und Bearbeiter der einzelnen Kapitel erkennen. Zudem ist der Text als Endresultat unter Zeitdruck und mit Rücksichtnahme auf möglichst viele unterschiedliche Wünsche, Anfragen und Verbesserungsvorschläge erstellt worden.

2.2.2 Das Verhältnis von „Sakrament“ und „Volk Gottes“ in der Kirchenkonstitution

Die Einführung des Sakramentsbegriffs in die Kirchenkonstitution geht zu guten Teilen auf die Initiative deutschsprachiger Bischöfe und die Zuarbeit durch Karl Rahner und Otto Semmelroth u.a. am sog. „Deutschen Schema“ zurück. Wie gesehen406, versteht sich die Rede von der Kirche als „Sakrament“ dort als theologische Leitidee der gesamten in der Kirchenkonstitution dargelegten Ekklesiologie und findet ihren Platz daher in der Einleitung (zweites Schema), bzw. in LG 1:

„Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet (vgl. Mk 16,15). Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit. Deshalb möchte sie das Thema der vorausgehenden Konzilien fortführen, ihr Wesen und ihre universale Sendung ihren Gläubigen und aller Welt eingehender erklären […].“ (LG 1)

Die Konstitution nimmt den Begriff „Sakrament“ an drei weiteren Stellen auf. Zum einen wird er in LG 9, zu Beginn des II. Kapitels erwähnt:

„Gott hat die Versammlung derer, die zu Christus als dem Urheber des Heils und dem Ursprung der Einheit und des Friedens glaubend aufschauen, als seine Kirche zusammengerufen und gestiftet, damit sie allen und jedem das sichtbare Sakrament dieser heilbringenden Einheit sei.“ (LG 9)

Zum anderen wird zu Beginn von Kapitel VII über den endzeitlichen Charakter der pilgernden Kirche die Bestimmung der Kirche als „allumfassendes Heilssakrament“ bekräftigt (LG 48) und in Kapitel VIII noch einmal aufgenommen (LG 59).

Um den Sakramentsbegriff hatte es im Laufe der Entstehung von LG verschiedene Auseinandersetzungen gegeben. So befürchteten zum einen die Vertreter der klassischen Schultheologie durch die Anwendung des Sakramentsbegriffs auf die Kirche einen Konflikt mit der Lehre des Trienter Konzils, das die Zahl der Sakramente auf sieben begrenzt hatte. Diese Vorbehalte haben dazu beigetragen, in LG 1 von der Kirche nur in analoger Weise als „Sakrament“ zu sprechen.407 Zum zweiten gibt es auch zwischen einzelnen Theologen der „neuen“ Schule durchaus Unterschiede in der Auslegung des Begriffs. Otto Semmelroth verwendet für die Kirche den Begriff „Ursakrament“ zur „Darstellung des Verhältnisses der erfahrbaren Kirche zu dem Heil, das uns Christus erworben und, um es uns immer neu zu schenken, mit der sichtbaren Kirche in eine bestimmte Verbindung gebracht hat.“408 Karl Rahner sieht im Begriff des „Ursakraments“ die Kirche als den geschichtlichen Ort, an dem das Geheimnis Gottes für die Menschen präsent wird. Die Kirche bezeichnet, was sie enthält, Gottes Heilswerk, die Selbstmitteilung Gottes und seine Annahme durch die Menschen.409 Das sog. „Deutsche Schema“ verwendet, wie gesehen, die zahlreichen biblischen Bilder für die Kirche als metaphorische Annäherungen, um die enge Verbindung Gottes mit seiner Kirche bei gleichzeitiger Nicht-Identität von Gott und Kirche, bzw. Reich Gottes und Kirche auszusagen.410 Die Kirche als Sakrament zeigt die Verbindung von irdischer Realität (als gesellschaftliche Größe, im liturgischen Dienst und der Lehre) und ihre innere gnadenhafte Dimension im Heiligen Geist.411 Sie ist somit in ihrer geschichtlichen Dimension Zeichen für das gnadenhafte Heilshandeln Gottes und zugleich Werkzeug, um sein Werk auf der Erde weiterzuführen.412

Der „Sakraments“-Begriff steht in enger Verbindung mit dem frühchristlichen „μυστήριον“ (Geheimnis). Hiermit ist, so Semmelroth413, das gemeint, was der Mensch aus eigener Erkenntniskraft nicht erfassen kann und ihm deswegen so lange geheimnishaft verborgen ist, bis es offenbar wird. Das Geheimnis Gottes bietet sich „in der Hülle menschlich erfahrbarer Wirklichkeit dar.“414 Die Ereignisse der Heilsgeschichte und in unüberbietbarer Weise das Christusgeschehen415 sind somit „μυστήριον“, geschichtliche Offenbarung und Manifestation des göttlichen Wirkens.416 Yves Congar versteht den Begriff in diesem heilsgeschichtlichen Sinn. So ist „μυστήριον“ für ihn in seiner ursprünglichen Bedeutung die geheime Entscheidung eines Königs, die er dem Volk gegenüber offenbar macht. In der Parallele hierzu wird der Begriff bezogen auf die Kirche zur Enthüllung des göttlichen Ratschlusses in der Geschichte.417 Mit Blick auf Kapitel I von „Lumen gentium“ wird man sagen können, dass sich das letztgenannte Grundverständnis von „Sakrament“ in der Kirchenkonstitution insgesamt durchgesetzt hat.418 Die Idee des „Ursakraments Kirche“ enthält die heilsgeschichtliche Dimension des „Mysteriums“, geht aber noch darüber hinaus. Sie verbindet das frühchristliche „Mysterium“ mit dem späteren gnadentheologischen Sakramentsverständnis und lässt somit Aussagen über das universale Gnadenhandeln Gottes auch jenseits der Kirche, die gestufte Zugehörigkeit zur Kirche und die Sakramente der Kirche zu.419 Das „Deutsche Schema“ leitet daher z.B. die Aussagen über die Mitgliedschaft in der Kirche vom „Heilszeichen“ Kirche ab.420 Im Suenens-Vorschlag zur Neuordnung des Stoffes der Kirchenkonstitution finden die diesbezüglichen Absätze (LG 14–16) in Kapitel II unter dem Leitwort „Volk Gottes“ ihren später endgültigen Platz. „Sakrament“ wird durch die vornehmliche Sichtweise als „μυστήριον / sacramentum“ in seiner Wirkung und Bedeutung abgeschwächt.

Wenn die Kirche ihrem Wesen nach also „Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ ist, muss dieses Grundverständnis in der gesamten Kirchenkonstitution zu finden sein.421 Das „Deutsche Schema“ hatte das sakramentale Verständnis der Kirche aus den biblischen Bildern gewonnen.422 Somit sollte es sich in den biblischen Bildern der Kirche auch wiederfinden. Es gilt zu untersuchen, wie weit dies auch in der Kirchenkonstitution selber der Fall ist. Otto Semmelroth sieht die folgenden wesentlichen Aussagen zum Sakrament durch das Konzil gegeben423: 1. Die Kirche als Sakrament ist eine irdische Wirklichkeit, in der „die göttliche Wirklichkeit und Wirksamkeit verborgen und zugleich bezeichnet ist.“424 2. Die Kirche ist „Mysterium“ Gottes, indem sie Teil der heilsgeschichtlichen Sendung ist und diese bekannt macht. 3. Die Kirche als Sakrament hat eschatologischen Charakter, da ihre äußere und geschichtliche Dimension mit Blick auf die Vollendung vorläufig ist. 4. Die Kirche hat als Sakrament die Aufgabe der Sichtbarmachung des göttlichen Heilswillens und ist daher missionarisch. 5. Zudem ist die Kirche in ihrer gesellschaftlichen Dimension Ausdruck der Sammlung der Menschen durch Gott425 und verweist 6. neben der gesellschaftlichen Dimension auf das geistgewirkte innere Leben der Gläubigen und die geistgewirkten Charismen, mit denen Christus sein Leben der Kirche mitteilt.426

Wendet man diese Kriterien auf die in „Lumen gentium“ am stärksten herausgestellten biblischen Bilder, „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ an, zeigt sich in ihnen die vom Konzil benannte sakramentale Struktur der Kirche klar:


Grundaussagen zur Sakramentalität der Kirche„Leib Christi“ in LG 7 und 8„Volk Gottes“ in LG 9–13
1. Kirche als Sakrament(Verbindung der gnadenhaften göttlichen Wirklichkeit der Kirche und ihrer realen äußeren Erscheinung)„Der einzige Mittler Christus hat seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst und trägt sie als solches unablässig; so gießt er durch sie Wahrheit und Gnade auf alle aus […] Deshalb ist sie [die Kirche] in„Von Christus als Gemeinschaft des Lebens, der Liebe und der Wahrheit gestiftet, wird es [das Volk Gottes]von ihm auch als Werkzeug der Erlösung angenommen und als Licht der Welt und Salz der Erde in alle Welt gesandt. […] Gott hat die Versammlung derer, die zu Christus
einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes.“ (LG 8)als dem Urheber des Heils und dem Ursprung der Einheit und des Friedens glaubend aufschauen, als seine Kirche zusammengerufen und gestiftet, damit sie allen und jedem das sichtbare Sakrament dieser heilbringenden Einheit sei“ (LG 9)
2. Heilsgeschichtliche SendungErlösungswerk Christi (LG 7)Verweis auf die apostolische Zeit (LG 8)Israel als atl. VorbildMenschwerdung, Reich Gottes-Verkündigung und Erlösungswerk Christi, Stiftung des neuen Bundes (LG 9)
3. Eschatologischer Charakter„Die Kirche ‚schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin‘ und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl. 1 Kor 11,26). Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um ihre Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar werden wird.“ (LG 8)„Wie aber schon das Israel dem Fleische nach auf seiner Wüstenwanderung Kirche Gottes genannt wird (2 Esr 13,1; vgl. Num 20,4; Dtn 23,1ff), so wird auch das neue Israel, das auf der Suche nach der kommenden und bleibenden Stadt (vgl. Hebr 13,14) in der gegenwärtigen Weltzeit einherzieht, Kirche Christi genannt (vgl. Mt 16,18).“ (LG 9)
4. Missionarischer Auftrag der Kirche„Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird. Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.“ Christus bedient sich des gesellschaftlichen Gefüges der Kirche zum stetigen Wachstum seines Leibes (LG 8).„Seine [des Volkes] Bestimmung endlich ist das Reich Gottes, das von Gott selbst auf Erden grundgelegt wurde, das sich weiter entfalten muss, bis es am Ende der Zeiten von ihm auch vollendet werde […] So ist denn dieses messianische Volk, obwohl es tatsächlich nicht alle Menschen umfasst und gar oft als kleine Herde erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils.“ (LG 9)„Zum neuen Gottesvolk werden alle Menschen gerufen. Darum muss dieses Volk eines […] bleiben und sich über die ganze Welt und durch alle Zeiten hin ausbreiten. (LG 13), s. auch LG 17
5. Gesellschaftliche Verfassung der Kirche„Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird“ (LG 8)So hat er sich aus Juden und Heiden ein Volk berufen, das nicht dem Fleische nach, sondern im Geiste zur Einheit zusammenwachsen und das neue Gottesvolk bilden sollte. Die an Christus glauben, werden nämlich […], schließlich gemacht zu „einem auserwählten Geschlecht, einem königlichen Priestertum …, einem heiligen Stamm, einem Volk der Erwerbung … Die einst ein Nicht-Volk waren, sind jetzt Gottes Volk“ (1 Petr 2,9–10).Gemeinsames und spezielles Priestertum als Ordnungsprinzip der gesellschaftlichen Seite der Kirche (LG 10 und 11)
6. Pneumatologische Dimension der Kirche; Charismen„Derselbe Heilige Geist heiligt außerdem nicht nur das Gottesvolk durch die Sakramente und die Dienstleistungen, er führt es nicht nur und bereichert es mit Tugenden, sondern „teilt den Einzelnen, wie er will“ (1 Kor 12,11), seine Gaben aus und verteilt unter den Gläubigen jeglichen Standes auch besondere Gnaden. Durch diese macht er sie geeignet und bereit, für die Erneuerung und den vollen Aufbau der Kirche verschiedene Werke und Dienste zu übernehmen gemäß dem Wort: „Jedem wird der Erweis des Geistes zum Nutzen gegeben“ (1 Kor 12,7). Solche Gnadengaben, ob sie nun von besonderer Leuchtkraft oder aber schlichter und allgemeiner verbreitet sind, müssen mit Dank und Trost angenommen werden, da sie den Nöten der Kirche besonders angepasst und nützlich sind.“ (LG 12)

Die Übersicht macht deutlich, dass sich auch bei der gegebenen Abschwächung des Begriffs „Sakrament“ grundsätzlich das im „Deutschen Schema“ gegebene Verhältnis der einen theologische Leitkategorie gegenüber der Vielzahl beschreibender und illustrierender biblischer Metaphern inhaltlich erhalten hat. „Volk Gottes“ wie auch „Leib Christi“ und andere biblische Bilder bleiben dem ekklesiologischen Leseschlüssel „Die Kirche ist gleichsam Sakrament“ untergeordnet.427 Allerdings wirkt „Sakrament“ durch die erwähnten Einschränkungen428 nicht so tonangebend wie dieser Begriff im „Deutschen Schema“ angelegt war. Zugleich erfährt der Begriff „Volk Gottes“ durch seine herausgehobene Stellung429 durchaus optisch wie inhaltlich eine Führungsrolle. Er verhält sich, um es vielleicht mit einem Vergleich auszudrücken, in der Art eines starken Regierungschefs mit umfangreichen Kompetenzen gegenüber einem zurückhaltend auftretenden, bzw. mit wenigen Kompetenzen ausgestatteten Staatsoberhaupt.

 

2.2.3 Anmerkungen zur Struktur von „Lumen gentium“

Für die spätere Rezeption der Kirchenkonstitution ist entscheidend, welche möglichen Lesarten der Text selbst dem Betrachter anbietet. Im vorherigen Kapitel 2.1.3 ist bereits auf mögliche Interpretationsansätze durch die Einführung und Struktur des Kapitels II hingewiesen worden. Hier soll in einem abschließenden Schritt auf die Gesamtkomposition von „Lumen gentium“ und der Rolle des „Volk Gottes“ in ihr geschaut werden.

Für einen Redaktor des Textes hatte das in eine Einheit zu bringende Textmaterial im Oktober 1963 in etwa so ausgesehen:

Teil 1 [Kap. I (allgemeines Kapitel über Wesen und Auftrag der Kirche)]

Teil 2 [die verschiedenen Glieder der Kirche: Kap II (allgemeine Grundlegung unter dem Leitwort „Volk Gottes“), Kap. III (Hierarchie), Kap IV (Laien), Kap. V (+VI) (allgemeine Heiligkeit und Ordensleute, evt. in zwei Kapitel zu teilen)]

Teil 3 [„Sondergut“: Kap VII430 (eschatologische Dimension der Kirche / Heiligenverehrung), Kap VIII (Maria)]

Ergebnis der Überarbeitung ist u.a. ein Abgleich mit den in Kapitel I und II dargelegten theologischen Leitgedanken über die Kirche, so dass sich inhaltliche Verbindungslinien ergeben.431 Der endgültige Text stellt sich in seiner Struktur verändert dar. Gerard Philips deutet die Struktur der Kirchenkonstitution wie folgt432:

Teil 1 – Lehre vom Geheimnis der Kirche in ihrer „transzendenten Dimension“ und ihrer „geschichtlichen Verwirklichung“ (Kapitel I und II)

Teil 2 – Die organische Struktur der Kirche (Kapitel III und IV)

Teil 3 – Finalität der Kirche: Heiligung der Menschen (Kapitel V und VI)

Teil 4 – Die eschatologische Herrlichkeit (Kapitel VII und VIII)

Die vorgeschlagene Gliederung enthält interessante Aspekte. Vor allem die Zusammenfassung von Kapitel V und VI zu einem eigenen Teil überrascht. Philips nimmt hier das in LG 1 genannte Ziel des Heilswillens Gottes, „die Heiligung der ganzen Menschheit“, zur Überschrift eines eigenen Teils und sieht das Ordensleben nicht als eigenen „Stand“ in der Kirche, sondern als Ableitung bzw. besondere Variante dieser allgemeinen Berufung zur Heiligkeit.433 Diese Sichtweise ist mit Blick auf den Text aber nur teilweise gerechtfertigt. Zum einen verweist Kapitel V gerade nicht auf den allgemeinen Heilswillen Gottes für die Welt, sondern spricht nur von den Mitgliedern der Kirche. Zudem beginnt das Kapitel mit Ausführungen zur Heiligkeit der Kirche (LG 39) und rückt es damit in die Nähe etwa der Aussagen zur Einheit und Katholizität der Kirche in LG 13. Insgesamt ist die Verwandtschaft des Kapitels V zu Kapitel II deutlich, da es Allgemeines über den Auftrag und das Leben der Kirche als solcher und aller ihrer Mitglieder aussagt. Ähnlich wie in LG 10 oder LG 17 wird in LG 41 das Zusammenwirken von geweihten Amtsträgern und Laien beschrieben. Man wird im Sinne einer großen Zahl von Konzilsvätern die enge inhaltliche Zusammengehörigkeit von Kapitel II und V betonen müssen. Kapitel VI handelt somit, wenn auch vielleicht nicht von einem eigenen „Stand“, von einer bestimmten Personengruppe innerhalb der Kirche und ist damit in seinem „sujet“ ähnlich konzipiert wie Kapitel III und IV. Wenn also Kapitel II und V Allgemeines über den Aufbau, das Wesen und den Auftrag der konkreten Kirche und ihrer Mitglieder aussagen, gelten diese Aussagen ebenso für die Ordensleute. Klerus, Laien und Ordensleute sind dann spezifische Ausdrucksformen der einen Würde und Sendung aller Glieder der Kirche.