Das Intrigenlabyrinth

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Am Samstag kam Celine mit Margot nach Hause. Es war alles gut verlaufen und sie würde schon bald zur Kur fahren. Margot wusste noch nicht, was mit Joy passiert war, weil Celine noch immer Hoffnung hatte, dass das Kind wohlbehalten wiederauftauchte. Außerdem wollte Celine nicht, dass Margot sich aufregte und große Sorgen um Joy machte. Das wäre für ihr angeschlagenes Herz sicher nicht von Vorteil. Margot hätte sich bestimmt unglaublich aufgeregt, denn sie liebte Joy genauso wie ihre Enkelkinder. Joy hatte auch sehr oft den Großteil ihrer Ferien bei Margot verbracht.

Nun aber war es an der Zeit, auch Margot davon zu erzählen. Wie erwartet reagierte sie sehr emotional. Margot war ein sehr fröhlicher und meistens positiver Mensch. Sie war aber auch sehr gefühlvoll und trauerte ganz intensiv. „Aber da muss man doch was unternehmen! Was können wir nur tun?“, fragte sie unter Tränen.

„Margot, die Polizei hat schon alles in Bewegung gesetzt, was nur möglich ist – aber alles ohne Ergebnis!“

Insgeheim dachte er, dass die Ermittlungen nicht gerade von großer Professionalität zeugten, so wie sie ihn aus dem ganzen Prüfverfahren einfach ausklammerten. Auch die Befragung der Kinder war mehr als dürftig gewesen. Sehr wahrscheinlich hatten sie den Fall schon so gut wie ins Archiv verschoben! In der Presse wurden die Berichte und Zeugenaufrufe immer kleiner und seit zwei Tagen wurde der Fall überhaupt nicht mehr erwähnt. Wie traurig!

Eigentlich hätte er anfangen können, sich etwas zu entspannen, aber das Gegenteil war der Fall. Jens wurde immer panischer und es kostete ihn von Tag zu Tag mehr Kraft, sich nicht zu verraten. Vor allem, dass er nicht wie gewohnt mit Celine über seine Sorgen sprechen konnte, machte ihn verrückt. Und immerzu aufzupassen, dass er sich nicht verplapperte, strengte ihn unglaublich an. Das war er einfach nicht gewöhnt. Sie waren so offen miteinander, nie gab es ein Geheimnis zwischen ihnen – außer vielleicht mal eine heimlich geplante Überraschung. Oft entstand ein richtiger Wettbewerb zwischen ihnen, wer denn nun die besseren Einfälle hatte. Sie hatten viel Spaß dabei, sich gegenseitig neugierig zu machen. Auch die Kinder waren schon die reinsten Meister darin.

Die letzte große Überraschung hatten sie alle zusammen für Joy geplant – die Party zu ihrem sechzehnten Geburtstag! Was hatten sie nicht alles für sie auf die Beine gestellt. Eine Hollywoodparty, zu der alle in Glitzer und Gloria gekleidet erscheinen mussten, einen Walk of Fame hatten sie gebastelt, eine Award-Verleihung mit einer witzigen, gereimten Laudatio für jeden einzelnen Gast. Joy war an diesem Abend natürlich der Stargast! Einen Profifotografen hatten sie engagiert und die Dekoration war einfach der Hit. Es wurde eine „superaffengeilcoole Party“, wie Joy es ausdrückte. Mit Tränen in den Augen dankte sie allen …

Nur ihre Mutter wollte nicht dabei sein, weil sie ihrer Meinung nach sowieso nicht dazupasste. Zum Anziehen hatte sie auch nichts Passendes und auch kein Geld übrig, um sich einen so kitschigen Fummel zu kaufen. Langsam begann Jens zu verstehen, was Clara gegen sie hatte. Sie konnte weder finanziell noch beim heiteren Miteinander mit den Dornbachs mithalten. Sie hatten ihr die Tochter ein Stück weit weggenommen – ja, so sah er es heute! Joy liebte ihre Mutter über alles, sie wusste genau, dass sie sich für sie aufopferte, aber sie nahm auch ganz selbstverständlich und von ganzem Herzen gerne die Angebote der Dornbachs an. Und die dachten, dass Clara dankbar war, dass sie ihrer Tochter mit so viel Liebe und Großzügigkeit begegneten. Wie oft hatte es ihr wohl einen Stich versetzt, wenn Joy von den Dornbachs und ihren gemeinsamen Aktivitäten schwärmte, die Angebote und die Gesellschaft der Dornbachs vorzog … Nicht einmal war ihm in all den Jahren zuvor so ein Gedanke in den Sinn gekommen und Celine sicher auch nicht. Sonst hätte sie es laut geäußert.

Sie blieben an diesem Samstag alle lange auf, redeten, weinten und trösteten sich gegenseitig. Aber einen wirklichen Trost gab es nicht – Joy war weg und sie fehlte unglaublich! Das war schon schlimm genug, aber die Sorgen um sie, die Ungewissheit und die Panik vor dem Anruf waren fast nicht auszuhalten. In dieser Situation war Margot wirklich keine Hilfe – sobald sich alle gefangen hatten, schniefte sie wieder los. Sie musste möglichst schnell in die Reha!

Jens nahm an diesem Abend wieder einmal eine Schlaftablette, weil er dringend einen erholsamen Schlaf brauchte, um seinen Alltag bewältigen zu können. Charlene nahm ihn im Geschäft ganz schön hart ran, aber dadurch kam er wenigstens auf andere Gedanken. Es war eine gute Ablenkung! Er hatte immer noch kein Potenzial, um sich mit Charlene auseinanderzusetzen, und sie genoss ihren Sieg auf der ganzen Linie. Wahrscheinlich war sie sogar etwas enttäuscht, weil er sich absolut kampflos ergeben hatte. Mit gar keinem Widerstand hatte sie vermutlich nicht gerechnet. Aber bequemer war es so allemal.

Das Telefon klingelte … Jens hatte das Gefühl, nur zu träumen, denn er war von der Tablette so benebelt, dass er sich nicht auf Anhieb orientieren konnte. Das Klingeln trommelte in seinem Kopf, es durchdrang sämtliche Hirnwindungen gewaltsam, bis er es schaffte, das Klingeln der Realität zuzuordnen. Er wollte aufstehen, aber der Plan war wesentlich einfacher als die Durchführung selbst. Plötzlich hörte das Klingeln auf. Eigentlich rief so gut wie niemand mehr über den Festanschluss an. Jedes Familienmitglied hatte ein eigenes Handy und sie kommunizierten auf dem Weg miteinander. Ebenso verhielt es sich mit ihren Freunden, Verwandten und Bekannten. Plötzlich war Jens hellwach – Clara, ja, nur Clara hatte überhaupt noch das Festnetz genutzt.

Ein durch Mark und Bein gehender Schrei folgte der kurzen Stille. Es war Magdalenas Stimme: „Sie ist wieder da, sie ist wieder da – los, alle aufwachen, Joy ist wieder da!“

Alle stürmten jubelnd aus ihren Zimmern und umringten Magdalena. Die konnte aber nicht viel sagen, außer dass Joy wohlbehalten wieder zu Hause angekommen war. Alles andere würde sie dann in Ruhe erzählen.

Sie war also wieder da! Jens spürte eine Erleichterung, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Jetzt hatte er aber wirklich das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Was war das für ein Gefühl – eine tonnenschwere Last fiel von seinen Schultern. Er sah den anderen zu, wie sie sich freuten und umarmten. Bei ihm wurde das Gefühl jedoch gleich wieder gedämpft, weil ihm bewusst war, dass Joy ihn anzeigen würde und sein perfektes Leben damit beendet war. Aber er war sich auch im Klaren darüber, dass er so nicht hätte weiterleben können. Diese Schuld hätte ihn innerhalb von wenigen Wochen zum psychischen Krüppel gemacht. Da war er sich ganz sicher. Der Druck, der auf ihm lastete, hatte sich in der Zeit, die seit dem Vorfall vergangen war, um ein Vielfaches verstärkt. Er war keineswegs geringer geworden. Nein, lange hätte er es nicht mehr ausgehalten, mit diesem Geheimnis zu leben. Er hatte über einen Umzug nachgedacht, aber es wurde ihm jeden Tag immer klarer, dass er ihm keine große Erleichterung verschaffen würde. Seiner Familie wahrscheinlich schon. Aber er trug die Schuld in seinem Herzen und sie würde immer präsent sein – egal wohin er auch ging. Die Schuldgefühle wären mit Sicherheit auch beständig gewachsen und hätten ihn nach und nach zerstört. Er konnte ja nicht einmal psychologische Hilfe in Anspruch nehmen! Was sollte er denn bei einem Psychologen? Der konnte ihm die Schuldgefühle auch nicht nehmen.

Jetzt stellte sich die Frage, ob er seiner Familie sofort alles beichten sollte. Diese Freude auf der Stelle zu zerstören, das brachte er nicht fertig. Wie sollte er das jetzt am besten lösen? Mit Celine allein reden? Ja, so würde er das machen. Aber ehe er sich versah, war die ganze Horde schon in Aufbruchsstimmung. Sie hatten, während er sich seinen Gedanken hingegeben hatte, geplant, sich sofort auf den Weg zu Watermanns Wohnung zu machen. Verzweifelt versuchte er sie davon abzuhalten, indem er erklärte, dass die beiden jetzt sicher erst einmal alleine sein wollten. Sie hätten sicher jede Menge zu besprechen. Aber kein Argument zählte – keiner von ihnen war aufzuhalten. Er lehnte das Angebot ab, mit ihnen zusammen zu Clara und Joy zu fahren. Sie waren in Lichtgeschwindigkeit angezogen und flogen fast zum Auto – und das alles, ohne sich anzuschreien und gegenseitig zu beschimpfen. Einen letzten Versuch startete er, um wenigstens Celine zum Bleiben zu überreden. Aber es war sinnlos. Er musste den Dingen seinen Lauf lassen.

Ob Joy schon bei der Polizei war oder gerade mit ihrer Mutter über den Vorfall sprach? Clara würde die Polizei natürlich auf der Stelle benachrichtigen. Die Schlinge zog sich immer fester um seinen Hals, doch er dachte verzweifelt: Und trotzdem ist mir dieser Weg lieber, als wenn sie das Mädel tot aufgefunden hätten. Er würde büßen – er war kein schlechter Mensch. Er hatte einen schlimmen Fehler gemacht und das auch nur bei halbem oder noch weniger Bewusstsein – aber er würde dafür geradestehen! Das war seine Entscheidung, seine endgültige. Einen anderen Weg gab es nicht.

Jens rief bei Watermanns an und bat Clara, Joy sprechen zu dürfen. Nur widerstrebend nahm sie den Hörer, das spürte er ganz deutlich. „Hallo, Jens“, sagte sie zu seiner Überraschung ganz freundlich. Was um Himmels willen war jetzt los? „Wie geht es dir so? Ich hab kurz Urlaub gemacht in eurem Ferienhäuschen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.“

Jens war so baff, er wusste nicht, was er sagen sollte. Er musste sich besinnen, warum er Joy überhaupt sprechen wollte. Ach ja, er wollte sie bitten, es ihm zu überlassen, seiner Familie die Wahrheit zu sagen. Genau das versuchte er jetzt auch zu tun, aber Joy würgte ihn ab und sagte: „Danke, Jens, ich wusste, dass du nicht böse sein würdest. Ich habe echt eine Auszeit gebraucht und das war der richtige Ort. Und auch an dich: Sorry, dass ich dir Sorgen bereitet habe! Wir sehen uns – ich komme demnächst vorbeigeflattert.“ Und schon hatte sie aufgelegt.

 

Jens brauchte Minuten, viele Minuten, um zu verstehen, dass er nicht träumte, dass er voll bei Bewusstsein war. Er fantasierte nicht, er war auch nicht endgültig durchgedreht oder hatte die Kontrolle komplett verloren – nein, Joy war wieder da und erwähnte den Vorfall mit keinem Wort. Es klingelte auch keine Polizei an der Tür. Wie konnte das sein? Hatte er sich nur vorgestellt, sie vergewaltigt zu haben – hatte er es geträumt? Was zum Teufel wurde hier für ein Spiel gespielt und welche Rolle hatte er in diesem Theaterstück? Er fühlte sich, als ob eine fremde Spezies die Kontrolle über sein Leben übernommen hatte. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er sich verhalten? Wieder einmal gab es für ihn nur die Möglichkeit abzuwarten, wie dieses Theaterstück sich weiter entwickeln würde. Nur eins war klar – die höchste Last, die größte Sorge, das Schlimmste, was hätte sein können, war nicht passiert! Joy lebte! Und damit gab er sich für den Moment zufrieden.

2

Joy merkte, wie der Körper von Jens erschlaffte. Sie rollte ihn mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, von sich herunter, zog sich notdürftig an und rannte, so schnell sie konnte, aus dem Haus. Aus diesem so geliebten, vertrauten Haus. Dass sich hier eines Tages eine so fürchterliche Szene abspielen würde, konnte sie nicht glauben. Aber es war kein böser Traum, Jens hatte sie vergewaltigt. Brutal und vollkommen unerwartet war er plötzlich über sie hergefallen. Im Nachhinein fragte sie sich, ob sie sich genug gewehrt hatte, schließlich war er sturzbetrunken und mit etwas Kraft hätte sie es doch schaffen müssen, sich zu befreien.

Voller Panik rannte sie blindlings in irgendeine Richtung los. Sie rannte und rannte, bis sie irgendwann völlig atemlos auf den Boden sank. Jetzt erst fing sie an zu denken. Wohin sollte sie gehen? Zu Hause war niemand – Mama arbeitete die ganze Nacht und sie wollte ihr auch nicht unter die Augen treten. Sollte sie direkt zur Polizei gehen? Was würde dann passieren? Sie würden Jens festnehmen und es gäbe eine Verhandlung, in der sehr wahrscheinlich festgestellt würde, dass Joy Jens in ihrem Aufzug unglaublich gereizt hatte. Er würde eine Haftstrafe möglicherweise auf Bewährung erhalten und die Familie würde ihm großzügig verzeihen. Übrig bleiben würde Joy – für die anderen womöglich eine Schlampe, die einen armen Mann verführt hatte, mit der schlimmen Erinnerung für den Rest ihres Lebens. Sie würde bindungsunfähig sein, keine Berührungen von einem Mann mehr ertragen können. Die eigentliche Bürde aus dieser Sache müsste sie und nur sie allein tragen. Jens würde so gut wie ungestraft davonkommen. Das durfte nicht passieren. Sie brauchte Zeit, mehr Zeit als nur ein paar Stunden, um darüber nachzudenken, was sie tun sollte. Aber wohin sollte sie gehen? Wo konnte sie in Ruhe nachdenken? Geld hatte sie auch nicht allzu viel dabei. Sie hatte also nur begrenzte Möglichkeiten.

Zuerst zog sie die langen Hosen an und die Jacke, die sie für den nächsten Schultag eingepackt hatte. Auch ihr Käppi, das sie für den Sportplatz eingepackt hatte, um sich vor der Sonne zu schützen, setzte sie auf. Darunter verbarg sie ihre langen Haare und ging in Richtung Bahnhof. Dort versteckte sie sich hinter einem großen Gebüsch und hoffte, dass sie niemand sah und sie nicht einschlief.

Inzwischen hatte sie einen Plan: Die Dornbachs besaßen ein kleines Ferienhäuschen im bayrischen Wald. Weit abseits von der Zivilisation, gut versteckt. Dort hatten sie früher, als sie klein waren, so manches Wochenende verbracht. Es war zwar ziemlich eng, aber immer wunderschön. Da hatten sie die größten Abenteuer erlebt. Sie hoffte, dass sie es finden würde. Sie konnte sich aber noch sehr gut an das nächstliegende Dorf erinnern, wo sie immer Proviant gekauft hatten. Nein, es dürfte kein Problem sein, es zu finden.

Sie wollte kein Zugticket kaufen, obwohl das Geld gerade so reichen würde. Aber dann hätte sie keinen Cent mehr für Lebensmittel. Außerdem hatte sie vom Bahnhof aus einen ziemlich weiten Fußmarsch vor sich, weil sie beschlossen hatte, nicht den Bus zu dem kleinen Dorf zu nehmen, weil sie nicht auffallen wollte. Sie musste klammheimlich in die Hütte gelangen. Einkaufen musste sie irgendwo in einem großen Supermarkt, wo sie sich unauffällig bewegen konnte. Der Plan nahm ganz klare Gestalten an.

Alles gelang ihr so, wie sie es geplant hatte. Sie wurde nicht ohne Fahrkarte erwischt, der Supermarkt war zum Bersten voll und zur Hütte gelangte sie, ohne irgendjemandem über den Weg zu laufen. Wenn sie Menschen sah, versteckte sie sich so lange, bis der Weg wieder menschenleer war. Erst dann lief sie vorsichtig weiter. In der Hütte angekommen, konnte sie auf Anhieb den Schlüssel in seinem Versteck finden. In der Hütte stank es fürchterlich, also lüftete sie zuerst gründlich und sah sich in Ruhe um. Es gab noch gefüllte Sprudelflaschen, Ravioli-Dosen, Schokolade und ein paar lange haltbare Lebensmittel, wofür sie sehr dankbar war. Sie hatte nicht viel eingekauft, zum einen, weil sie nicht ihr ganzes Geld ausgeben, und zum anderen, weil sie nicht so viel tragen wollte. Sie war sich auch nicht im Klaren darüber, wie lange sie brauchen würde, um wieder in der Lage zu sein, nach Hause zu gehen. Sie wusste selbstverständlich, was sie ihrer Mutter antat. Aber sie wollte in Ruhe darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Wie sie sich verhalten sollte! Ganz intensiv wollte sie über Jens’ Strafmaß nachdenken. Ihre Mama hatte so recht gehabt … Joy hatte es nicht glauben wollen, vor allem, weil sie Jens so lieb hatte. „Alle Männer sind Schweine“, das war der Lieblingssatz ihrer Mutter. Der Satz, den sie am häufigsten sagte.

Clara wurde von ihrem Vater sehr schlecht behandelt und häufig verprügelt. Er war Alkoholiker und ließ keine Gelegenheit aus, seine ganze Frustration über sein beschissenes Leben an seiner Frau und der Tochter auszulassen. Er konnte so jähzornig sein, so ungerecht und böse. Es ging so weit, dass er mit Möbelstücken um sich warf, mit dem Messer auf die beiden losging, sie in der Wohnung für Tage einsperrte und Schläge waren sowieso an der Tagesordnung. Einmal schnürte er Clara auf der Kücheneckbank fest und zwang sie, dabei zuzuschauen, wie er seine Frau vergewaltigte.

Dennoch erzählte Clara oft, dass sie geglaubt habe, schlimmer könne es in ihrem Leben nicht mehr kommen, es könne nur noch bergauf gehen, wenn sie endlich erwachsen war. Sie würde einen Beruf erlernen und mit ihrer Mama ganz weit weg ziehen, sodass er sie niemals finden konnte. Doch es kam anders. Als Dreizehnjährige musste Clara miterleben, wie das Arschloch – wie sie ihn insgeheim immer nannte – ihre Mutter bei einem Fluchtversuch die Treppe hinunterschubste. Sie war ohne Bewusstsein und Nachbarn benachrichtigten sofort den Rettungsdienst. Im Krankenhaus wurde alles getan, um ihr Leben zu retten, aber sie verstarb am dritten Tag nach dem „Unfall“, wie er es nannte. Er hätte noch versucht sie festzuhalten, erzählte er in Tränen aufgelöst. Clara hätte so gern die Wahrheit herausgeschrien – aber sie wollte nicht ins Kinderheim. Sie dachte, die paar Jahre würde sie schon irgendwie schaffen. Vielleicht würde er jetzt sogar zur Besinnung kommen und eine Entziehungskur machen. Wie blauäugig – es wurde nichts besser!

Zur unendlich großen Trauer über den Verlust der Mutter kamen jetzt noch finanzielle Sorgen dazu. Clara nahm jeden Job an, den sie bekommen konnte – das Angebot war nicht sehr groß. Oft musste sie für sehr wenig Geld richtig hart arbeiten. Sie mähte Rasen, trug Prospekte aus, kaufte für alte Leute ein, ja, sie schämte sich sehr, aber sie ging auch stundenlang auf Pfandflaschensuche. Doch das Lernen vernachlässigte sie niemals. Sie wollte aus diesem Milieu raus – sie musste sich selbst aus diesem Sumpf ziehen. Das konnte sie nur mit Bildung schaffen, das war ihr absolut klar.

Es kam der Tag, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte – ihr Vater versuchte sie zu vergewaltigen. Sie schaffte es zu fliehen. Aber der Bann war gebrochen, ab diesem Tag kam es immer öfter und irgendwann täglich vor. Sie musste immer auf der Hut sein – sie hatte ihre Tricks, aber wenn er es einmal schaffen würde, sie im nicht so schlimm betrunkenen Zustand richtig zu packen, könnte er sein Vorhaben in die Tat umsetzen. Er war immer noch erstaunlich kräftig. Als er es eines Tages schaffte, sie zu packen, und sie schon kein Entkommen mehr sah, brach er über ihr zusammen und rührte sich nicht mehr. Sein Herztod wurde festgestellt und Clara musste doch ins Heim.

Überrascht stellte sie fest, dass es gar nicht so schlimm war, ganz im Gegenteil! Sie konnte aufatmen, sich ganz auf das Lernen konzentrieren. Nur eines machte sie traurig – sie konnte sich auf keine Freundschaft einlassen. Sie hatte nie eine Freundin gehabt. Clara ist immer ein einsamer Sonderling gewesen und ein perfektes Mobbingopfer.

Trotz allem – Clara war eine richtige Schönheit. Und während der Zeit im Kinderheim fing sie auch an Wert darauf zu legen, sich zurechtzumachen. Nicht üppig und auffällig, doch sie entwickelte einen ganz eigenen bodenständigen, aber nicht altbackenen Stil. Es passte zu ihr. Mit der Zeit begannen die Jungs ihr hinterherzuschauen. Schon bald hatte sie an der Schule jedoch den Titel „eiserne Jungfrau“. Auch wenn in ihr hin und wieder tatsächlich Verliebtheitsgefühle aufkamen, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, jemals ein männliches Wesen näher als dreißig Zentimeter an sich heranzulassen. Undenkbar!

Nach einem erfolgreichen Realschulabschluss startete sie auf einem sozialen Berufsgymnasium richtig durch. Sie hatte ein Ziel – sie wollte Medizin studieren. Etwas anderes, als hart zu arbeiten, um ihren Doktortitel in Rekordzeit in der Tasche zu haben, gab es für sie nicht mehr. Nicht nur für die Schule arbeitete sie hart, sondern verdiente nebenher auch noch Geld. Das sparte sie aber größtenteils für ihr geplantes Studium. Es machte ihr nichts aus, wenn die Mitschüler ständig neue Markenklamotten trugen oder von einem „geilen“ Urlaub erzählten. Clara spürte keinen Neid und auch keine Eifersucht. Sie war der Hölle entkommen und hatte andere Erwartungen an sich und das Leben, als irgendwelche Oberflächlichkeiten zu pflegen.

Kurz vor dem Abitur geschah dann doch das große Wunder: Ein Junge schaffte es mit ungebrochener Geduld und Feingefühl, Claras Herz zu erobern. Sie konnte im Nachhinein nicht fassen, dass Jörg es geschafft hatte, sie zu verführen und schließlich im beschwipsten Zustand zum Geschlechtsverkehr zu überreden. Das Gefühl, das sie dabei hatte, war – sie konnte es sich kaum eingestehen, fast nicht zulassen – schön, sehr schön! Überrascht war Clara selbst über ihr Verhalten während des Liebesaktes – sie war vollkommen entfesselt und nahezu schamlos. Sie hatte es getan und es war alles andere als schlimm gewesen – sie hatte doch eine Chance auf ein normales Leben. Es war ein echtes Wunder! Jörg war sehr gefühlvoll und der begehrteste Junge an der Schule. Das waren ihre Gedanken am Morgen danach. Ja, sie wollte leben! Richtig leben und da gehörte die Liebe dazu. Sie war in der Lage, zu lieben – dann würde sie es auch tun und genießen. Einfach genießen!

Als sie in der Schule ankam, sah sie eine große Schüleransammlung vor dem Haupteingang des Schulgebäudes. Sie steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Da musste etwas passiert sein. Sie lief auf die Versammlung zu, plötzlich schrie eine Mitschülerin: „Da, da ist sie! Sie kommt!“ Wie sich dann herausstellte, hatte Jörg ein kleines Video vom Vorabend vorgeführt, in dem sie die Hauptrolle spielte. Der Film hieß: „Wer knackt die eiserne Jungfrau?“ Jörg hatte es geschafft! Er war der tolle Held und wurde gefeiert! Es wurden Wettgelder eingelöst und wie Clara auch noch erfuhr, wurde an dem Abend eine „eiserne Jungfrauen-Erlösungsparty“ gefeiert!

An diesem Tag hörte Clara endgültig auf an das Gute zu glauben. Wie konnte sie nur so dumm sein? Sie versteckte sich für Tage in ihrem Zimmer, heulte und überlegte ernsthaft, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur eine barmherzige Schwester, die sie sehr gern hatte und schon am Tag ihres Einzuges im Kinderheim ins Herz geschlossen hatte, weil sie so anders war als die ungezogenen, faulen Gören, schaffte es, sie davon abzuhalten. Sie redete stundenlang auf Clara ein: „Es gibt ausreichend wichtige Aufgaben auf dieser Erdkugel, die es wert sind weiterzumachen, Clara. Viele Menschen brauchen dringend medizinische Hilfe, um überhaupt überleben zu können. Als Ärztin kannst du vor allem auch misshandelten Frauen zur Seite stehen. Das müsste doch nach dem, was du in deinem bisherigen Leben mitgemacht hast, ein großes Anliegen für dich sein. Statt deinem Leben ein Ende zu setzen, solltest du über vernünftige Zukunftspläne nachdenken.“

 

Es dauerte eine Weile, bis Clara das auch so sah, dann aber stellte sie sich wieder auf die Beine und machte weiter! So wie bis zu jenem unglücklichen Tag – sie lernte und arbeitete. In der Schule gelang es ihr recht schnell, in Ruhe gelassen zu werden, weil sie einfach keine Angriffsfläche bot. Es wurde langweilig, sie zu ärgern. Aber eines war klar: „Männer sind alle Schweine!“ Nie wieder würde sie einen von ihnen an sich heranlassen oder gar in ihr Herz schließen! Sie hasste sie alle von ganzem Herzen. Noch nie hatte sie auch nur ansatzweise etwas Gutes von diesem Geschlecht erfahren.

Die nächste Katastrophe ließ aber nicht lange auf sich warten. Morgendliche Übelkeit machte ihr zu schaffen. Der erste logische Gedanke war – ein Virus! Und das so knapp vor den Prüfungen! Mit der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass das noch das kleinere Problem gewesen wäre. Die regelmäßige Übelkeit ließ nämlich im Laufe des Tages nach und wurde durch einen unglaublichen Appetit ersetzt. Die Brüste spannten zum Zerbersten … Nein, das konnte nicht sein. Wann hatte sie ihre letzte Periode gehabt? Sie hatte nie sonderlich auf den Rhythmus geachtet. Wozu auch? Aber es kam der Tag, an dem sie nichts mehr schönreden konnte, denn der Test war eindeutig.

Wieder große Verzweiflung, Aussichtslosigkeit und Trauer. Warum, warum meinte es das Leben so schlecht mit ihr? Was hatte sie angestellt, dass sie immer nur Prügel einstecken musste? Wenn man an Wiedergeburt glaubte und an die Sühnung der Sünden aus dem letzten Leben, dann musste sie wohl in ihrem letzten Leben ein Monster gewesen sein.

Wieder saß Schwester Barbara stundenlang an ihrem Bett und machte ihr klar, dass ein Kind immer ein Geschenk Gottes sei – eine große Aufgabe, die sie zu erfüllen habe. „Das Kind wird dein Lebensinhalt sein. Du musst die Verantwortung für ein kleines Wesen tragen. Du bekommst die Möglichkeit, intensiv zu lieben und geliebt zu werden, ohne darüber nachzudenken, ob du nur ausgenutzt wirst. Es wird echte, ehrliche Liebe sein, die dir dein Kind geben wird. Du kannst das Kleine so großziehen, wie du es gerne erlebt hättest.“

„Aber mein Studium – was ist mit meinen beruflichen Träumen? Die kann ich unter diesen Umständen völlig vergessen.“

„Clara, so lange ich atme, mich bewegen und klar denken kann – kannst du mit mir rechnen. Tag und Nacht, mein Kind. Ich werde dir zur Seite stehen, wann immer du Hilfe brauchst. Du weißt, dass du dich auf mich hundertprozentig verlassen kannst. Du bist die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe, und jetzt bekomme ich quasi noch ein Enkelkind. Ich bin glücklich und freue mich sehr darüber. Du siehst, mein Einsatz ist nicht ganz uneigennützig.“

Ja, Schwester Barbara war ein Glücksfall, ein Goldstück – ihre Zuneigung war das Beste, was ihr in ihrem bisherigen Leben passiert war. Zuverlässigkeit – durch sie hatte dieses Wort endlich eine Bedeutung erhalten. Ihre Mutter war auch ein liebenswerter Mensch gewesen, aber Zuverlässigkeit hatte ihr gefehlt. Immer wieder hatte sie Rückzieher gemacht, wenn sie ihrer Tochter das Versprechen gegeben hatte, das „Arschloch“ zu verlassen.

Über Abtreibung wurde also nicht mehr gesprochen! Schwester Barbara hielt Wort und unterstützte Clara in den folgenden vier Jahren intensiv. Clara hatte sich jedoch nach langen Überlegungen und Hunderten von Gesprächen mit Schwester Barbara doch entschlossen, erst einmal nur eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Sie könne im Nachhinein immer noch studieren. Aber so habe sie zumindest eine abgeschlossene Ausbildung und könne von Anfang an Geld verdienen. Das brauchte sie auch dringend, weil sie mit achtzehn eine eigene Wohnung suchen und für sich und Joy selbstständig sorgen musste. Es waren verdammt harte Jahre, aber Schwester Barbara wich ihr wie versprochen nicht von der Seite.

Als Clara gerade die Ausbildung sehr erfolgreich beendet hatte und echte Glücksgefühle aufkamen, folgte schon der nächste Schlag. Schwester Barbara starb völlig überraschend an den Folgen eines Schlaganfalls.

Jetzt war Clara wieder ganz auf sich allein gestellt. Sie meldete Joy, die inzwischen drei Jahre alt war, in der Kita an. Und so versuchten sie weiter über die Runden zu kommen. Joy war ein sehr braves und vernünftiges, aber kein trauriges Kind. Die Gene ihres Vaters kamen ihr zugute. Sie war sehr beliebt und schloss schnell Freundschaften im Kindergarten. Ziemlich schnell hatte sie jedoch eine Lieblingsfreundin. Magdalena! Die beiden waren wie füreinander gemacht. Sie passten so gut zusammen, dass es manchmal beängstigend war. Sie mochten die gleichen Spiele, das gleiche Essen, den gleichen Sport …

Joy liebte von Anfang an auch Magdalenas Familie und umgekehrt. Es war ein Glücksfall – auch für Joys Mutter. Wie oft konnte sie das Kind sorglos bei Dornbachs abgeben, während sie Sonderschichten übernahm und sich ständig weiterbildete. Joy liebte sie über alles – sie war und blieb ihre Mutter, ihre engste Bezugsperson. Clara gab sich auch die größte Mühe, Joy ein schönes, bequemes und glückliches Leben zu bieten. Wann immer es möglich war, unternahmen sie etwas. Nur die Mama selbst war immer sehr ernst und so richtig Spaß konnte Joy, wenn sie ganz ehrlich war, nur mit Dornbachs haben. Vor allem gab es kaum Tage, an denen sie Joy nicht eindringlich vor Männern warnte. Ihre schlimmen Erfahrungen gab sie unermüdlich weiter. Joy hörte zu – aber innerlich schien das Gesagte abzuprallen. Sie beobachtete Jens, Jonas und auch die Jungen in der Schule und im Sportverein ganz genau. Aber sie konnte nichts extrem Böses an ihnen feststellen. Da fand sie so manche Zicke aus ihrem Umfeld unsympathischer und böser. Natürlich gab es auch Blödmänner unter den Jungen, aber nicht mehr und keinesfalls schlimmer als unter den weiblichen Mitmenschen.

Clara stichelte auch gegen die Dornbachs regelmäßig – sicher aus Eifersucht. Und so lernte Joy mit der Zeit, ihr so gut wie nichts mehr zu erzählen und den Eindruck zu erwecken, dass sie dort sein müsse, während die Mama arbeitete. Das zeigte Wirkung. Mamas Hetzattacken ließen deutlich nach.

Dann aber kam Joy in ein Alter, in dem sie allein zu Hause bleiben konnte. Sie wollte aber weiterhin immer zu Dornbachs und bei deren Unternehmungen dabei sein. Das wiederum setzte den Hetzmechanismus wieder in Gang. Es war manchmal unerträglich. Aber Joy ließ sich das tolle Lebensgefühl bei und mit den Dornbachs nicht vermiesen. Sie genoss jede einzelne Minute. Natürlich gab es auch dort hin und wieder Ärger und Probleme, aber hier lernte Joy, wie man Dinge ausdiskutierte und dass man einen guten Kompromiss für alle finden konnte.

Als ernsthaftes, fast die Freundschaft zerstörendes Problem erwies sich die Liebe. Magdalena und Joy hatten sich, wie es sich für die beiden gehörte, in denselben Jungen verliebt. Aber Lars Jörgensens war unsterblich in Joy verliebt und nach ein paar schwierigen Wochen beschloss Magdalena, dass die Freundschaft mit Joy wichtiger war als der Blödmann.

Von nun an konnte Joy die Liebe richtig genießen. Sie schwebte auf Wolke sieben. Aber ihre Mutter durfte nichts davon erfahren, auf gar keinen Fall! Sie würde dann keine Ruhe mehr geben. Rund um die Uhr würde sie Joy klarmachen, dass sie sich auf den Tag einstellen musste, an dem Lars sie bitterlich enttäuschen würde. Oh, sie wusste doch gar nicht, worauf sie ihr Leben lang schon verzichtete. Und wenn Lars sie tatsächlich verletzen sollte, konnte ihr die wunderschöne Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, keiner wegnehmen. Außerdem hatten andere Mütter auch schöne Söhne …

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