Das Intrigenlabyrinth

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„He Lars, weißt du, wo Joy ist? Ihre Mutter sucht sie verzweifelt.“

„Ich auch! Sie war nicht in der Schule, auf meine Nachrichten antwortet sie nicht! Keine Ahnung, wo sie steckt, und nein, wir hatten keinen Streit! Das wäre doch die nächste Frage gewesen!“

Der letzte Hoffnungsschimmer! Aus und vorbei! Wenn Lars nicht wusste, wo Joy war, dann … Was sollte er jetzt machen? Sollte er die Wahrheit erzählen und sich der Sache stellen? Allerdings müsste er dann einen Strich unter seine Ehe ziehen, vermutlich auch als Vater seiner Kinder. Er wäre einfach nur noch ein Monster für sie. Sie würden sicher nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Vielleicht gab es ja doch noch einen anderen Weg. Er beschloss, mit seinem Geständnis zu warten, bis Joy wieder auftauchte, und wenn er es nicht schaffte, mit ihr eine Einigung zu finden, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Aber einen winzigen Hoffnungsschimmer hatte er noch, dass Joy all die schönen Jahre, in denen er sie wie eine Tochter behandelt hatte, nicht ganz vergessen würde.

Jens machte sich auf den Heimweg und rief währenddessen Clara an, um ihr von dem Gespräch mit Lars zu berichten.

„Ich gehe jetzt zur Polizei“, schniefte Clara.

„Das wird aber nichts bringen, erst wenn sie mindestens vierundzwanzig Stunden vermisst wird, starten die eine Suchaktion. Es verschwinden täglich Jugendliche, die dann unversehrt wiederauftauchen!“

„Es passt aber gar nicht zu Joy, einfach zu verschwinden, und das weißt du genauso gut wie ich!“

Das stimmte allerdings, das würde Joy nicht machen, auch nicht wegen des größten Streits. Schon deshalb nicht, weil sie ihrer Mutter keine Sorgen bereiten wollte. Sie wusste genau, wie sehr sich diese für sie aufopferte. Er musste Clara handeln lassen, schon deswegen, weil er sich nicht verdächtig machen wollte.

Erst zu Hause wurde ihm klar, dass die Polizei dann ja sofort hierherkommen würde, weil sein Grundstück der letzte sichere Aufenthaltsort war. Er wurde panisch! Er musste sofort alle Spuren beseitigen und alle Räume prüfen, ob er sie nicht irgendwo in seinem Suff geknebelt hatte. Verdammt, wie hatte er sich nur so betrinken können, dass er nicht mehr wusste, was genau passiert war? Noch hatte er große Hoffnung, dass Joy wiederauftauchen würde und er die Angelegenheit mit ihr regeln konnte.

Zuerst durchsuchte er das ganze Haus – Joy war nirgendwo und auch sonst nichts, was auf sie hindeutete. Ihr Glas vom Vorabend spülte er ganz gründlich von Hand. Es schien ihm, als ob das Glas seine Finger verbrennen würde. Andere Spuren von Joy in seinem Haus waren ja so selbstverständlich, dass er sich da sicher keine Sorgen zu machen brauchte. Jetzt konnte er nur noch warten, bis die Polizei erschien.

Vorher musste er sich aber hinlegen, seine körperliche Verfassung war eine Katastrophe. Er konnte kaum stehen, in seinem Kopf wurde ein Tennismatch ausgefochten – sehr wahrscheinlich von der Weltspitze, bei diesen harten Aufschlägen –, sein Magen fuhr permanent Achterbahn und tun konnte er sowieso nichts. Es fiel ihm nichts Vernünftiges ein, weil er ja eigentlich auch nicht in der Lage war zu denken. Immerhin kam ihm in den Sinn, sich bei Celine zu melden, damit sie keinesfalls im Büro anrief. Wieder gab er den „Gestressten“, sodass sie ihn nicht lange aufhalten wollte.

Dann begab sich Jens in die Horizontale. Es schüttelte ihn vor Ekel vor sich selbst, weil ihm einfiel, was gestern Abend hier auf diesem Sofa passiert war. „Ich bin so ein ekelhaftes Schwein – so ein Dreckskerl …“ Viel weiter kam er nicht, denn schon kurz darauf schlief er ein.

Jens lief ganz gemütlich durch einen wunderschönen Wald, der fast an sein Grundstück grenzte. Die Vögel pfiffen, die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Baumkronen und malte wunderschöne Bilder auf den Waldboden. Jens liebte den Waldgeruch und atmete tief ein. Hier in diesem Wald war er so gut wie zu Hause – hier joggte er regelmäßig – hier konnte er mit seinem geliebten Hund Max bei einem schönen, einsamen Spaziergang Kraft schöpfen und hier waren ihm schon die besten Ideen gekommen. Ihm war danach, sich bei diesem kleinen Waldstückchen einmal zu bedanken, für all die gute Energie und für dieses heimelige Gefühl. Jetzt musste er lächeln, weil er dachte, das könnte die Vorstufe vor dem Verrücktwerden sein – sich bei einem Stückchen Wald zu bedanken. Dabei richtete er seinen Blick zuerst gen Himmel und sagte laut „Danke“, dann sah er auf den Boden. Gerade wollte er schmunzelnd noch einmal „Danke“ sagen, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken. Was er da sah, verschlug ihm den Atem. Aus einem hohen Laubberg schaute eine Hand heraus. Am Ringfinger dieser Hand steckte ein wunderschöner Ring, den er nur allzu gut kannte – es war der Ring, den seine Familie Joy zu ihrer Konfirmation vor zwei Jahren geschenkt hatte. Sie trug ihn immer und passte sehr auf ihn auf. Jens spürte, wie der Boden unter seinen Füßen anfing sich zu bewegen – es schaukelte zuerst langsam, dann immer schneller. Er begann zu schwitzen, ihm wurde so schlecht wie noch nie in seinem Leben!

„So hast du also das Problem beseitigt, du elendes Schwein!“, schrie er sich selbst an. „Ich bin nicht nur ein unbeherrschter Säufer, ein Dummkopf, der sich von einem klugen Blondchen reinlegen lässt, nicht nur ein Vergewaltiger, nein, ich bin auch ein feiger Mörder!“

Jens’ Panik war unbeschreiblich – ich habe Joy getötet. Mein Leben ist gelaufen, alles kaputt! Nicht nur meines – viel schlimmer, auch das meiner Familie! Nein, nein, nein, das darf nicht sein. Das kann ich nicht zulassen. Ich muss Joys Körper endgültig beseitigen.

Wie sollte er mit dieser Schuld weiterleben? Er musste es einfach … für seine Familie. Die konnte schließlich nichts für das, was er angerichtet hatte. Es musste ihm gelingen, alle Spuren zu beseitigen. Immer wieder hört man von Fällen, die nie aufgeklärt werden. Er musste nur gründlich nachdenken und vor allem schnell sein. Die Polizei würde sicher bald vor seiner Türe stehen! Wie aber sollte er Joy am helllichten Tag aus diesem Wald heraustragen? Der Wald wurde von vielen Hundebesitzern zum Gassigehen benutzt. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis bei diesem herrlichen Wetter jemand auftauchte. Es blieb Jens nichts anderes übrig, als die Leiche weit weg vom Weg zu ziehen und so gut wie möglich zu verstecken. In der Hoffnung, dass keiner von diesen Kötern sie erschnuppern würde. Schnell erledigte er vor Schweiß triefend und zitternd sein Vorhaben und rannte nach Hause.

Als es endlich dunkel wurde, wollte er los, um seinen währenddessen geschmiedeten Plan, Joy in einen Sack zu packen und in dem nahe gelegenen See zu versenken, in die Tat umzusetzen. Dann aber schien ihm der See keine gute Idee zu sein, denn die würden sicher auch dort nach ihr suchen. Er wollte, dass es keine einzige Spur mehr von Joys Körper auf diesem Planeten gab. Er wollte sein altes, perfektes Leben wiederhaben. Er konnte nicht ändern, was er angerichtet hatte, aber er konnte Unheil von seiner Familie fernhalten. Also beschloss er, Joy zu verbrennen. Dazu fuhr er auf einen entlegenen Grillplatz, wo sie schon oft hingewandert waren, um sich einen schönen Tag zu machen. Zuerst wollte er prüfen, ob sich jemand dort aufhielt, denn manchmal übernachteten hier auch Menschen, so wie sie es oftmals getan hatten. Nein, es war niemand vor Ort – es herrschte Totenstille. Und wenn jetzt niemand da war, würde auch sicher keiner mehr kommen.

Also raste Jens wieder nach Hause beziehungsweise in den Wald und verfrachtete Joy in seinen Kofferraum – alles ging gut. Keine Menschenseele begegnete ihm und er wunderte sich, wie eiskalt und ruhig er plötzlich war. Wie eine Marionette setzte er seinen Plan in die Tat um. Was er mit den Knochen machen sollte, wusste er noch nicht so genau. Wahrscheinlich würde er sie am Sonntag auf dem Weg nach Wiesbaden entsorgen. Bis dahin brauchte er aber ein geniales Versteck.

Am Grillplatz angekommen, machte er ein Feuer und war froh, dass Joy in dem Sack verpackt war, sodass er sie nicht anschauen musste, wenn er sie ins Feuer warf. Er war überrascht, wie cool er das Ganze managte. So schnell gewöhnt man sich also ans Morden? Mit Schwung hievte er den Sack aus dem Auto und warf ihn sich über die Schulter. Am Feuer angekommen, warf er den Sack, ohne ein komisches Gefühl zu haben, als ob er einfach nur eine normale Wurst zu grillen gedachte, ins Feuer.

Urplötzlich hörte er eine Stimme, die Stimme seiner Schwiegermutter Margot: „Du warst für mich der weltbeste Schwiegersohn, den man sich nur wünschen kann – wie kannst du so was tun, Jens?“

„Ich dachte, ich sei die glücklichste Ehefrau auf dieser Erde, weil ich dich zum Ehemann habe, Jens – aber du hast mir die ganze Zeit was vorgespielt. Du bist in Wirklichkeit ein böses Monster.“

„Papa, was machst du da?“ Das war Magdalenas Stimme. „Das bist nicht du – mein cooler Papa! Das ist ein böser Mörder, der hier steht und so was tut!“

Alle starrten ihn aus riesengroßen Augen an. Es war ein unglaublicher Augenblick für Jens – alle Menschen, die er von ganzem Herzen liebte, und Menschen, vor die er sich jederzeit werfen würde, um sie zu beschützen, standen da und sahen in so verzweifelt und maßlos enttäuscht an, dass es ihm das Herz in der Brust zerquetschte – der Anblick der Gesichter seiner Liebsten verursachte eine unbeschreibliche Atemnot. Es war die Höchststrafe! Aber wo kamen sie her? Margot lag doch im Krankenhaus – wie konnte sie hier stehen?

Plötzlich klingelte es … ganz weit weg! Jens verspürte einen enormen Ruck in seinem Körper und dann einen stechenden Schmerz in seiner Schulter. Vorsichtig öffnete er die Augen und fand sich auf dem Boden vor dem Sofa in seinem vertrauten Wohnzimmer wieder. Es war ein Traum! Es war wirklich nur ein Traum – aber so echt! So unglaublich echt! Die Bilder, die Gefühle, die Gerüche, das Gewicht der Leiche, die Gesichter – das war alles so realistisch! Aber es war nur ein Traum! Gott sei Dank. Hoffentlich blieb er das auch!

 

Aber das Klingeln, das war echt … Jens versuchte aufzustehen, was allerdings schwierig war. Sein Körper versagte ihm den Dienst. Es war schier unmöglich, den Kopf hochzunehmen. Dieser Traum war das reinste Martyrium – was, wenn er die Wahrheit war? Das Telefon, er musste das Telefon abnehmen! Irgendwie erreichte er es noch rechtzeitig.

„Ich konnte die Polizei davon überzeugen, die Suche zu starten! Sie werden vor deinem Haus beginnen. Ich habe ihnen erzählt, dass ich Joy da abgesetzt habe und du nicht zu Hause warst. Hat sie sich bei Magdalena auch nicht mehr gemeldet?“

„Nicht, dass ich wüsste, das hätte sie mir sicher erzählt! Hältst du mich bitte auf dem Laufenden?

„Ja, mach ich“, sagte Clara in einem Ton, der Jens das Herz brach. Diese Frau hatte weiß Gott schon ein unglaublich schweres Leben zu meistern. Was er ihr jetzt noch angetan hatte, raubte ihr sicher den letzten Rest Lebensfreude und Lebensmut. Das Mädchen war ihr Ein und Alles – ihr Lebensinhalt, ihr Grund zu leben und jeden Tag zu kämpfen, damit ihrem Kind eine bessere Zukunft ermöglicht wurde. Es gab nichts anderes in Claras Leben, das zählte, das Sinn machte oder wofür es sich lohnte, sich jeden Tag aufs Neue anzustrengen! Das wusste Jens nur zu gut und deswegen lastete die Schuld noch schwerer auf ihm.

Jetzt musste die Polizei doch gleich klingeln. Er hörte schon viele Stimmen vor dem Haus, wollte sich aber noch ein bisschen zurechtmachen – er musste wie ein Gespenst aussehen. Und ja, er erschrak selber fürchterlich vor seinem Spiegelbild. So hatte er sich selbst noch nie gesehen – völlig entstellt! Ein Fremder starrte ihn an! Das gab es doch nicht – er rief sich in Erinnerung, wie er ausgesehen hatte, bevor er sich vom Friseur auf den Weg zu seinem großen Auftritt im Geschäft gemacht hatte. Er dankte dem lieben Gott für das große Geschenk, das er allein mit seinem Aussehen und seiner Ausstrahlung mit auf seinen Lebensweg bekommen hatte. Dass er zusätzlich auch noch mit einem sogenannten „guten Herz“, Einfühlungsvermögen und mit einem extrem hohen Maß an sozialer Kompetenz ausgestattet war – dafür war Jens wirklich wahnsinnig dankbar. Es war ihm vollkommen bewusst, dass das alles Gottes Gaben waren – ein großes Geschenk der Natur, denn er kannte nur sehr wenige Menschen, die das Glück hatten, mit all diesen Komponenten ausgestattet zu sein. Ja, das dachte er wirklich an dem Morgen voller tiefer Demut und Dankbarkeit.

Er wusch sich und kämmte sich, zog neue Kleidung an. Zu mehr war er nicht in der Lage und wollte es auch nicht. Also ging er wieder ins Erdgeschoss und wartete, dass die Polizei ihn verhören würde. Er wartete und wartete … Sie sollten endlich klingeln, dass er es hinter sich bringen konnte. Aber es passierte nichts – die Stimmen wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Jens traute sich an das Fenster, von dem man auf den Eingangsbereich schauen konnte. Da war keiner mehr. Wie konnte das sein? Die Beamten hatten sich wohl kaum mit der Aussage, dass niemand zu Hause war, zufriedengegeben. Sie mussten doch trotzdem alle Möglichkeiten checken. Sicher würden sie noch einmal zurückkommen. Aber es wurde langsam dunkel und es passierte nichts mehr.

Je länger Jens über seine Situation nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er sich schnell entscheiden musste, wie er sich verhalten sollte. Er entschied als Erstes, dass es das Vernünftigste wäre, morgen wieder ganz normal ins Büro zu gehen! Er wusste, dass er es schaffen würde, Charlene nicht sofort den Hals umzudrehen, weil die Sorgen um Joy noch viel intensiver waren als der Hass auf seine Assistentin. Entschuldigung – Chefin! Big Boss!

Plötzlich hatte er so große Sehnsucht nach seiner Familie. Sofort rief Jens Celine an und freute sich auf ihre Stimme. Er erhoffte sich eine beruhigende Wirkung, die Celine fast immer auf ihn hatte. Fröhlich rief sie: „Hallo Schatz, ich freu mich so, dass du dich meldest. Ich vermisse dich so!“

Genau so hatte es sich Jens gewünscht. Sie tat ihm so gut und es bestätigte ihm nochmals das Gefühl, alles dafür tun zu müssen, um diese wunderbare Frau nicht zu verlieren. „Oh Liebling, ich habe so einen Stress, es ist der reinste Horror. Entschuldige, weil ich immer so kurz angebunden war. Ich vermisse dich auch so sehr und natürlich auch unsere Racker. Alles okay bei euch? Wie geht es Margot?“

„Am Montag bekommt sie ihren Herzschrittmacher. Sie ist aber schon wieder ganz die Alte – flotte Sprüche, gesunder Appetit und eitel wie immer. Ich musste schon einen Großeinkauf machen, weil alles nicht schick genug war, was ich aus ihrem Schrank mitgebracht habe. Sie schäkert mit den Ärzten und ist der Liebling der Krankenschwestern. Ist es okay, wenn ich noch die ganze nächste Woche bei ihr bleibe und sie dann mit zu uns bringe, bis sie zur Kur kann?“

„Na klar, Süße, so machen wir das! Wir kommen hier schon klar. Ich werde versuchen im Geschäft etwas kürzer zu treten …“ Das war ein Fehler – sofort wurde es ihm klar, aber es war zu spät. Celine war eine sehr intelligente Frau, die sofort fragte, wie das gehen solle, jetzt, da er doch der wichtigste Mann in der Firma war. Er solle doch seine Mutter fragen, ob sie für die eine Woche aushelfen könne.

Und jetzt? Sollte er sofort beichten? Nein, das wollte er nicht am Telefon besprechen, sondern unter vier Augen erklären. Aber von Joy wollte er unbedingt noch erzählen. Celine war sehr beunruhigt und stellte auch sofort fest, dass es ganz und gar nicht zu Joy passe, einfach abzuhauen. Sie stellte noch ein paar Fragen, aber Jens konnte kaum eine beantworten. Erleichtert war er trotzdem, dass sie darüber gesprochen hatten.

Am nächsten Morgen überlegte Jens einen kurzen Moment, ob er nicht doch zu Hause bleiben sollte, aber nachdem er sich die Argumente, die für das Gehen sprachen, nochmals vor Augen geführt hatte, gab er sich einen Tritt und machte sich auf den Weg ins Bad. Er war so froh, dass er nicht wieder so schlecht geträumt hatte – das hing aber wahrscheinlich mit der Schlaftablette zusammen, die er genommen hatte. Dadurch hatte er so tief und fest geschlafen wie schon lange nicht mehr. Und trotzdem ließen ihn die Bilder des Traumes nicht los. Er glaubte nicht wirklich, dass er Joy etwas angetan hat – bis auf die Vergewaltigung natürlich. Ja, das war natürlich schlimm, sehr schlimm, aber kein Vergleich zu dem Geträumten. Er hätte in dem Zustand weder eine Leiche aus dem Haus schleppen können noch den ganzen Weg bis in den Wald. Und Spuren von einem Kampf oder gar Blut gab es im ganzen Haus nirgendwo! So ein Unsinn – nein, er hatte Joy nichts weiter angetan. Trotzdem beschloss er, in den Wald zu laufen und an der Stelle, von der er geträumt hatte, nachzuschauen, nur um sich selbst zu beruhigen. Die Polizei hatte doch schon alles abgesucht – also sicher auch den Wald. Auf der anderen Seite schien es ihm, als ob sie die Sache wirklich nicht sonderlich ernst genommen hatten, weil sie es nicht einmal für nötig hielten, ihn zu vernehmen.

Natürlich war im Wald nichts, dennoch fing er an zu zittern, zu schwitzen und gegen akute Atemnot anzukämpfen, je mehr er sich der Stelle näherte. Ganz deutlich sah er die Bilder aus seinem Traum. Er war so am Ende, als er wieder zu Hause ankam, dass er sich noch einmal duschen und frisch anziehen musste! Ich werde zum Psycho! Ich werde immer wieder Albträume haben! Ich werde nie mehr mit einem guten Gefühl in den Wald können. Ich werde keinen Tag mehr ohne Schuldgefühle haben – egal wie das Ganze ausgeht.

Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Joy etwas passiert sein musste. So wie er sie kannte, würde sie doch ihrer Mutter, für die sie immer mehr die Führer- und Beschützerrolle übernahm, diese Sorgen nicht antun. Sie musste tatsächlich irgendwo so liegen, wie er es in seinem Traum gesehen hatte … Nur dass sicher nicht er der Mörder war. Aber er hatte sie auf jeden Fall aus dem sicheren Haus vertrieben! Wieso hatte sie aber auch so aufreizend dagesessen und wieso sah sie Charlene so ähnlich? Sogar ihre Art zu lachen, ihr Bewegungsablauf … Alles war so identisch gewesen. Dass er überhaupt zu solchem Hass fähig war, den er in dem Moment empfunden hatte, entsetzte ihn immer noch. Der verdammte Alkohol!

Andererseits war es ja auch wirklich keine Kleinigkeit, die sich Charlene geleistet hatte. Sie hatte von einer Sekunde zur nächsten seinen beruflichen Lebensplan zerstört, für den er sehr hart gearbeitet und unheimlich viel Verzicht geübt hatte. Dass er mit einem Menschen, der so schlecht, böse und berechnend war, so lange so eng zusammengearbeitet und es nicht bemerkt hatte, war doch unfassbar. Er dachte an die vielen Geschäftsreisen, die sie zusammen unternommen hatten. Beide hatten immer großes Interesse daran, auch für etwas Freizeit zu sorgen, um sich gemeinsam Sehenswürdigkeiten anzuschauen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen. Dabei hatten sie stundenlange Debatten geführt und sich die Köpfe heiß geredet – nicht nur über Geschäftliches. Es wurde aber auch nie zu privat. Jens dachte, Charlene wirklich gut zu kennen – er hätte für sie die Hand ins Feuer gelegt. Er hatte sich immer wohl in ihrer Gegenwart gefühlt. Wie konnte er so blind sein? Er zweifelte an seiner Menschenkenntnis! Es nützte alles nichts, er würde noch sehr lange brauchen, um das alles zu verkraften, aber momentan stand Joys Verschwinden im Vordergrund.

Er machte sich auf den Weg ins Büro und hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte, und noch viel weniger, wie die anderen sich verhalten würden. Aber es war ganz einfach! Herr Melzer und Herr Arnauld schienen sich mit dem Gedanken, dass Charlene die Position eingenommen hatte, bereits abgefunden zu haben. Mehr noch, sie schienen sehr zufrieden zu sein. Es gab gleich ein Meeting, in dem Jens die gewohnte Position des Assistenten einnahm und Charlene ganz selbstverständlich den alten Melzer-Platz. Es fühlte sich komisch an, doch alle gingen so selbstverständlich mit der Situation um, dass Jens fast dankbar war. Keine Fragen, keine komischen Blicke – nur Charlenes erster Blick sollte ihn ganz offensichtlich daran erinnern, wer am längeren Hebel saß. Aber danach war auch sie so wie immer.

Er konnte es nicht fassen, dass hinter so einer hübschen, freundlichen, warmherzigen Fassade ein solches Teufelsweib steckte. Auch spürte er Enttäuschung darüber, dass zumindest Herr Melzer nicht einmal bedauerte, dass er den Job nicht übernommen hatte. Hielt er doch nicht so viel von ihm oder war es ihm einfach egal, wie es in diesem Laden weiterging? Egal, das alles war momentan zweitrangig. Er musste dankbar sein, dass alles so einfach vonstattengegangen, er nicht in Erklärungsnot gekommen oder größerer Druck auf ihn ausgeübt worden war … So musste er jetzt einfach denken! Und Schluss! Jens versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Und so verging ein Tag nach dem anderen. Jens rief täglich mindestens dreimal mit zitternden Händen bei Clara an, mehr passierte nicht. Es war zum Verzweifeln – die Polizei suchte jetzt mit Hochdruck nach Joy und auch die Presse wurde eingeschaltet. Alle Gespräche mit Celine und den Kindern drehten sich nur um Joy. Magdalena war nur noch am Heulen und alle hatten einfach nur panische Angst vor dem Anruf, dass sie leblos gefunden wurde. Trotz aller möglichen Suchaktionen schienen sie Jens völlig ausgeklammert zu haben. Clara hatte bei der Aufgabe der Vermisstenanzeige zwar von dem Herzinfarkt und plötzlichen Aufbruch der Familie Dornbach erzählt, dass Jens aber nicht mitgefahren war, schien keinen zu interessieren. Auch ein Geschäftsessen beziehungsweise eine Feier am Abend waren für alle, Clara eingeschlossen, so selbstverständlich, dass er einfach nicht befragt wurde. Wenn herauskam, dass er zu Hause gewesen war … Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen.

Endlich war die Woche rum. Am Samstagabend gab es eine aufwendige Galaveranstaltung mit der kompletten Belegschaft, bei der die neue Geschäftsführerin gefeiert wurde. Alle Ehre, die eigentlich Jens sich verdient hatte, kam Charlene zugute. Ihm war zum Heulen zumute, aber er schaffte es irgendwie den Eindruck zu erwecken, dass das alles so vollkommen in Ordnung für ihn war. Er machte gute Miene zum bösen Spiel, und zwar sehr gekonnt und überzeugend. Magdalena musste die schauspielerische Fähigkeit von ihm geerbt haben. Bisher hatte er von diesem Talent nie etwas bemerkt. Aber er machte alles ganz automatisch – im richtigen Moment lächeln, das Richtige sagen, sich kleinmachen, wenn Charlene das Wort ergriff. Ja, es funktionierte alles erstaunlich gut.

 

Am meisten überraschte ihn, dass er keinen großen Hass für Charlene empfand. Das lag aber sicher daran, dass er momentan nur ein Gefühl hatte – Angst um Joy. Es gab keinen Platz für andere Gefühle. Die Schuld und Scham erdrückten ihn. Clara war ihm nie sonderlich sympathisch gewesen, was sicher an ihrem Verhalten seiner Familie gegenüber lag, aber jetzt tat sie ihm so unendlich leid. Und nun war er für sie auch noch die engste Bezugsperson. Es schien sonst keinen Menschen in ihrem Leben zu geben. Jens hatte ihr alles, was sie hatte, genommen.

Am Sonntagmorgen machte Jens sich auf den Weg ins Krankenhaus, nachdem er mit Clara gesprochen hatte. Es gab nichts Neues. Es tauchten auch keine Zeugen auf, die das Mädchen gesehen hatten. Sie war einfach wie vom Erdboden verschluckt. Jens hatte Clara sogar angeboten, mit ihm zu fahren, aber sie wollte sich keinen Zentimeter vom Telefon wegbewegen, was er auch gut verstehen konnte.

Die Wiedersehensfreude war groß. Erst jetzt merkte Jens, wie sehr er seine Familie vermisst hatte. Auf der anderen Seite war es das Beste, was ihm passieren konnte, dass sie nicht zu Hause gewesen waren. Er hatte sehr schlimme Tage und Nächte hinter sich. Der Versuch, ohne Schlaftabletten zur Ruhe zu kommen, war kläglich gescheitert – wenn er überhaupt einschlafen konnte, dann träumte er schreckliche Dinge. Auch die Panikattacken kamen immer häufiger und sie wurden auch kontinuierlich schlimmer. Wenn er auf der Straße ein Mädchen mit langen, blonden Haaren sah, zuckte er zusammen. Er fing an zu zittern, als ob er an Parkinson erkrankt wäre. Aber es war niemals Joy gewesen. Einerseits wusste er nicht, wie er diese Zustände vor seiner Familie verbergen sollte, andererseits erhoffte er sich durch sie Ablenkung und Erleichterung.

Nach der ersten Freude kehrte nach seiner Auskunft, dass es von Joy nichts Neues gab, große Trauer ein. Vor allem Magdalena hängte sich an ihn und suchte Trost und Kraft. Ausgerechnet bei ihm – er fühlte sich so schmutzig, so falsch. Wie sollte er mit dieser Schuld weiterleben? Er musste sich zusammenreißen, das war er seiner Familie schuldig. Er durfte sich nicht um seine Gefühle kümmern! Seine Familie durfte durch seinen Fehler nicht leiden! Es war für alle schon schlimm genug, mit Joys Verschwinden klarzukommen, aber wenn er sich jetzt auch noch offensichtlich verändern würde, wären alle hoffnungslos überfordert. Er musste wie immer der Fels in der Brandung sein. Und nichts anderes kam infrage! Ob er die Kraft aufbringen würde, das wusste er noch nicht. Es stand ja auch noch das Gespräch mit Celine wegen seines Jobdilemmas an. Das wollte er aber in Ruhe bei einem Spaziergang erledigen.

Der Tag wurde dann trotz Angst und Trauer ein recht schöner. Margot freute sich riesig über den Besuch „des best aussehenden, höflichsten und liebenswertesten Schwiegersohns der Welt“, wie sie Jens dem Pflegepersonal vorstellte. Ihre Tochter habe verdammt großes Glück, dass sie nicht fünfundzwanzig Jahre jünger sei, denn sie würde alles dafür tun, um Jens zu bekommen! Sie verbreitete wie immer gute Laune und wenn Jens es nicht besser wüsste, würde er nicht glauben, dass sie einen Herzinfarkt hatte.

Später unternahmen sie den Spaziergang, den er sich von Celine wünschte. Sie freute sich, dass er mit ihr allein sein wollte. Sie liebte ihn so sehr – er war etwas Besonderes! Sie dachte oft: Wenn es Engel auf Erden in Menschenform gibt, dann ist Jens einer davon. Was für ein Glück sie doch hatte!

Was sie dann aber zu hören bekam, verschlug ihr die Sprache. Nicht, dass sie persönlich großen Wert darauf legte, Frau des großen Geschäftsführers zu sein – also die CaDe-First Lady –, aber für ihn war es doch so wichtig gewesen. Er hatte sich dafür aufgerieben, hatte oft sogar auf Urlaub mit seiner Familie verzichtet – was ihm, wie sie sicher wusste, verdammt schwergefallen war. Nein, sie konnte es weder verstehen noch glauben, was er da erzählte. Er habe freiwillig verzichtet – er habe seine Bewerbung zurückgezogen und Charlene für die Position vorgeschlagen. Seine Begründung, dass er noch weniger Zeit für seine Familie hätte, noch öfter und noch längere Reisen unternehmen müsste, konnte sie ihm nicht abnehmen. Sie kannte ihn zu gut und spürte, dass hier etwas nicht stimmte. Aber alles, was sie sagte und ihm unterstellte, wurde von Jens abgeschmettert. Weil sie merkte, dass sie ihn damit quälte, beschloss sie, es erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Sie wollte auch nicht im Streit auseinandergehen. Aber hier stank etwas bis zum Himmel!

Schließlich kam der Zeitpunkt der Trennung und die war schwerer als gedacht. Celines Nähe war Balsam für seine Seele, aber es war wichtig für sie, bei Margot zu bleiben, und er wollte es ihr nicht unnötig schwer machen. Die Kinder würden ihn schon so beanspruchen, dass er kaum Zeit zum Nachdenken haben würde.

Magdalena bat ihn, sobald sie im Auto saßen, Clara anzurufen. Sie selbst wollte es nicht tun, denn auch sie mochte Clara nicht besonders, weil diese sie immer komisch behandelt hatte. All die Jahre hatte sie ihr immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie in ihren Augen nur ein schrecklich verwöhntes Gör war. Magdalena ging nicht gern zu Joy nach Hause. Übernachtet hatte sie dort auch nur in äußerster Not und unter großem Wehklagen. Das Telefonat ergab nichts Neues. Joy blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Irgendwie ging auch die folgende Woche rum – die Stimmung war zwar nicht mit der sonstigen im Hause Dornbach vergleichbar, aber das war auch gut so. Den üblichen Rummel hätte Jens nur mit viel Mühe ertragen. Die Kinder waren sehr still und traurig. Sie erfüllten ihre Pflichten. Magdalena freute sich nicht einmal über ihre 1,5 in Mathe, dabei hatte sie es noch nie in ihrer Schullaufbahn geschafft, in diesem Fach eine bessere Note als 2,5 zu schreiben. Im Normalfall hätte sie eine Party angeordnet. Aber so ließ sie Jens unterschreiben und legte sie mit dicken Tränen in den Augen beiseite. Ihr Anblick zerbrach Jens das Herz. Joy fehlte ihr so sehr! Sie war die Einzige, die laut aussprach, dass Joy nicht mehr am Leben sein könnte oder zumindest irgendwo unfreiwillig festgehalten wurde, weil sie aus freien Stücken ihre Mutter niemals mit solchen Sorgen belasten würde. Jeden Tag nach der Schule lautete die erste Frage: „Gibt es was Neues von Joy, Papa?“

Marilena und Jonas verbrachten fast die komplette Freizeit in ihren Zimmern. Die Polizei hatte die Kinder nach auffälligem Verhalten, Lieblingsplätzen oder Geheimverstecken befragt, aber weitergebracht hatten die Auskünfte die Ermittlungen nicht. Seltsam für Jens war, dass sie ihn ausschließlich nach seiner persönlichen Meinung über Joy befragt hatten, und auch das nur sehr kurz und oberflächlich. Nur gut, dass niemand seine Gedanken lesen konnte, denn während der Befragung bekam er Schnappatmung … Dass das keinem aufgefallen war, unglaublich! Er war der Ohnmacht nahe gewesen! Urplötzlich waren die Beamten jedoch aufgestanden und hatten sich verabschiedet. Jens wusste nicht, wie ihm geschah – sie waren weg und er immer noch ein freier Mann!

Selbst Max war ganz still und bewegte sich kaum von seiner Decke weg. Jens hatte es immer noch nicht geschafft, mit ihm in den Wald zu laufen. Er suchte neue Wege, die er mit seiner Familie gehen konnte. Er dachte über einen neuen Job und einen Umzug in eine andere Stadt nach. Zu sehr brachten sie alles hier mit Joy in Verbindung. Bei allem, was sie taten, an jedem Ort, wo sie sich aufhielten, bei jedem Spiel, das sie spielten, bei jedem Gericht, das gekocht wurde, bei jedem Lied, das im Radio lief, einfach bei allem gab es irgendwie eine Verbindung zu Joy. Bei dem Bau des Baumhauses hatte sie die Regie übernommen, weil sie in solchen Dingen äußerst geschickt war und Jens eher ein bescheideneres Talent aufweisen konnte. Sie hatte tagelang mit Celine, die Architektin war, geplant, gezeichnet, Einkaufslisten geschrieben und Arbeitseinsatzplanungen entworfen. Sie war so präsent in ihrem Leben gewesen. Das war Jens nie so bewusst. Joy war für ihn und Celine beinahe wie ein eigenes Kind. Sie gehörte mit einer solchen Selbstverständlichkeit dazu – selbst bei der Urlaubsplanung wurde sie meistens mit einbezogen. Nur auf ganz großen Reisen wurde Joy nicht mitgenommen. Schon deshalb nicht, weil Clara es nicht erlaubt hätte.

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