KüstenSaat

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Blutrausch

Samstag, früher Morgen

Es war ein grausames Bild, das Simon Weil am frühen Morgen entgegenprallte. Das verlassene Fahrzeug am Straßenrand in einiger Entfernung fiel ihm nicht auf, noch nicht. Zu entsetzt war er von dem schlimmen Bild vor sich. Blut, überall Blut. Beim Anblick des aufgerissenen Leibes schlug Simon bestürzt die Hände vors Gesicht. So viel Blut! Und es war noch nicht alles, der Blick in die starren, toten Augen war schlimmer, viel schlimmer. Er erkannte sie sofort. Er kannte alle seine Mädels, dieses war ihm jedoch das liebste, und ausgerechnet es hatte es getroffen.

Nachdem er sich von seinem ersten Schock erholt und die Fassung zurückgewonnen hatte, zückte Simon sein Handy und suchte nach einer Nummer.

Als es am anderen Ende knackte, noch bevor sein Gegenüber sich meldete, rief er in den Apparat: „Wach auf, Jo! Dieser verdammte Killer hat heute Nacht wieder zugeschlagen! Wir müssen etwas unternehmen. Ruf alle zusammen, und sie sollen ihre Gewehre mitbringen.“

„Was ist denn los?“, kam es schlaftrunken aus der Leitung, und Simon fuhr fort: „Wir treffen uns in einer Stunde bei mir am kleinen Landhaus. Ich gebe nicht eher auf, bis wir diesen brutalen Mörder abgeknallt haben.“

Nun war Jo hellwach und verstand.

„Okay, in einer Stunde. Hast du die Polizei informiert?“

„Nein, mach du, wenn du meinst, es muss. Ich hab die Schnauze voll und nehme das jetzt selbst in die Hand.“

„Simon!“, rief Jo noch, aber der hatte das Gespräch schon beendet.

Es war kalt, die Luft feucht. Simon schaute sich um. Bodennebel hing über der Weide neben dem kleinen Landarbeiterhaus. Das grausame Bild vor ihm verdeckte der Nebel allerdings nicht. Er machte ein paar Schritte zur Straße und schaute sich um.

Am Wegesrand, rechts auf der Berme (Randstreifen an der Straße), vielleicht hundert Meter von ihm entfernt, stand ein Wagen. Fahrer- und Beifahrertür waren weit geöffnet. Sehen konnte er jedoch niemanden. Eigenartig. Wer parkte dort, so früh am Morgen? Hatte das etwa was mit dieser Bluttat hier zu tun?

Dicht neben ihm rauschten zwei Pkw vorbei. „Idioten, ihr kommt noch früh genug auf den Friedhof!“, fluchte er.

Simon warf einen kurzen Blick zurück und stapfte auf das unbekannte Fahrzeug zu. Es handelte sich um einen schwarzen Kombi mit fremdem Kennzeichen.

„Is’ nich von hier wech!“, murmelte er. „Is’ von Hannover wech!“

Ein Blick in das Wageninnere ließ ihn erkennen, dass der Kofferraum voller Pakete und Päckchen war, die Rückbank, Fahrer- und Beifahrersitz, bis auf eine dunkle Reisetasche, allerdings leer waren. Keine Menschenseele weit und breit. Aber etwas verwunderte den Mann. Der Wagen schien sehr gepflegt und aufgeräumt, doch Fahrer- und Beifahrersitz waren mit Schmutz- und Erdbrocken verdreckt. Kleine Abdrücke konnte er sehen. Keine Fuß- oder Handabdrücke – nein, das sah aus wie die Abdrücke von Pfoten. Hundepfoten? Oder ...? Sein Magen rebellierte. Mit den Fingerspitzen fuhr er vorsichtig über das Lenkrad und rieb sie aneinander. Diese klebrige Masse …, war das Blut? Simon stellte sich auf und blickte nachdenklich Richtung Weide. In einiger Entfernung lag eines seiner besten Schafe, mit aufgerissenem Leib und ausgeweidet, in seinem Blut. Aber hier? Sollte dieser Mörder hier etwa auch zugeschlagen haben? Simon wagte nicht, den Gedanken weiterzudenken, und pfiff durch die Zähne.

Max, sein Hütehund, kam angeflitzt.

Nachdem Simon einige Male um den Wagen herumgelaufen war und laut „He, hallo, ist da jemand?“ gerufen hatte – vielleicht war der Fahrer ja nur in die Büsche zum Pinkeln verschwunden –, entschied er sich, doch die Polizei zu rufen. Hier musste etwas passiert sein.

„… ja, sehr eigenartig, und der Schlüssel steckt im Schloss!“, erklärte er dem diensthabenden Beamten noch.

Früher Vogel

am Samstagmorgen

Kriminalhauptkommissar Carsten Schmied saß schon seit einer Stunde am Schreibtisch in seinem kleinen Büro im Kommissariat der Wittmunder Kriminalpolizei. Das Büro nebenan, das er sich bis vor Kurzem mit seinen Kollegen Tomke Evers und Hajo Mertens geteilt hatte, war noch leer und die ganze Etage um diese Uhrzeit besonders ruhig. Carsten liebte diese geruhsame Stunde, in der er den Papierkram erledigen konnte. Darum hatte er auch den Samstagsdienst übernommen.

Erinnerungen an die zurückliegenden Monate nahmen von ihm Besitz.

Eine schwierige Zeit lag hinter Carsten und seinem Kollegen Hajo Mertens. Nicht nur, dass diese verdammte Pandemie seit einiger Zeit für Chaos sorgte, nein, es waren Monate, in denen er und Hajo hier auch noch ohne die Kollegin Tomke Evers hatten auskommen müssen, denn …

Doch dann wurden seine Gedanken vom Klingeln des Telefons unterbrochen.

„Was gibt’s?“, brummte er in den Hörer.

„Een doodes Schaf …!“, antwortete Jan, der Diensthabende von der Zentrale. Solche knappen Informationen der ostfriesischen Kollegen nervten ihn auch heute noch manchmal, wenngleich er deren Art inzwischen kennen sollte. Schließlich lebte der gebürtige Hesse nun schon einige Jahre in Ostfriesland. Doch dann sprach Jan weiter: „… und Blutspuren in einem Fahrzeug.“

„Und was soll ich dabei tun? Ist doch nicht unser Ding, wenn jemand ein Schaf überfährt. Holt ’nen Förster oder besser den Schäfer.“ Carsten war genervt. Die Doppelbelastung als „Oberchef und Ermittler“, wie er sich sarkastisch selbst nannte, machte ihm zu schaffen, vor allem, weil Tomke eben nicht da war. Auch seine Familie litt unter dieser Mehrbelastung. Marie und Felix, die beiden Kinder, ließen ihn das deutlich merken. Michaela, seine Frau, beschwerte sich nur leise, verstand sie sein Problem doch nur zu gut.

„Ganz so einfach ist es nicht!“, erklärte Jan und holte ihn aus seinen Gedanken zurück. „Und für deinen Stress bin ich nicht verantwortlich. Was glaubst du denn, warum ich dich anrufe? Ich sagte: ‚Blutspuren im Fahrzeug‘ und nicht: am Fahrzeug. Außerdem ist kein anderer da. Also, mach hinne, Boss! Oder hast du keinen Samstagsdienst? Hajo habe ich schon informiert, der kommt direkt hin.“

Er kann in mehreren Sätzen sprechen, welch Wunder, schoss es Carsten durch den Kopf, meinte dann aber:

„Okay, okay, ich komme runter, kannst mir dann ja genau auseinanderklamüsern, was da passiert ist und wo.“

„Hä?“, kam es von Jan, doch Carsten hatte schon aufgelegt.

Er griff erneut zum Telefon, um Tomke zu informieren, ließ allerdings den Hörer mit einem Seufzer wieder sinken. „Scheiß-Automatismus!“, murmelte er und setzte nach: „Ach, Tomke!“ Sie fehlte ihm hier auf dem Kommissariat schon sehr.

Carsten stand auf und zog seine Jacke von der Stuhllehne. Jan hatte ja recht, sie waren hier wirklich für alles zuständig.

Mit wenigen Sprüngen nahm er die Treppe ins Untergeschoss, steckte den Kopf durch die Tür der Zentrale und wollte von Jan wissen, wo genau er denn nun eigentlich hinfahren müsse.

Der hielt ihm einen vorbereiteten Zettel hin und meinte augenzwinkernd: „Verschwinde, Hajo ist sicher schon fast dort.“

Carsten las die Adresse. „Das ist doch Richtung Esens, nein, Richtung Wiesmoor, oder? Na, das schafft Hajo nicht, der reist ja inzwischen aus Harlesiel an. Wer sichert den Ort des Geschehens?“, fragte er noch knapp.

„Beert und Inka hab ich hingeschickt.“ Jan wandte sich wieder der Telefonanlage zu, die blinkte und schon wieder klingelte. Kurz bevor Carsten die Ausgangsschleuse der Polizeistation betrat, rief ihm Jan noch nach: „Schnutenpulli dabei?!“

„Jow!“

Treibjagd

Samstagmorgen

Die Landstraße war inzwischen gut belebt. Immer wieder rasten Fahrzeuge an ihm vorbei. „Berufsverkehr, trotz Samstag und Corona“, resignierte Simon. Keines der Fahrzeuge beachtete ihn oder hielt gar an.

Nachdem der Mann den seltsamen Fund bei der Polizei gemeldet hatte, hörte er aus der Ferne einige Fahrzeuge auf sich zukommen, die nun ebenfalls am Seitenrand in der Nähe seines eigenen Wagens hielten.

Na endlich, da ist Jo mit den anderen. Ganz kurz schien der erste Vorfall, vorne auf seiner Weide, vergessen. Noch immer hielt er sich an dem fremden Fahrzeug auf.

„Bleiben Sie dort, aber fassen Sie nichts an“, hatte der Mensch von der Polizei ihn am Telefon angewiesen.

Simon sog tief die Luft ein und wischte sich die Finger an der Hose ab. „Wie werde ich denn, einmal reicht!“

„Was ist da los?“, rief ihm Jo aus einiger Entfernung zu, nachdem er aus dem Auto gestiegen war. Er zeigte auf den verwaisten Wagen.

Simon ging auf Jo und die anderen zu und meinte: „Erzähl ich dir später. Die Polizei schlägt hier gleich auf, und …“

„Ich denke, du wolltest keine Polizei dabeihaben, ich hab sie auch nicht angerufen. Was denn nu? Rin in die Tuffels, rut us de Tuffels?“

„Nee, nee. Hat nix miteinander zu tun. Dort“, Simon zeigte auf den Wagen, „ist etwas passiert. Hab die Polizei informiert. Ich musste auch das mit dem Schaf melden, warum sonst bin ich früh am Morgen hier? Aber wie gesagt, erzähl ich dir später. Geht ihr auf die Suche nach dem Biest und knallt es ab. Macht schnell, bevor die Polizei kommt, sonst gibt es Schwierigkeiten.“ Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. Der wandte sich kopfschüttelnd ab. Jo Freitag war es nicht wohl bei dem Gedanken, die Wölfe einfach abzuschießen. Sicher, auch ihm wurden schon Schafe gerissen, aber er suchte nach einer anderen Lösung.

„Ach, noch was!“, rief Simon ihm nach, „passt auf, wenn ihr schießt, es kann sein, dass sich jemand im Wald verlaufen hat.“

Jo murmelte etwas, das Simon nicht verstand, aber das war auch egal. Er hoffte, dass die Polizei bald eintreffen würde, damit er sich um seine Arbeit und das ausgeweidete Schaf kümmern konnte.

 

Samenraub

Samstag, ganz früher Morgen

Als Jana zu sich kam, war es stockfinster um sie herum. Stockfinster und kalt. Benommen und unbeweglich lag sie eingeschnürt in einem engen Raum, aber wo?

Ihr Schädel brummte, der ganze Körper schmerzte. „Was ist … Wo bin ich?“ Die junge Frau wurde sich erst jetzt der Enge ihrer Behausung wirklich bewusst und reagierte panisch. Sie bekam kaum Luft, konnte nur durch die Nase atmen, über ihrem Mund klebte etwas. Jana würgte. Wenn sie sich jetzt erbrach, ahnte sie, wäre das ihr Tod. Ein jämmerlicher Erstickungstod. Sie versuchte sich zu bewegen, aber das erwies sich als fast unmöglich. Lediglich ihren Kopf konnte sie etwas anheben, doch das war nicht gut. Schnell legte sie ihn wieder ab, zu stark schmerzten Schädel und Nacken. Verdammt, verdammt, was soll das? Jana, fast gelähmt vor Angst, wand sich nun hin und her, rieb ihr Gesicht über den Boden und versuchte, das Klebeband vom Mund zu schieben. Inzwischen konnte sie klarer denken, war voll bei Bewusstsein. Nun bemerkte die junge Frau auch, dass ihre Hände auf dem Rücken gefesselt und ihre Beine um die Knöchel herum ebenfalls zusammengebunden waren. Sie fühlte die Beengtheit, fühlte unter sich den harten, kalten Untergrund und wenn sie den schmerzenden Kopf anhob, stieß der an etwas Metallenes. „Aua!“ Was konnte das nur sein? Wo hielt man sie gefangen und warum? Jana schossen Tränen in die Augen und gleichzeitig die Erkenntnis, dass in der Nacht etwas Schreckliches passiert sein musste.

Wie in einzelnen Puzzleteilen kam die Erinnerung nun zurück. Langsam, Stück für Stück.

Sie erinnerte sich an die Fahrt auf der Autobahn, den seltsamen alten Schlager im Autoradio, der sie geängstigt hatte und aus dem irgendwie Wahrheit geworden war. Wieder nahm der Ohrwurm Besitz von ihr.

♫ Rada rada radadadada, rada rada radadadada ♫

… trommelte es in ihrem Hirn.

Sie versuchte, die Melodie beiseitezuschieben und die Nacht zurückzuholen: dieses Auto, dicht hinter ihr. Lange, über etliche Kilometer.

Danach, so fiel ihr ein, war sie von der Autobahn auf das platte Land abgefahren und …

Und dann? Die Erinnerung verschwand. Janas Kopf schmerzte, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Wollte man sie entführen oder gar töten? Aber warum? Sosehr sie sich auch anstrengte, ihr Gedächtnis ließ sie im Stich.

Jana versuchte zu schreien, aber es kamen nur dumpfe Töne unter dem Klebeband hervor.

Plötzlich hielt sie inne. Da war etwas, draußen, außerhalb ihres dunklen Gefängnisses. Ein kratzendes Geräusch nahm sie wahr und … ein Heulen, ein Jaulen. Erneut tauchten kurze Erinnerungsblitze an die Nacht in ihr auf, verschwanden aber sofort wieder. Jana fröstelte. Wer war da draußen? Konnte sie es wagen, sich bemerkbar zu machen? Entschlossen hob sie ihre Knie, um gegen die Decke über sich zu klopfen, versuchte erneut zu rufen. Doch als Antwort erhielt sie nur ein weiteres Heulen. Kam das vom Wind?

Entmutigt sackte sie in sich zusammen und schluchzte stumm. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Minuten – oder waren es Stunden? – später kam sie wieder zu sich. Alles war wie gehabt und Realität, kein böser Traum. Jana überlegte, was sie tun könne, aber viel war es nicht, die Situation schien aussichtslos. Noch immer zermarterte sie sich den Kopf, was … und dann traf sie die Erkenntnis wie ein Blitz.

Die Koffer, durchfuhr es sie. „Man hat mich überfallen wegen der Koffer, die ich bei mir hatte und in Wiesmoor abgeben sollte.“ Die aber hätte man doch einfach nur nehmen müssen, warum nur lag sie wie in einer Sardinenbüchse gefesselt und geknebelt?

Ich will hier raus!, schrie es in der jungen Frau. Immer wieder: Ich will hier raus! Jana kämpfte mit einem Auf und Ab an Gefühlen. Kämpfte gegen Angst und Panik an.

„Der Code – mein Gott, wer die Koffer bekommt, den Inhalt korrekt nutzen will, muss auch den Code haben. Würde der Inhalt der Glasflaschen verwechselt, hätte das fatale Folgen. Aber den Code habe nur ich.“

Die Erleichterung darüber hielt nur einen kurzen Moment, zu verzweifelt war ihre Situation.

Der Überfall musste kurz vor Wiesmoor geschehen sein, also knapp vor ihrem eigentlichen Ziel und dem Treffpunkt zur Übergabe an den Kunden.

Kunde? War das wirklich das Ziel? Ein Kunde, oder war das Ganze eine Finte, um sie unterwegs zu überfallen? Sollte deshalb das Treffen nicht auf einem Hof, sondern an einer Wegkreuzung stattfinden? „So sparst du dir einen Umweg!“, hatte man ihr in der Firma gesagt. Von wegen.

Jana schlug vor Wut und Enttäuschung ihren Kopf gegen die Wand. Ich bin so blöde, durchfuhr es sie, ich bin eine so gottverdammte blöde Kuh! Man hatte sie gehörig reingelegt.

Mein Gott … so ein Mist …, wie komme ich hier nur heraus?

Vermisst

Samstagmorgen

„Wo bleibst du denn? Seit du ohne Tomke unterwegs bist, hast du ganz schön an Fahrt nachgelassen“, frotzelte Carsten, als sein Kollege, Hauptkommissar Hajo Mertens, wenige Minuten nach ihm bei dem verwaisten Fahrzeug ankam.

„Dir auch ’nen schönen guten Morgen!“, Hajo tippte sich an die nicht vorhandene Mütze und legte einen Mund-Nasen-Schutz an.

Allerdings wäre eine Mütze nicht schlecht; obwohl Frühsommer, pfiff ihm heute ein kalter Wind um die Ohren. In der Nacht zuvor hatte es heftig geregnet, die Luft war feucht und unangenehm.

Auch Carsten schien zu frieren, denn er hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, die Arme verschränkt. Hajo hielt seinem Kollegen den Ellenbogen hin, der tat es ihm nach und schubste ihn an.

„Was ist hier passiert? Haben wir eine Leiche?“, wollte Hajo wissen und schaute sich um.

„Nein, haben wir nicht, jedenfalls noch nicht!“

„Und was machen wir dann hier?“

„Wir warten auf die Spusi, denn im Wagen befinden sich Blutspuren, wie es scheint.“

Hajo legte die Stirn in Falten. „Und? Weiter?“

„Nun, das Fahrzeug steht hier wohl seit gestern Abend schon!“, fuhr Carsten fort, „und der Fahrer oder natürlich die Fahrerin ist verschwunden.“

„Offen und verlassen am Straßenrand?“, hakte Hajo nach.

„Jow!“

„Papiere?“

Carsten schüttelte verneinend den Kopf.

„Hast du schon eine Halterabfrage gemacht?“

„Läuft!“

„Sonst was?“

„Ja, im Kofferraum befinden sich Warenpackungen. Es handelt sich um tiermedizinische Präparate.“

„Also gehört der Wagen einem Mediziner, aber wo ist er?“, und setzte nach: „Oder sie?“

„Ja, das ist nun die große Frage. Mediziner oder auch Pharmavertreter, bei der Menge an Medikamentenschachteln im Kofferraum. Etwas anderes ist noch komisch. Schau doch mal in den Wagen, bitte.“

„Was …?“, fragte Hajo verwundert, ging dann aber doch auf das Fahrzeug zu. Er streckte seinen Kopf in das Innere des Fahrzeugs und schnupperte. „Es geht nicht um den Geruch, schau doch mal genau hin“, forderte Carsten seinen Kollegen erneut auf.

Der betrachtete sich den Innenraum lange und vorsichtig, um selbst keine Spuren zu hinterlassen, denn die Männer und Frauen der Spurensicherung mussten hier noch ihre Arbeit tun. Dann erkannte er, was Carsten wohl meinte. Am Lenkrad wie auch am Türholm schienen Blut und Haare zu kleben. Das musste natürlich genau untersucht und festgestellt werden, aber es sah tatsächlich nach Blut aus. Dann fiel sein Blick auf die Schmutzspuren auf dem Fahrer- und Beifahrersitz.

„Was ist denn das?“, rief er aus und stellte sich auf. Carsten verstand sofort.

„Haste gesehen? Ich denke, das sind Spuren eines Hundes.“

„Der Fahrer hatte einen Hund dabei?“, hakte Hajo nach.

„Oder derjenige, der das Ganze hier ausgelöst hat.“

„Überfall oder Entführung mit Hund?“

„Oder es war der Wolf!“, meldete sich eine Stimme hinter ihm.

Hajo drehte sich irritiert um. Bevor er etwas sagen konnte, schaltete sich Carsten ein.

„Das ist Simon Weil, er hat uns den verlassenen Wagen gemeldet.“

„Wie ist er Ihnen aufgefallen, der Wagen, meine ich.“ Hajo zeigte auf das Fahrzeug.

Simon nickte die Straße entlang Richtung seiner Wiese.

„Ich habe wie jeden Morgen nach den Schafen gesehen und dann die Sauerei entdeckt.“

„Sauerei? Das Auto …?“

„Nein, nicht das Auto, das habe ich erst später bemerkt. Ich meine das gerissene Schaf, mein Schaf, auf meiner Wiese.“

„Ach so, hm, das wusste ich nicht. Wann ist es passiert? Heute Nacht?“

„Jow.“

„Haben Sie hier jetzt auch Probleme mit dem Wolf?“

„Jow! Aber nicht mehr lange.“ Simon machte ein ploppendes Geräusch.

Die beiden Kommissare verstanden sofort. Carsten hob den Zeigefinger.

„Tztztz … das gibt aber großen Ärger. Wölfe stehen unter Schutz.“

„Jow, weiß ich, ist mir aber egal. Das ist nun das siebte Schaf aus meiner Herde, meine Kollegen haben auch schon etliche verloren. Der Wolf steht unter Schutz, dass ich nicht lache!“ Simon lachte meckernd auf.

„So geht’s nicht weiter, keiner greift ein, keiner hilft uns, dann helfen wir uns eben selbst.“

Im Hintergrund war ein Schuss zu hören.

„Das ist nicht euer Ernst!“, fuhr Carsten hoch.

Simon drehte sich achselzuckend um und trabte, die Hände tief in der Hosentasche vergraben, davon.

„Moment“, rief Carsten ihm nach. „So geht das nicht. Ihr könnt nicht in der Gegend rumballern und auf Wolfsjagd gehen. Es gibt Vorgaben, gerissene Schafe werden ersetzt, es gibt Zäune, die man aufstellen kann.“

„Zäune?“, stieß Simon aus und drehte sich wütend um. „Zäune helfen nur den Wölfen, denn so stecken die Schafe in einem Gefängnis und werden den Biestern auf dem Silbertablett serviert. Und was soll ich mit der Entschädigung? Da drüben liegt ein Schaf, verstehen Sie, ein Schaf! Kein Kuhfladen, kein umgefallener Baum. Wir alle ziehen unsere Tiere von Geburt an auf. Natürlich werden sie auch irgendwann geschlachtet, aber nicht hingerichtet, so wie in der letzten Nacht wieder. Und was sollen wir mit einer finanziellen Entschädigung, wenn solch ein Sauvieh sie zu Tode beißt oder halbtot elend verrecken lässt?“ Simon kochte vor Wut.

„Im Übrigen bin ich hier der Wolfsbeauftragte, sehe mich aber eher als Schafsbeauftragter, denn die gilt es zu schützen und unsere Existenzen. Nicht diese Bestien. Und außerdem bin ich der Wolfsbeauftragte der Schäfer, nicht der Wölfe oder dieser Tierschützer.“ Er zog die Augenbrauen hoch.

„Was haben Sie gegen Tierschützer?“, wollte Hajo jetzt wissen.

„Nichts, verdammt! Aber wer schützt unsere Tiere? Kommen Sie mal mit!“, forderte er die beiden Kommissare auf, „schauen Sie es sich an, den Anblick werden Sie so schnell nicht vergessen.“

Er zerrte Hajo am Ärmel. „Kommen Sie, nun kommen Sie schon!“

Der aber wehrte den Mann ab und erklärte: „Wir können hier nicht weg, ich glaube Ihnen ja, aber trotzdem …“ Simon hörte nicht mehr hin, wandte sich um und ging davon.

„Feigling!“, murmelte er noch.

Carsten winkte ab.

„Lass, ich habe seine Daten, die Adresse und so, wir fahren später mal zu ihm auf den Hof.“ Sie ließen den Mann gehen.

„Er hat ja recht, das ist wirklich ein großes Problem, aber im Moment nicht unseres.“ Carsten zeigte auf zwei ankommende Fahrzeuge und meinte: „Die Kollegen von der Spusi sind auch schon da, lassen wir sie ihre Arbeit machen.“

Er erklärte einem der Spurensicherer mit wenigen Sätzen, was hier vorlag, und bat darum, die Spuren im Wagen mit denen an einem toten Schaf zu vergleichen.

„Bitte was?“, der verstand nicht gleich. So unterrichtete Carsten ihn ausführlich über den Vorfall in einiger Entfernung auf der Schafswiese.

„Okay, dann schicke ich gleich mal einen meiner Jungs los, nicht dass der Schäfer dort schon aufgeräumt hat.“

Carsten nickte und fragte: „Wo ist Rikus heute?“

„Unterwegs!“, bekam er zur Antwort.

„Komm!“, forderte er dann Hajo auf. „Lass uns mal die Gegend ein wenig erkunden. Der Fahrer kann doch nicht vom Erdboden verschwunden sein.“

Hajo nickte und wollte, als sie einen kleinen Feldweg in Richtung Wald liefen, wissen: „Hast du im Wagen eigentlich irgendwelche Papiere gefunden?“

Carsten schüttelte den Kopf.

„Nein, nur ein Smartphone, aber das ist gesperrt. Da müssen die Kollegen ran.“ Dann zückte er sein Handy, nahm einen Notizblock aus der Tasche und wählte eine Nummer.

„Wir sind jetzt hier im Wald unterwegs, rufen Sie Ihre Leute zurück, damit die uns nicht abknallen.“ Kurz lauschte er auf die Antwort und meinte dann: „Ihr Wort in deren Gehörgang. Bis später, wir kommen noch bei Ihnen vorbei.“

 

Kurz darauf war ein lang gezogener Pfiff zu hören.

„Geht doch!“, sagte Carsten knapp und zufrieden.

Sie streiften eine Weile durch die Gegend, nahmen dann aber den Weg zurück zum verlassenen Fahrzeug, als Carstens Handy klingelte.

Es war der Kollege vom Präsidium, den er gebeten hatte, den Halter des Wagens zu ermitteln.

„Es handelt sich um das Fahrzeug eines Pharmaunternehmens aus Hannover. Die Firma heißt IMG und handelt mit Medikamenten. Wie es aussieht, gibt es auch noch Tochterfirmen, soll ich da weiter …?“

„Ja!“, unterbrach ihn Carsten. „Klemm dich dahinter und schick mir bitte die Nummer dieser IMG aufs Handy, ich rufe dort an. Danke dir.“

Carsten wischte über das Display und steckte sein Telefon weg.

Als sie wieder beim verlassenen Fahrzeug ankamen, wollte Hajo von den Spurensuchern gleich wissen, ob man schon Neuigkeiten für sie habe.

„Nein, nicht wirklich“, bekam er zur Antwort. „Was ich bestätigen kann, ist, dass die klebrige Masse am Lenkrad Blut ist. Blut, vermischt mit Haaren. Ob die Pfotenabdrücke vom Hund oder Wolf sind, kann ich nicht sagen, noch nicht. Allerdings – von einer Katze sind sie nicht.“

„Fingerabdrücke?“

„Später!“

„Okay!“, brummte Carsten und drehte sich zu Hajo um.

„Schau mal, der Schäfer ist noch da, lass uns hingehen. Vielleicht ist ihm ja noch etwas eingefallen.“

Kurz darauf meldete sein Handy eine eingehende Nachricht. Man hatte ihm die Telefonnummer der IMG geschickt.

Er blieb stehen und schlug vor: „Hajo, geh du schon mal vor, ich setze mich in mein Auto und rufe die Firma an, zu der dieser verlassene Wagen gehört. Die müssen mir ja sagen können, wer damit unterwegs ist oder war.“

Hajo nickte und setzte seinen Weg fort.

Nachdem er mehrere Versuche unternommen hatte und er es jedes Mal sehr lange hatte klingeln lassen, gab Carsten auf.

„Klar!“, murmelte er, „wir haben Samstag, da geht heute keiner ran.“

Nochmals wählte er die Nummer des Kollegen in Wittmund und bat ihn, jemanden bei der IMG ausfindig zu machen, der auch am Wochenende erreichbar war.

„Die können ja nicht, nur weil heute Samstag ist ‚toter Mann‘ spielen. Versuche dein Glück, es wäre gut, wenn das klappen würde.“

Als er seinen Wagen verlassen wollte, kam Hajo auf ihn zu und meinte kopfschüttelnd:

„Schaut wirklich grausam aus; das tote Schaf, meine ich.“

„Trotzdem kein Grund zum Rumballern, obwohl, wenn ich an deren Stelle wär, ich weiß nicht, was …“

„Sprich nicht weiter, Kollege, alles was du sagst, kann gegen dich … du weißt.“

Carsten musste lachen.

„Ich höre noch mal bei den Spurensuchern nach, ob sich was Neues ergeben hat, danach fahren wir zurück. Im Moment gibt es für uns hier nichts zu tun.“

„Jow!“, brummte Hajo, „muss ja auch nicht wirklich was passiert sein, oder?“

Carsten verstand nicht.

„Na, vielleicht hatte jemand ein paar Schluck oder ein Bier zu viel und hat deshalb das Auto hier abgestellt“, versuchte er zu erklären, glaubte aber selbst nicht wirklich daran, wie Carsten an seinem Gesichtsausdruck erkennen konnte.

Trotzdem führte der Hajos Gedanken fort.

„Und lässt beide Türen weit offen, medizinische Ware im Kofferraum, haut sich den Kopf am Lenkrad blutig, reißt sich ein Büschel Haare aus und der Schlüssel steckt auch? Jow, da muss jemand aber etliche Schluck zu viel gehabt haben.“

Hajo lachte. „Stimmt, war ein blöder Gedanke. Lass uns fahren.“

Da sie beide mit ihren Fahrzeugen vor Ort waren, vereinbarten die Kommissare, sich anschließend im Büro zu treffen.

Hajo hob grüßend die Hand und ging zu seinem Wagen, Carsten stieg ebenfalls ein und fuhr davon.

Unterwegs fiel ihm ein, dass er eigentlich um zehn Uhr einen Termin hatte. Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett entlockte ihm einen Fluch. Er trat das Gaspedal durch.

„Scheiß-Doppeljob, es wird wirklich Zeit, dass Tomke wiederkommt.“

***

Die hatte vor einiger Zeit darauf bestanden, eine Auszeit, ein Sabbatjahr zu nehmen und dies nach einigen Knüppeln, die sie wegräumen musste, auch genehmigt bekommen.

Es war ein harter Kampf gewesen, bis sie sich mit ihrem Chef, Polizeirat Christoph Gerdes, der sich inzwischen im Ruhestand befand, und der schwerfälligen Obrigkeit geeinigt hatte. Ein halbes Jahr wurde ihr schlussendlich zugestanden.

Dafür musste die Kriminalhauptkommissarin einen Kompromiss eingehen, der ihr damals sehr schwergefallen war, und sie haderte bis heute damit, wie Carsten wusste, ob sie die Entscheidung nicht doch bereuen würde.

Wie man Tomke und Carsten dann mitgeteilt hatte, sollte es für eine Testphase eine Vereinbarung geben.

Die Stelle von Gerdes als Polizeirat musste besetzt werden. Das Arrangement lautete:

Da weder Tomke noch Carsten dazu bereit waren, den Posten zu übernehmen, sollten sie beide sich diese Stelle teilen. Einen fremden Vorgesetzten, den sie nicht kannten und der vielleicht nicht zu ihnen passte, lehnte Tomke heftig ab, und so gingen sie diesen Kompromiss ein. Carsten hatte damals gemeint: „Pass auf, die finden an dieser Regelung gefallen. Zum einen spart es Personal und Kosten, zum anderen wird es mehr Kollegen geben, die sich auf eine solche Regelung einlassen werden. Die Kombination Schreibtisch und Straße ist doch wirklich interessant. Interessanter jedenfalls, als ausschließlich zum Sesselpupser zu werden.“

Er wie auch Tomke waren nicht bereit, das Amt des Polizeirates oder der Rätin allein zu übernehmen. Sie wollten ihre Arbeit vor Ort und auf der Straße, wie sie es nannten, nicht aufgeben. Aber so … Nun teilten sie sich die Arbeit fifty-fifty, allerdings erst, wenn Tomke von ihrem Sabbathalbjahr zurück war. Bis dahin lag diese Doppelbelastung auf Carsten. Allerdings hatte er mit seiner Kollegin vereinbart, sie über besondere Fälle zu informieren. So blieb sie auf dem Laufenden.

Über all das nachzudenken, war jetzt jedoch müßig, er musste den Bürokram allein wuppen – und die Ermittlungsarbeit gemeinsam mit Hajo. Obendrein war ihm für heute eine Studentin der Polizeihochschule für ein sechsmonatiges Praktikum angekündigt worden. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Ausgerechnet heute und außerdem noch an einem Samstag. Ob diese Kommissar­anwärterin eher Hilfe oder mehr Belastung sein würde? Carsten überlegte, wie ihr Name war, aber er fiel ihm partout nicht ein.

Als er das Ortsschild von Wittmund passierte, schaute Carsten erneut auf die Uhr. Kurz nach zehn. Na, ein paar Minuten würde die junge Dame noch warten müssen.