Volk Gottes

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I. Hauptteil: „Volk Gottes“ als zentraler Begriff im Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils

1. Der „Volk Gottes“-Begriff im ekklesiologischen Aufbruch des 20. Jahrhunderts

1.1 Mannes Koster: „Ekklesiologie im Werden“

Es gehört zur Aufgabe der Theologie, „dass sie dort Wege zeigt, wo noch keiner sie sieht, und sie dort sieht, wo noch keiner sie geht“6. Mit diesen Worten würdigen Hans-Dieter Langer und Otto Hermann Pesch die theologische Streitschrift „Ekklesiologie im Werden“, die Mannes Dominikus Koster, Dozent für systematische Theologie an der Dominikanerhochschule in Walberberg7, im Jahr 1940 herausgegeben hatte. In ihr verdeutliche sich, so Langer und Pesch, jene Problematik, „welche sich historisch einmal mit dem Emporkommen und der geistigen Kraftentfaltung eines Verständnisses von ‚Volk Gottes‘ verband […]“8. Dieser 1971 aus der Rückschau geschriebene Satz zeigt die zwischenzeitlich eingetretene theologische Wende an. Während „Volk Gottes“ als Kern- oder Leitbegriff einer zeitgemäßen Ekklesiologie bereits wenige Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil voll etabliert war, hatte sich Koster für diese Etablierung aus der Position des Außenseiters heraus eingesetzt. Zum besseren Verständnis seines Beitrages ist ein Blick in den Kontext, die theologische Debatte um Katholizität und Kirche zum Zeitpunkt des Erscheinens von „Ekklesiologie im Werden“ hilfreich.

1.1.1 Kosters Schrift im Kontext ihrer Zeit

Das Lebensgefühl und Denken, das die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bestimmt, hat Erich Przywara durch fünf grundlegende Bewegungen gekennzeichnet: 1. vom Subjekt zum Objekt, 2. vom Individuum zur Gemeinschaft, 3. vom reinen Denken zur Natur, 4. von der Kultur zur Religion, 5. von der Innerlichkeit zur Kirche.9 Gegen das als blutleer empfundene Erbe der späten Aufklärung, ihrer Konzentration auf das denkende Individuum und die Begeisterung für den technischen Fortschritt, setzt die junge Generation ein neues Gemeinschaftsgefühl.10 Besonders die philosophische Kategorie des „Lebens“ wird, ausgelöst von der Rezeption Nietzsches, begeistert aufgenommen. „Leben“ artikuliert die Sehnsucht nach dem organischen und lebendigen Zusammenhang der Wirklichkeit.11 In der seit den zwanziger Jahren aufkommenden Jugendbewegung verbindet sich dieser Gedanke mit dem Bedürfnis nach gemeinschaftlichem, häufig pantheistisch-religiösem, schwärmerischem Erleben der Natur.12 Die Phänomenologie als neu aufkommende philosophische Schule stellt das Individuum dem Objektiven, allzeit Wahren und Verbindlichen, zugleich Transzendenten und Geheimnishaften gegenüber.13 Ein Interesse an der Mystik, am Empfinden, an der Teilhabe am Lebensvollzug durch eigenes Erleben erwacht. Demgegenüber erscheinen die abstrakte Theorie, die rationale Begrifflichkeit, wie auch alle äußere Organisation als Widerspruch gegen das Geheimnishafte, Unaussprechliche und Allumfassende des Lebensprinzips.14

Kirchlich findet dieses Grundgefühl der Zeit in verschiedenen Bewegungen dankbare Aufnahme.15 Es kommt in der katholischen Kirche zu einer religiösen Erneuerungsbewegung. Die katholische Jugendbewegung bietet einer „verstörten Generation“16 seelische Heimat und Halt in der Kirche und antwortet so auf die Sehnsucht nach Geborgenheit und neuer Gemeinschaft.17 Die Kirche, vormals vornehmlich als äußere Organisation wahrgenommen, soll sich in neuer Gemeinschaft und mit Rückbesinnung auf die Mystik erneuern.18 Die liturgische Bewegung wendet sich den antiken und frühchristlichen Quellen zu und betont den Aspekt des Kultischen als Grundvollzug religiösen Lebens neu. Die Teilnahme am Mysterium Christi in der Liturgie wird als Teilhabe am göttlichen Leben und Eingliederung in die göttlich-menschliche Lebensgemeinschaft erfahren.19 Sakramente, vor allem die Eucharistie, werden als „Mysterien“ gefeiert, in denen sich diese Teilhabe in sichtbaren Zeichen ausdrückt.20 Neben der eher binnenkirchlich orientierten Liturgischen Bewegung fällt in die 1920er und 1930er Jahre auch die Hochzeit der katholischen Aktion in Italien und Frankreich, welche die Frage des Laienapostolats und des Heiligungsdienstes der Gläubigen neu belebt.21

In diesem Klima kommt es zu einer vertieften theologischen Reflexion über das Wesen und den Auftrag der Kirche. Jenseits von Apologetik und der als einschränkend empfundenen Theologie der Neuscholastik22 suchen Seelsorger, Philosophen und Theologen nach neuen Ausdrucksformen, um die Realität der Kirche zeitgemäß zu beschreiben und neu zugänglich zu machen.23 Die Schlagworte „Leben“, „Organismus“, „Mystik“ und „Gemeinschaft“ finden dabei besondere Berücksichtigung. 1925 erscheint als zweiter Band der „Deutschen Klassiker der katholischen Theologie aus neuerer Zeit“ eine Neuauflage von Johann Adam Möhlers „Die Einheit in der Kirche“ von 1825.24 Gemeinsam mit Matthias Scheebens „Mysterien des Christentums“, dem ersten Band der Reihe, bildet dieses Werk die Referenzgröße für die aktuelle theologische Diskussion.25 Möhlers von Romantik und Idealismus beeinflusstes Frühwerk sah im Zusammenschluss der Gläubigen das Wirken des Geistes, durch das sich das „strömende göttliche Leben“ in der Kirche immer wieder neu entwickelt.26 Durch den Geist entstehen das liebende Zusammenwirken der Gläubigen und die fortwährende Lebensgemeinschaft mit Christus, die nicht zuerst individuell, sondern im Gesamt der Kirche als Gemeinschaft sichtbar werden. Alles Äußerliche der Kirche, ihre Ordnung, Hierarchie und Lehre, wird erst durch das innerliche Leben im Geist hervorgebracht.27 Scheebens Werk geht von der Inkarnation als zentralem Mysterium der Heilgeschichte aus. Die gott-menschliche Dimension Christi ist Bild für die mystisch übernatürlich belebte und sichtbar verfasste Kirche. Sie erhält ihren deutlichsten Ausdruck in der Eucharistie.28

Das Bild einer geistgeleiteten, vom inneren Leben erfüllten Kirche, die ihr wahres, geheimnishaftes Wesen immer zugleich preisgibt und verhüllt, trifft den Nerv der Zeit. In immer neuen Variationen durchströmt und „durchpulst“29 das göttliche Leben in den theologischen Schriften der zwanziger und dreißiger Jahre den großen göttlich-menschlichen Organismus, als der die Kirche gesehen wird.30 Als zentraler Begriff der neuen Sicht auf die Kirche etabliert sich das an Paulus angelehnte Bild des „corpus Christi mysticum“, des „mystischen Leibes Christi“.31 Mit diesem Begriff findet eine ganze Generation von Theologen und Seelsorgern ihr ekklesiologisches Paradigma.32 Zugleich stellt er sie vor eine Herausforderung: Wie lassen sich im Bild des Leibes Innen und Außen, Leben und Lebensäußerungen, ideale und reale Kirche in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander bringen?33

In den Gegensatzpaaren von Organismus und Organisation, wie auch Gemeinschaft und Gesellschaft,34 wird das innere, geheimnisvolle Wesen der Kirche im Gegensatz zu ihrer äußeren Dimension diskutiert und präferiert. Dies geht so weit, dass beispielsweise der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler aus phänomenologischem Blickwinkel alle geschichtlich-realen Verkörperungen, insbesondere die Dogmen oder die Leitung der Kirche durch den Papst, als Fehlformen und als Verletzungen eines universalen, lebendigen und idealen Katholizismus brandmarkt, sofern sie mehr sein wollen als zeitbedingte und damit veränderbare Ausdrücke des inneren Prinzips.35 Dieser institutionskritische Ansatz zugunsten einer wahren, inneren Kirche findet 1937 in einer von Gustav Mensching herausgegebenen, anonym verfassten Schrift über das „Stirb und Werde“ des Katholizismus seine Fortsetzung.36 Hier wird die Forderung nach einem Neuaufbruch im Geist der urchristlichen, charismatischen Kirche artikuliert.37 Auf der Seite der Jugendbewegung, wie auch der Liturgischen Bewegung, droht die Begeisterung für die kirchliche Gemeinschaft und die Liturgie zuweilen in eine reine Innerlichkeit abzugleiten und die Grenzen zwischen Göttlichem und Menschlichem sowie zwischen Gemeinschaft und Individuum zu verwischen. Die äußere Seite der Kirche in Lehre, Recht und Hierarchie wird im frommen Überschwang kaum mehr beachtet.38

Die geschilderten Entwicklungen fordern die akademische Theologie heraus. Karl Adams 1924 erschienenes Buch „Das Wesen des Katholizismus“ ist ein Manifest der kirchlichen „Leib Christi“-Ekklesiologie und wird ein internationaler Bestseller.39 Adam nimmt die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Hinwendung zur „strotzenden Lebenskraft, dieser ewigen Jugend der alten, uralten Kirche“40 auf und kennzeichnet sie im Anschluss an Möhler und Scheeben als Auswirkung Christi „gottmenschlichen Wesens in der Geschichte“41. Dabei verteidigt er die hierarchische Struktur der Kirche, die sich von ihrem Haupt und den Aposteln her aufbaut.42

Mannes Kosters Lehrer, der Bonner Theologieprofessor Arnold Rademacher, reflektiert in seinem ekklesiologischen Ansatz, der vom organologischen Denken geprägt ist, die gemeinschaftliche und gesellschaftliche Dimension der Kirche.43 Ähnlich wie Möhler erkennt Rademacher in der gesellschaftlichen Dimension einen notwendigen Ausdruck des inneren Lebens. Organismus und Organisation verhalten sich zueinander wie Wesen und Erscheinung.44 In Analogie zur hypostatischen Union von Gottheit und Menschheit Christi ist die Kirche als Leib Christi der „fortlebende Christus“.45 Die irdische Erscheinung der Kirche verweist auf das Geheimnis der Gottheit, verhüllt es aber zugleich auch.46

 

Joseph Ternus wendet sich gegen die übergroße Bedeutung des Begriffs „mystischer Leib Christi“ und bestreitet die Möglichkeit einer angemessenen Wesensaussage über die Kirche.47 „Leib Christi“ ist für ihn ein guter Begriff zur Bezeichnung der innerlichen Seite der Kirche.48 Zugleich warnt Ternus vor „überspannten Ganzheitsspekulationen“49 und wendet sich gegen die in der Jugendbewegung vorkommenden Vorstellungen von der Kirche als „Kollektivperson“50.

Im Jahr 1940, in dem Kosters Schrift „Ekklesiologie im Werden“ erscheint, zeigt sich die ganze Bandbreite der ekklesiologischen Diskussion. Sie ist gekennzeichnet von der Suche nach einer „tiefen und ganzen Theologie“51, die durch die neuere Erforschung von Schrift, Vätertheologie und Scholastik bereichert wird.52

Zum einen sorgt die Schrift „Der Christ als Christus“ des Priesters Karl Pelz für Diskussionen. In ihr wird die Differenz zwischen Christus und den Gläubigen aufgehoben, so dass beide eine einzige mystische Person bilden.53 Zum anderen erscheint unter dem Titel „Der Katholizismus der Zukunft“ eine anonyme Schrift, die in der Tradition Heilers eine reine Geistkirche gegen jede geschichtlich kontingente Form des äußeren Ausdrucks der Kirche propagiert.54

Gegen eine solche gewagte, modische Verwendung des „Leib Christi“-Begriffs stellt Ludwig Deimel 1940 eine sachliche Kritik. Er führt das Bild des „Leibes“ auf seine ursprüngliche biblische Bedeutung zurück und bestreitet mit Blick auf die in Schrift und Tradition enthaltenen vielfältigen Ausdrücke für die Kirche dessen Monopolstellung.55 Ebenso kritisiert er den aus seiner Sicht unbiblischen Zusatz „mystisch“ als missverständlich56 und weist auf die Notwendigkeit des analogen Gebrauches biblischer Bilder hin.57 Deimel befürchtet eine Engführung der Kirche auf „Motive zum persönlichen Heiligungsstreben“, die „sakramentale Welt“ und das „liturgische Tun“.58 Die Kirche ist notwendig gesellschaftlich verfasst und durch Charismen und Hierarchie gegliedert.59 Ist „Leib Christi“ auch ein wichtiger Begriff zur Beschreibung der Kirche, weil er den Zusammenhang von innerem und äußerem Leben verdeutlicht, bedarf er doch der Ergänzung durch die Bilder der „Braut Christi“, die das Gegenüber von Christus und Kirche zum Ausdruck bringt60, sowie der „Familie Gottes“ als Kennzeichen der sozialen Realität der Kirche.61

Yves Congar veröffentlicht im 1940 erschienenen Sammelband „Die Kirche Christi“62 einen heilsgeschichtlich orientierten ekklesiologischen Entwurf. Im Anschluss an das Vorbild des „Volkes Gottes“ des Alten Bundes begründet Christus als neuer Adam das „neue Volk Gottes“, indem er den Gläubigen die Teilnahme an der Lebensgemeinschaft mit Gott neu ermöglicht.63 Hieraus entsteht die Kirche als „mystischer Leib Christi“, in dem das „pneumatische Leben“ in Christus seinen angemessenen Ausdruck findet.64 Es kann für Congar keine Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche geben. Die Kirche ist wesenhaft „sakramental“65 und verbindet so das innerlich-gemeinschaftliche und äußerlich-gesellschaftliche Leben der Kirche zu einer einzigen komplexen Wirklichkeit.66

Erich Przywara legt im gleichen Jahr eine Übersicht über die umfangreichen Veröffentlichungen vor, die das „Corpus Christi Mysticum“ behandeln. In seiner Bilanz hebt auch er die Notwendigkeit der Überwindung des Dualismus’ von Innen und Außen, Transzendenz und Immanenz in der Betrachtung der Kirche als „Leib Christi“ hervor und sieht die Gefahr einer pneumatischen Verengung.67 Die Kirche ist für Przywara „werkzeugliche Repräsentation und repräsentierende Werkzeuglichkeit“68 Gottes. Der unendliche Abstand zwischen Gott und der Kirche bewirkt, dass sich die Kirche nicht anders zu Gott verhalten kann als die menschliche Natur Christi zu ihrer göttlichen. Sie dient Gott dazu, durch die Sendung der Gläubigen in die Welt hinein zu wirken.69 Für diesen Dienst bildet die Kirche ihre innerweltliche Wirkweise in Leben und Dienst der Gläubigen, in Lehre, Amt und Rechtsordnung aus.70 Bei Przywara kündigt sich so die kommende Bedeutung des Begriffs „Sakrament“ an, ein Begriff, der für ihn in der Lage ist, eine Synthese zwischen der unsichtbar-gnadenhaften Seite der Kirche und ihrer sichtbargesellschaftlichen Dimension zu schaffen. Dabei bedient sich Przywara der Analogie des inkarnatorischen Geschehens und der beiden Naturen Christi.71

Die hier nur kurz vorgestellten Entwürfe des Jahres 1940 geben einen Eindruck in das geistige Umfeld, in dem Kosters Beitrag zu verorten ist. Im Zuge des Ringens um einen Neuansatz der systematischen Ekklesiologie versteht er seine Schrift „Ekklesiologie im Werden“ als einen Diskussionsbeitrag zur aktuellen Debatte.72 So findet sich bei ihm neben der kritischen Bewertung der zeitgenössischen Theologie des „corpus Christi mysticum“ ein eigenständiger und origineller Ansatz durch die Einführung eines neuen ekklesiologischen Zentralbegriffes, nämlich „Volk Gottes“.73

1.1.2 „Ekklesiologie im Werden“

Kosters Werk „Ekklesiologie im Werden“ versucht, einen neuen Weg zu einer systematischen Ekklesiologie zu bahnen. Dies ist laut Koster notwendig um den Status einer „vortheologischen Kenntnis der Kirche“74 zu überwinden, die er in den zahlreichen seelsorglich und geistlich motivierten Aktivitäten und Schriften etwa der Jugendbewegung, wie auch der Liturgischen Bewegung vorfindet. Die Ekklesiologie, zeitgenössisch als Sehnsucht zu einem umfassenderen Begriff und einer tieferen Erkenntnis der Kirche zu verstehen, ist, so Koster, derzeit im „Werden“ (154f). Die von Koster als Vorstadien zu einer theologischen Neubestimmung gekennzeichneten geschichtlichen Entwicklungen sind seiner Ansicht nach auf drei wesentliche Begriffe zurückzuführen, die dem jeweils zeitgemäßen Verständnis der Kirche dienen sollen: die Kirche „in ihrer Rechtsordnung“, wie sie in der neuscholastischen, apologetischen Ekklesiologie zu finden ist, die Kirche als „Leib Christi“ und als „Kultgemeinschaft“(12). Mit diesen Begriffen verbinden sich für Koster bestimmte Vorstellungen. Hinter der Kirche in der Rechtsordnung verbirgt sich der Begriff des „Volkes Gottes“, hinter „Leib Christi“ die Idee des „Organismus“, welche jedoch den zumeist im Verbund mit der „Leib Christ“-Theologie anzutreffenden „verhüllten Solidarismus“ nur scheinbar verdeckt (12). Damit verbunden steht hinter der „Kultgemeinschaft“ ein „liturgischer Solidarismus“ (13). Auf der Suche nach einem umfassenden theologischen Begriff der Kirche habe die Theologie bisher, so Kosters Kritik, zumeist oder sogar ausschließlich auf den „Leib Christi“-Begriff zurückgegriffen. Er sieht hierin eine fälschliche Ineinssetzung einer vortheologischen Vorstellung der Kirche mit dem Begriff, der theologischen Definition der Kirche in ihrer Gesamtheit (14). Von dort aus stellt Koster der Theologie seiner Zeit ein schlechtes Zeugnis aus: „Die Ekklesiologie unserer Tage befindet sich noch im vortheologischen Zustand“ (15).75 Sie wählt einen Teil der kirchlichen Glaubensanschauung, des Glaubensschatzes, zur Bestimmung der Kirche als Ganze aus (18).76 Diese Entwicklung hat laut Koster ihren Ursprung in der vornehmlich apologetisch geprägten Ausrichtung früherer Ekklesiologien. Die Kirche wird gegen ihre Kritiker in Schutz genommen und Einzelaspekte besonders betont (24f, 26f). Ziel einer theologischen Neubestimmung wäre jedoch die Erfassung der Totalität der Kirche aus dem Gesamt des Glaubensschatzes (16), sprich, die Suche nach einem Begriff, der das Gesamt der kirchlichen Wirklichkeit angemessen und umfassend wiedergeben könnte (18, 31). Diese Suche liegt, so Koster, angesichts des fortschreitenden Bedürfnisses aller Teile der Kirche zur Bewusstwerdung ihrer selbst gewissermaßen in der Luft (85, 89). Wie also lässt sich der „Gemeinschaftscharakter“ der Kirche theologisch umfassend bestimmen? Wie kann die Kirche als eine „konkrete, wirkliche, im Diesseits stehende und doch nicht in ihm beheimatete Gemeinschaft“ (25f) begriffen und verstanden werden? Vorarbeiten hierzu möchte Koster in seiner Schrift leisten (22, 153).

Zunächst widmet sich der Autor dabei der Analyse bestehender ekklesiologischer Ansätze. Er konstatiert eine nach dem 1. Weltkrieg vollzogene Entwicklung der Ekklesiologie, die sich von der apologetischen in eine vortheologische Richtung weiterentwickelt habe (26). Kennzeichen dafür ist zum einen die Neufassung des Kirchenrechts, in der eher der „Leitungskörper“ der Kirche seinen Ausdruck findet, zum anderen die Bestimmungen der Kirche als „Leib Christi“ und „Kultgemeinschaft“, die dem „Glaubenskörper“ der Kirche zuzurechnen sind (27, 30).

Die Rechtsordnung ist Ausdruck der konkreten kirchlichen Gemeinschaft. Sie ist das „Volk Gottes in seiner eigenen Ordnung“ (29) und verbindet menschliches und göttliches Tun in der positiven Setzung von Regelungen und Gesetzen. In der laut Koster häufig zu wenig wahrgenommenen Bedeutung des Kirchenrechts zeigt sich in besonderer Weise der „Volk Gottes“-Charakter der Kirche, da sich aus ihm die sichtbare Gemeinschaft der Gläubigen ihre Gestalt gibt (28ff.).

Deutliche Kritik übt Koster an der zeitgenössischen Leitmetapher des „Leibes Christi“, die häufig als Wesensbestimmung der Kirche angesehen wird. Vehement bestreitet er, dass von diesem Begriff aus eine wirkliche theologische Darlegung der Kirche erfolgen kann, „weil das der Ökonomie der Verkündigung von der Kirche, die nicht so einseitig auf ‚Leib Christi‘ begrenzt ist, wie man das in der Gegenwart wahrhaben will entgegen ist, und weil auch ‚Leib Christi‘ nicht die Sinngebung besitzt, die man unter dem eigenartigen Einfluss des Hl. Augustinus dieser Metapher zuschreibt“ (31f). Konkret bemängelt Koster, dass die übermäßige Konzentration auf den „Leib Christi“-Begriff zu einem Dualismus führt, in dem die mystische und die sichtbar-juridische Seite der Kirche unverbunden nebeneinander stehen (32).77 Es gilt daher, einen Begriff der Kirche zu finden, der „ihre Wesensgestalt in ihrem Ungeteiltsein umfasst und aus dem sich theologisch einwandfrei ableiten lässt, was immer der Kirche nach den Angaben des kirchlichen Lehrzeugnisses eigentümlich ist“ (34). So gleitet die Rede vom „Leib Christi“ in der zeitgenössischen Theologie Kosters Meinung nach zu stark in die Betonung der mystischen und damit übernatürlich-geheimnisvollen Seite ab und vernachlässige die simple Tatsache, dass ein Leib immer auch natürlich, d.h. konkret ist (35). Koster stellt mit Verweis auf die kirchliche, theologische wie liturgische Tradition heraus, dass diese in Bezug auf die Kirche ein weites und vielfältiges Verständnis entwickelt hat. So wird die Kirche in den Orationen des Messbuchs beispielsweise über fünfzigmal als „populus“ tituliert (37). Eine einseitige Aufnahme lediglich des „Leib Christi“-Begriffes ist für Koster von der Tradition her nicht zu rechtfertigen (38).

Ursächlich für das dominante Auftreten des Begriffes und dessen nach Kosters Ansicht einseitigen Interpretation ist das Kirchenverständnis Augustins (38f, 62).78 Während Paulus die Kirche als „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ nie getrennt von ihrer konkreten sozialen Gestalt versteht, bezieht Augustinus Koster zufolge „Leib Christi“ auf die Welt als Ganze in ihrer Bezogenheit auf Christus (39f). Weniger auf die Kirche als auf Christus ausgerichtet, wird hier die objektiv-hinreichende und subjektiv-wirksame Erlösung der „uneigentlichen Kirche“ (42), also der ganzen Menschheit beschrieben (40). Diese ist in der Menschwerdung bereits hypostatisch angenommen (56). Augustinus selbst ist in seiner Deutung, so Kosters Vermutung, von der Prädestinationslehre ausgegangen, die die gnadenhafte Erwählung des Einzelnen in den Vordergrund stellt (49). Die Kirche leitet sich somit von der Erwählung des Einzelnen im gesamten Menschengeschlecht her, was zur Vernachlässigung der notwendigen biblisch geforderten Eingliederung in das Gesamt des „Volkes Gottes“ führt (50f).79 Dem platonischen Denken folgend interessiert sich Augustinus zudem eher für die unsichtbare, heilige Dimension der Kirche und weniger für ihre konkrete Gestalt. Die Kirche wird damit zum „unsichtbaren Leib Christi“ (57). Die Lehre vom „Leib Christi“ ist bei Augustinus somit eher Teil der Christologie (40f). In dem Maße, in dem sich spätere Theologen in der Betrachtung der Kirche auf Augustinus’ Lehre vom „Leib Christi“ beziehen, entsteht ein von Koster kritisch angemahnter Dualismus: So setzt sich die Kirche aus den „sittlich heiligen Einzelpersonen des Menschengeschlechtes“ zusammen, wohingegen die Gemeinschaft der Glieder untereinander durch die Unterordnung unter die kirchliche Hierarchie und die gegenseitige Nächstenliebe entsteht. Hier handelt es sich weniger um eine wirkliche Gemeinschaft, sondern um „bloß in Ordnung sich vollziehende ‚Solidarität‘“ (44), in Augustins Verständnis um eine „personalistische Gnadenkirche“ der Erwählten (57f). Die Taufe ist bei Augustinus eher ein äußeres Merkmal der Zugehörigkeit. Entscheidender für die Konstitution des „Volkes Gottes“ sind die individuelle Erwählung und die gegenseitige Liebe. Das Volk ist die Gemeinschaft der „Guten“ in der Kirche und somit als Begriff dem „Leib Christi“ untergeordnet (59). Die unsichtbar durch die Liebe geeinte Gemeinschaft der Gläubigen bildet die „heilige Kirche“, während das „Volk Gottes“ als bloße äußerliche Gemeinschaft der Getauften von Augustinus eher herablassend betrachtet wird (60). Das Verhältnis von ideeller und sichtbar-empirischer Seite der Kirche bleibt bei Augustinus ungeklärt (63).

 

Thomas von Aquin hat, so Koster, die eigentlichen ekklesiologischen Implikationen Augustins richtig interpretiert und den sakramentalen Charakter der Kirche als objektives heiligendes Prinzip wie auch die hierarchische Gliederung der Kirche stärker herausgestellt (45). Die Kirche kann paulinisch vom Priestertum Christi und der sakramentalen Teilhabe der Glieder an diesem Priestertum gedacht werden. Von hier aus konstituiert sie sich (46f). Indem vor allem die Sakramentalität als Grundvoraussetzung für die Gemeinschaft der Kirche in der nachtridentinischen Entwicklung vernachlässigt wird, halten ein „ungerechtfertigter, einseitiger Heilspersonalismus“ (45) und ein daraus folgender „ekklesiologischer Solidarismus“ Einzug in die Lehre von der Kirche (47).

Nach biblischer Lehre, so Koster weiter, werden die Menschen durch Taufe und Eucharistie in das „Volk Gottes“ eingegliedert und in einer Gemeinschaft zusammengeführt. „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ sind bei Paulus identisch (51). Bei Augustinus kommt es daher nicht zur Unterscheidung von Eingliederung des Einzelnen in das Volk durch den sakramentalen Charakter und gnadenhafte Zugehörigkeit zu Christus (51). Hier ist für Koster der Schlüssel zu einer „wahren Ekklesiologie“ zu finden. Subjekt der Erlösung ist im biblischen Sinne weniger der einzelne Mensch, als vielmehr das Heilskollektiv (52). Dabei ist nicht die Summe der individuell Erwählten entscheidend. Vielmehr geht es um den „Leib Christi“ als Kollektivperson, das durch „die sakramentalen Charaktere begründete und durch sie gestufte und gegliederte Personenganze oder Heilskollektiv, insofern es sich nach den Weisungen des Stellvertreters Christi leiten lässt“ (54). Ohne die individuelle Heilsnotwendigkeit zu leugnen, wird es, so Koster, in Zukunft darum gehen, gemeinschaftliches und persönliches Heil zusammen zu betrachten und einzusehen, dass die diesseitige gemeinschaftliche Dimension als „Werkzeug und Mittel“ zur Erlangung des persönlichen Heils dienen soll (55f). Zudem sollte, Kosters Ansicht nach, die einseitige Rede vom nur persönlichen Heil korrigiert werden (56). Paulus bringt die verschiedenen Dimension der Kirche zur Sprache, wenn er von dem einen Leib spricht, der aus der Taufe gebildet und mit Dienstämtern versehen ist, dem einen Leib der aus der Eucharistie heraus entsteht, dem einen Leib, der aus der Sendung des Geistes Christi gebildet wird und dem Leib, der sich durch die Nächstenliebe unter dem Haupt Christi bildet. Diese Weite bringt für Koster die volle Bedeutung des Begriffes eher zum Ausdruck, als dessen einseitige Betrachtung bei Augustinus. Thomas von Aquin zeigt diese Mehrdimensionalität auf (64ff).

Koster wendet sich dann dem dritten ekklesiologischen Paradigma, der Kirche als Kultgemeinschaft zu. Das Grundproblem des Dualismus von sichtbarer (Gesellschaft) und unsichtbarer Heilsgemeinschaft wird auch mit diesem Verständnis noch nicht überwunden (67). Gleichzeitig weist das Verständnis des Kultes als gemeinschaftlichem Werk der Kirche bereits in die richtige Richtung (68f). Kritisch merkt Koster jedoch an, dass mit dem meist liturgisch verstandenen Kult immer nur ein Teil des Lebens der Kirche beschrieben wird. Wie lassen sich liturgischer und außerliturgischer Kult zusammendenken (69)? Hierbei ist besonders der sakramentale „Charakter“ der Laien, etwa als Gefirmte oder Eheleute zu bedenken. Es geht um ein tätiges christliches Handeln, das nicht auf seine liturgische Dimension verkürzt werden darf (70). Aber auch in Bezug auf die Liturgie ist das richtige Verhältnis zwischen dem Tun der Priester und dem der Laien nicht eindeutig zu bestimmen. Wenn, wie Koster mit Verweis auf Odo Casel darstellt, Priester und Laien gemeinsam am sakramentalen Handeln in der Feier der Heiligen Messe teilhaben sollen, ist diese Äußerung lehramtlich nicht gedeckt (71). Koster weist darauf hin, dass die Konsekration den Priestern vorbehalten bleibt, die damit als Glieder des ganzen Leibes eine spezifische Aufgabe für das Kollektiv übernehmen. Zugleich weist Koster die Vorstellung zurück, nach der eine Handlung der Kirche, in diesem Fall der Konsekration der Gaben in der Heiligen Messe, als gleichzeitige Tätigkeit aller Glieder zu verstehen ist (74). In der Vorstellung von „Kultgemeinschaft“ wirkt für ihn die alte, auch von der Liturgischen Bewegung kritisierte Sichtweise der subjektivistischen Heilszugehörigkeit nach (73, 76). Bei Casel und anderen Vertretern dieser Richtung sieht Koster statt einer wirklichen Gemeinschaft einen „liturgischen Solidarismus“ entstehen (81). In ihm ist der Einzelne als Eigen-, nicht aber als „Gliedperson“ des gesamten Leibes der Kirche bedacht. Damit steht diese theologische Richtung der Liturgischen Bewegung der „Leib-Christi“-Ekklesiologie nahe (81).80 Koster dagegen unterscheidet die sakramental eingeprägten Charaktere (Gefirmte, Diakone, Priester, Bischöfe) in ihrer jeweiligen Rolle für das Gesamt der Kirche (75). Sie stellen in gestufter und geteilter Form das ganze Priestertum Christi dar (79). Das Priestertum ist also als „gemeinschaftsmäßiges“ in der Kirche ausgeprägt. Die einzelnen gehören als „Gliedpersonen“ und nicht als Einzelpersonen der Gemeinschaft der Kirche an (79, 81).

Von dieser Analyse der zeitgenössischen theologischen Strömungen aus entwickelt Koster seinen Ansatz, der dem Gesamt der kirchlichen Lehrverkündigung besser entsprechen soll (82, 99). Dabei vergewissert er sich, gegen eine allzu sehr vom seelsorglichen Impetus getragene Darlegung mancher seiner Zeitgenossen (98f), zunächst seiner eigenen Rolle als Theologe, der mit dem eigenen Glaubenssinn nach größtmöglicher Objektivität und Übereinstimmung mit dem Lehramt zu suchen hat (88f). Ihm geht es um die Systematisierung und wissenschaftliche Durchdringung seines Stoffes. Im Lebensgefühl der zeitgenössischen Christen, so Koster, liegt es nicht, in einem entpersonalisierten Ganzen aufzugehen, wie die überschwängliche Rede vom „Leib Christi“ zuweilen vorgibt. Vielmehr sucht der Gläubige nach seinem Platz in der Kirche, in die er als Glied- und Eigenperson aufgenommen ist (92f). Koster möchte dabei zum einen der aus der Kanonistik entlehnten Einsicht folgen, die Mitgliedschaft in der Kirche nicht von der Gnade, sondern vom sakramentalen Charakter der Einzelnen her zu definieren (92f). Zum anderen sucht er nach Wegen, die gestufte Zugehörigkeit auch der Nichtkatholiken zur Kirche in seine Gesamtsicht zu integrieren. Koster unterscheidet zwischen der Gliedschaft Christi und der Gliedschaft der Kirche, die durch die Taufe konstituiert wird (93). Unter den Mitgliedern der Kirche führt er eine Unterscheidung in Voll- und Teilglieder ein. Erstere sind diejenigen, die ihr persönliches Heil im „Heilskollektiv“ der Kirche erreichen (93). Teilglieder sind entweder als „Verwendungsglieder“ solche, die im Sinne der Gesamtheit der Kirche tätig sind, ohne ihr anzugehören, oder als „Konstitutionsglieder“ solche, die die Taufe empfangen haben, von deren derzeitigem Gnadenstand aber abgesehen wird. Sie sind entweder „volltätig“ in dem Sinne, dass sie unter der Weisung des Papstes Aufgaben und Handlungen ausführen, die ihrem sakramentalen Charakter entsprechen oder „teiltätig“, indem sie dies ohne Weisung oder gegen die Weisung des Papstes tun. Hierzu gehören auch die Nichtkatholiken (94). Kirchenglieder sind also dort zu finden, wo im Sinne der Kirche gehandelt wird. Koster führt seine Systematik der Stufung der unterschiedlichen Gliedschaften nicht weiter aus, weist aber darauf hin, dass sie nur unter dem Leitverständnis der Kirche als „Volk Gottes“ verständlich ist, da der „Leib Christi“ nur Vollglieder kennen kann (95). Der „Volk Gottes“- Begriff weist somit eine größere Offenheit in der Frage der Mitgliedschaft der Kirche auf.