Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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IV.

Som­mer­fe­ri­en auf dem Lan­de … Schwebt nicht ein Duft von Ro­sen und Erd­bee­ren vor­über? Schäu­men­de Milch, frisch aus dem Kuh­stall! – Kör­be voll schwar­zer und gelb-rot glän­zen­der Kir­schen! – Ku­chen, halb so groß wie der Tisch, mit ei­ner di­cken But­ter- und Zucker­krus­te – Ho­nig­schei­ben, die vor neu­gie­ri­gen Au­gen dem Bie­nen­stock ent­nom­men wer­den … Und Son­ne – Son­ne – Son­ne!!

Fahr­ten durch die Fel­der, de­nen der kräf­ti­ge Ge­ruch des rei­fen­den Kor­nes ent­strömt, durch Wäl­der, wo klei­ne brau­ne Rehe ei­lig und furcht­sam hin­ter fer­nen Baum­stäm­men her­vo­r­äu­gen. Auf of­fe­nem Pony­wä­gel­chen Vet­tern und Cou­si­nen zu­sam­men­ge­rüt­telt und ge­schüt­telt und über­strömt von des Him­mels un­ver­hofft nie­der­rau­schen­dem Ge­wit­ter­re­gen. Trie­fen­de Haar­schöp­fe und ver­dor­be­ne Som­mer­hü­te und se­li­ge, fröh­li­che, glü­hen­de, jun­ge Ge­sich­ter!

Und lie­bes, heim­li­ches Bei­ein­an­der­ho­cken auf klei­nen Eck­so­fas im Schat­ten al­ter­tüm­lich ge­schnitz­ter Schrän­ke, so brü­der­lich und schwes­ter­lich – und doch nicht ganz Bru­der und Schwes­ter …

Das fa­na­ti­sche Kro­kett­spie­len auf dem großen Platz vor dem Hau­se – oft noch eine Re­van­che-Par­tie im Stock­fins­tern, bei der man­gel­haf­ten Be­leuch­tung ei­ner Stall­la­ter­ne, die von den ga­lan­ten Vet­tern von Rei­fen zu Rei­fen ge­tra­gen wird.

Das Tan­zen zu der Beglei­tung ei­ner ge­pfif­fe­nen Pol­ka durch den wei­ten, lee­ren Fest­saal mit den Fa­mi­li­en­bil­dern aus der Em­pi­re- und Bie­der­manns­zeit. – On­kels und Tan­ten als wun­der­lich ge­putz­te Kin­der, wel­che Ka­nin­chen und wei­ße Tau­ben in den Hän­den hal­ten und von den Wän­den her­ab dem Tol­len ei­ner neu­en Ju­gend fei­er­lich lä­chelnd zu­schau­en.

Und vor al­lem die große Mit­tags­ta­fel, bei der zu­letzt von On­kel Au­gust ein Ge­setz er­las­sen wer­den muss­te: »Hier wird ge­ges­sen, nicht ge­lacht.«

Aber dann hät­te man den Vet­tern und Cou­si­nen auch ver­bie­ten müs­sen, zu spre­chen, zu bli­cken, sich zu be­we­gen. Was war denn nur fort­wäh­rend so un­säg­lich ko­misch?

Aga­thes und Mar­tins ge­mein­sa­mes Schwär­men? und die nüch­ter­nen Be­mer­kun­gen, wel­che Cou­si­ne Mimi da­zwi­schen warf? Die zier­li­chen Re­de­wen­dun­gen der Ka­det­ten, der Söh­ne von On­kel Au­gust Bär, oder die un­na­tür­lich tie­fe, pa­the­ti­sche Stim­me, in der Aga­thes Bru­der sich seit kur­z­em ge­fiel?

Man muss­te eben la­chen über al­les und über gar nichts – den gan­zen Tag la­chen, bis man fast vom Stuh­le fiel, bis die Mäd­chen mit trä­nen­über­ström­ten Wan­gen und den selt­sams­ten Lach­seuf­zern ge­gen­ein­an­der tau­mel­ten und die großen Jun­gen vor Ver­gnü­gen brüll­ten, sich auf die Schen­kel schlu­gen und wie vom Veits­tanz er­grif­fen in der Stu­be her­um­spran­gen.

Das zweck- und ziel­lo­se He­rumja­gen in dem schö­nen Park, das licht­trun­ke­ne Träu­men im Baum­schat­ten zur Zeit der hei­ßen Mit­tags­stun­den – die wei­sen Ge­sprä­che, das ernst­haf­te und eif­ri­ge Strei­ten über alle Welt­fra­gen, von de­nen man nichts ver­stand! Aber war das tö­richt! Ach, war das al­les ge­sund und gut und schön! Ju­gend, Le­ben, Kraft- und Froh­sinns-Üb­er­fül­le.

Aga­the schrieb ein­mal einen lan­gen Brief an Eu­ge­nie, in dem sie eine glü­hen­de Schil­de­rung von den köst­li­chen Fe­ri­en in Bor­nau bei On­kel Au­gust Bär ent­warf. Mar­tins Name kam fast in je­dem Sat­ze vor, aber doch nur in den harm­lo­ses­ten Be­zie­hun­gen.

Dass der un­aus­steh­li­che, ko­mi­sche Jun­ge Aga­the ein Strähn­chen grü­ner Wol­le, das sie not­wen­dig zu ih­rer Sti­cke­rei brauch­te, ge­stoh­len hat­te, schrieb sie nicht. Auch schwieg sie von der furcht­ba­ren Auf­re­gung, in die er Aga­th­chen ver­setz­te, wenn er in Ge­gen­wart der ehr­wür­digs­ten Tan­ten, der mo­quan­tes­ten On­kels, von Mama und Groß­ma­ma das Wol­len­strähn­chen mit fre­cher Ge­las­sen­heit aus der Brust­ta­sche sei­ner grau­en Som­mer­ja­cke her­vor­zog, es um sei­ne Fin­ger wi­ckel­te, es ver­rä­te­risch hin- und her­schlen­ker­te, und Aga­thes Ver­le­gen­heit und Zorn aufs Höchs­te stei­ger­te, in­dem er das An­den­ken – al­ler­dings mit ent­spre­chen­den Vor­sichts­maß­re­geln, er ging näm­lich dazu in die Fens­ter­ni­sche – an sein Herz und sei­ne Lip­pen drück­te. Und nie­mals hät­te sie sich ent­schlie­ßen kön­nen, Eu­ge­nie zu er­zäh­len, dass der küh­ne Bur­sche ein­mal, als sie bei­de al­lein im Zim­mer wa­ren, ne­ben dem Stuhl, auf dem sie saß, nie­der­knie­te und sag­te, er wol­le hier lie­gen blei­ben, bis sie ihm einen Kuss ge­ben wür­de, und es küm­me­re ihn gar nicht, wenn je­mand her­ein­käme und es sähe – wenn sie sich so lan­ge zie­ren woll­te, wäre es eben ihre Schuld!

Aga­the hat­te ihn dar­auf von sich ge­sto­ßen, war auf­ge­sprun­gen und fort­ge­lau­fen, die Trep­pe hin­un­ter. Sie hör­te Mar­tin hin­ter sich, drei Stu­fen auf ein­mal über­sprin­gend und floh durch das ei­ser­ne Git­ter­tor, das sie kräf­tig zu­warf. So jag­ten sie sich eine Vier­tel­stun­de lang um die Lin­de durch den Hof und um die Stäl­le her­um, bis die Mit­tags­glo­cke läu­te­te. Er hat­te sie nicht ge­fan­gen, nie­mals war sie so leicht­fü­ßig ge­we­sen. Vi­el­leicht hat­te Mar­tin auch ih­ren ehr­li­chen Schre­cken ge­se­hen und sie gar nicht ein­ho­len wol­len.

Wäh­rend Aga­the glü­hend und au­ßer Atem ihre auf­ge­lös­ten Zöp­fe wie­der flocht und fest­steck­te, fühl­te sie sich sehr tu­gend­haft und er­ha­ben. Sie war doch ei­gent­lich et­was ganz an­de­res als Eu­ge­nie, die sich in ei­ner dunklen Stu­be ei­nem Kom­mis aufs Knie setz­te. Sie woll­te auch im­mer streng und ab­wei­send blei­ben – bis – ja bis Er kom­men wür­de, der Herr­lichs­te von al­len! Vi­sio­nen wei­ßer Schlei­er­wol­ken und bren­nen­der Altar­ker­zen schweb­ten durch ihre Fan­ta­sie.

Oder tot – still – im schwar­zen Sar­ge mit der Myr­then­kro­ne über der rei­nen Stirn – ach wie trau­rig – o wie schön! Aga­the lie­fen bei dem Ge­dan­ken gleich die stets be­rei­ten Trä­nen aus den Au­gen.

Mit ei­nem herz­li­chen Mit­leid ge­gen den ar­men Vet­ter er­schi­en die jun­ge Sprö­de zu spät bei Tisch. Mar­tin füll­te sich eben den Tel­ler voll Mak­ka­ro­ni­pud­ding, aß tap­fer drauf los und sah sie gar nicht an. Aga­the war ein we­nig ent­täuscht. Die edle Stren­ge be­kam eine Bei­mi­schung von Pi­quiert­heit.

Mar­tin be­trug sich in den nächs­ten Ta­gen nicht wie ein un­glück­lich Lie­ben­der, auch nicht zu­dring­lich, son­dern fle­gel­haft, grob und un­ge­zo­gen. Dann brach­te er ihr zum Kirch­gang am nächs­ten Sonn­tag eine von den son­der­ba­ren brau­nen Ca­li­can­thus-Blü­ten, die es nur noch in dem alt­mo­di­schen Gar­ten von Bor­nau gab. Er wuss­te, dass Aga­the ih­ren star­ken, schwe­ren Würz­duft be­son­ders lieb­te. Die bei­den wa­ren nun wie­der gute Freun­de. Er mach­te aber kei­nen Ver­such mehr, Aga­the zu küs­sen. Das grü­ne Woll­strähn­chen kam seit der Zeit nicht wie­der zum Vor­schein.

V.

Herr Heid­ling war, wäh­rend die Er­zie­hung sei­ner Toch­ter nach der Pen­si­ons­zeit bei Pas­tor Kand­ler ge­wis­ser­ma­ßen die letz­te Wei­he emp­fing, als Re­gie­rungs­rat in die Pro­vinz­haupt­stadt zu­rück­ver­setzt wor­den. Die Fa­mi­lie be­zog hier die zwei­te Eta­ge in ei­nem ele­gan­ten Hau­se des neu­en Stadt­teils, wel­cher als Ver­bin­dungs­glied zwi­schen der en­gen, dump­fi­gen, men­schen­durch­wühl­ten Alt­stadt und dem im Bau Be­grif­fe­nen mäch­ti­gen Zen­tral­bahn­hof ge­plant war.

Noch konn­te je­der Wind­zug von den Fel­dern frei durch die erst halb fer­ti­gen Stra­ßen bla­sen. Es war nicht eben be­hag­lich, dass er stets Kalk­staub und Sand­wol­ken von den vie­len Bau­plät­zen in die Luft em­por­zu­wir­beln fand und den Dampf, so­wie den durch­drin­gen­den häss­li­chen Ge­ruch des As­phalts, der in großen schwar­zen Kü­beln auf of­fe­nen Feu­ern er­hitzt und für die Pflas­te­rung der Trot­toire zu­be­rei­tet wur­de, bald nach die­ser, bald nach je­ner Sei­te weh­te. Die be­reits fer­tig ge­stell­ten Häu­ser rag­ten, mit ih­ren schwe­ren ge­schnitz­ten Hau­stü­ren, ih­ren mit Stück­werk, Ka­rya­ti­den und Bal­kons über­la­de­nen Fassa­den und den nack­ten, fens­ter­lo­sen Sei­ten­flan­ken, un­be­schützt durch gleich­große Nach­barn, in ge­ra­de­zu er­schre­cken­der Höhe em­por.

Den­noch sah man schon, dass die­ser neue Stadt­teil bin­nen Kur­zem die Zier­de von M. sein wür­de. Je­der fand es be­greif­lich, dass man das neue Gute durch ein un­an­ge­neh­mes Über­gangs­sta­di­um er­kau­fen müs­se. Die Woh­nun­gen wa­ren be­gehrt und sehr teu­er.

Hier soll­te Aga­the ihr Le­ben als er­wach­se­ner Mensch be­gin­nen. Sie woll­te es sich ganz nach ei­ge­nem Sin­ne ge­stal­ten. Zwar – auf die El­tern hat­te sie Rück­sicht zu neh­men, aber Papa und Mama lieb­ten sie ja so sehr, dass sie ihr ge­wiss in al­lem ent­ge­gen­kom­men wür­den, be­son­ders da sie nur das Gute woll­te und den schöns­ten Idea­len nach­streb­te.

Beich­te und Abend­mahl hat­ten doch eine ent­sün­di­gen­de Macht! Sie fühl­te sich frei und leicht, die See­le war ihr wie ab­ge­ba­det. Und ei­gent­lich – nun sie er­wach­sen war, konn­te es doch auch nicht so schlimm sein, wenn sie man­ches wuss­te, von dem nie­mand ah­nen durf­te, dass ihre Ge­dan­ken sich da­mit be­schäf­tig­ten.

In dem Zim­mer mit dem hüb­schen Blu­me­ner­ker, das die El­tern neu ein­ge­rich­tet und ihr als Ei­gen­tum über­ge­ben hat­ten, bau­te Aga­the alle ihre Kon­fir­ma­ti­ons­ge­schen­ke fei­er­lich auf.

Her­weg­hs böse Sturm­ge­sän­ge wa­ren beim Buch­händ­ler ge­gen eine Ge­dicht­samm­lung mit dem Ti­tel »From­me Min­ne« ein­ge­tauscht. Mar­tin nann­te sie ver­ächt­lich nur: die from­me Min­na.

Er hat­te Heid­lings nach ab­ge­lau­fe­nem Mi­li­tär­jahr auf sei­ner Rei­se zur Uni­ver­si­tät be­sucht. Aber Aga­the ver­stand sich nicht mehr mit ihm. Er ge­wöhn­te sich eine rohe Art an, über al­les, was sie schön fand, zu höh­nen und bei je­der Ge­le­gen­heit in ein lau­tes wil­des La­chen aus­zu­bre­chen. In­fol­ge sei­nes un­lie­bens­wür­di­gen We­sens wur­de es Aga­the noch zwei­fel­haf­ter, ob Re­vo­lu­ti­on und Chris­ten­tum sich ver­ei­ni­gen las­se. Sie stu­dier­te mit Ei­fer die Zei­tun­gen, ver­schob es aber vor­läu­fig noch, sich be­stimmt für eine Par­tei zu ent­schei­den. Sie woll­te sich erst recht gründ­lich un­ter­rich­ten.

 

… Wie neckisch auf dem Ge­schenk­tisch der klei­ne rote »Lie­bes­früh­ling« zwi­schen den ver­trock­ne­ten Blu­men­sträu­ßen und den Le­de­re­tu­is mit den Schmuck­sa­chen her­vor­blick­te! Aber über al­lem thron­te als Mit­tel­punkt der Pracht­band: »Des Wei­bes Wir­ken als Jung­frau, Gat­tin und Mut­ter.« Sei­ne rei­che Ver­gol­dung strahl­te in ei­nem sanf­ten, mys­ti­schen Glanz.

Der jet­zi­ge Zu­stand war ein No­vi­zi­at, das der Ein­wei­hung in die hei­li­gen Ge­heim­nis­se des Le­bens vor­an­ging. Die ein­fachs­ten häus­li­chen Pf­lich­ten führ­ten Aga­the ein in den gott­ge­woll­ten und zu­gleich so sü­ßen, ent­zücken­den Be­ruf ei­ner deut­schen Haus­frau. Durf­te sie am Sonn­tag ein Tisch­tuch aus dem schö­nen Wä­sche­schrank der Mut­ter ho­len und die Bett­be­zü­ge und La­ken für den Haus­halt ver­tei­len, tat sie es mit fro­her An­dacht, wie man eine sym­bo­li­sche Hand­lung ver­rich­tet.

*

In der Bo­den­kam­mer un­ter dem Dach wan­der­te ein fei­ner Son­nen­strahl durch die klei­ne Fens­ter­lu­ke über Spin­ne­we­ben und Staub­wust. Keck und lus­tig ver­gol­de­te er da ein Eck­chen und dort ein Zip­fel­chen von dem al­ten über­flüs­si­gen Plun­der, der hier pie­tät­voll auf­be­wahrt wur­de: Bil­der aus dem Haus­halt der Gro­ß­el­tern und ver­blass­te Rücken­kis­sen, Wal­ters Schau­kel­pferd, und Ball­schu­he, in de­nen die Re­gie­rungs­rä­tin als Braut ge­tanzt hat­te. Sie konn­te sich nie ent­schlie­ßen, sich von ei­nem Din­ge, das ihr ein­mal lieb ge­we­sen, zu tren­nen, und so wan­der­te der In­halt der Bo­den­kam­mer auch bei je­dem Woh­nungs­wech­sel der Fa­mi­lie Heid­ling ge­treu­lich mit.

Zu den köst­lichs­ten An­den­ken ver­gan­ge­ner Zei­ten be­grub Aga­the nun ihr Spiel­zeug, das sie in eine Kis­te sorg­sam mit Kam­phor­säck­chen ver­pack­te. Die gan­ze Mi­nia­tur­aus­ga­be ei­ner Kin­der­stu­be ging so noch ein­mal durch ihre Fin­ger, bis zu den Wi­ckeln und Win­deln, der Ba­de­wan­ne und den Wärm­fläsch­chen, – den vie­len zier­li­chen Ge­gen­stän­den, die zur Pfle­ge der Aller­kleins­ten nö­tig sind und durch de­ren Hand­ha­bung bei fan­ta­sie­vol­lem Spiel die ge­heims­ten Emp­fin­dungs­ner­ven des wer­den­den Wei­bes in er­war­tungs­voll zit­tern­de Schwin­gun­gen ver­setzt wer­den.

Träu­me­risch er­in­ner­te sich Aga­the, in­dem sie ihre Lieb­lings­pup­pe zum Ab­schied lei­se auf die Stirn küss­te, des atem­lo­sen Ent­zückens, mit dem sie oft ihr Kleid ge­öff­net hat­te, um das har­te kal­te Wachs­köpf­chen an die win­zi­gen Knos­pen ih­rer Kin­der­brust zu drücken und es trin­ken zu las­sen. Ver­le­gen lä­chelnd tas­te­te sie nun über die wei­che Run­dung ih­res Bu­sens. Nie konn­te ihr die Schnei­de­rin die Tail­le eng ge­nug ma­chen, sie schäm­te sich der un­ge­wohn­ten Fül­le ih­rer For­men.

Auf dem Grun­de der Kis­te, un­ter ei­ner ver­bli­che­nen ro­sen­ro­ten De­cke, la­gen die klei­nen Sa­chen, die sie selbst und die ge­stor­be­nen Ge­schwis­ter­chen ein­mal ge­tra­gen hat­ten. Das al­les wur­de auf­be­wahrt bis zu dem Tage, wo es Aga­the ein­mal her­aus­neh­men durf­te zum Ge­brauch für ihre ei­ge­nen le­ben­di­gen klei­nen Kin­der. Neu­gie­rig hob sie die ro­sen­ro­te De­cke ein we­nig und zog ein fei­nes, win­zi­ges, spit­zen­be­setz­tes Hemd­chen her­vor. Nein – wie süß! Wie süß!

Sie streck­te ihre Fin­ger in die Är­mel­chen und lach­te es an.

War das al­les rät­sel­haft, selt­sam – ein tie­fes Wun­der … Und was sie hör­te, was sie träum­te, mach­te al­les nur un­be­greif­li­cher … Ach, die schweig­sam se­li­ge Er­war­tung in ihr – Tag und Nacht – Tag und Nacht – – – –

*

Im Ge­gen­satz zu der Mat­tig­keit und Schlaf­sucht, ge­gen die Aga­the wäh­rend ih­rer Pen­si­ons­zeit be­stän­dig zu kämp­fen ge­habt hat­te, er­füll­te sie jetzt ein im­mer­wäh­ren­des Ver­lan­gen nach Be­we­gung und Tä­tig­keit.

Sie fühl­te sich oft na­men­los glück­lich, auch ohne eine be­son­de­re Ur­sa­che. Beim Ab­stäu­ben der Mö­bel konn­te ihr hel­ler So­pran sich plötz­lich zu lau­tem Ju­bel auf­schwin­gen. Un­zäh­li­ges wur­de zu glei­cher Zeit be­gon­nen: Kunst­ge­schich­te, Schnei­de­rei, Mu­sik und Be­su­che bei Freun­din­nen und bei ar­men Leu­ten, de­nen die Er­spar­nis­se ih­res Klei­der­gel­des zu­flos­sen. Ach ja – so recht prak­tisch, lie­be­voll, auf­op­fe­rungs­freu­dig und da­bei ge­scheut und von ge­die­ge­ner Bil­dung! Um das zu er­rei­chen, muss­te man sich schon tum­meln! Al­les, al­les für ihn – den ge­lieb­ten, herr­li­chen, zu­künf­ti­gen Un­be­kann­ten! – Für sich al­lein, nur aus Freu­de an den Din­gen – nein, das wäre doch Selbst­sucht ge­we­sen! Und es war ja auch so schön, so süß, für an­de­re zu le­ben.

Aga­the schloss sich mit neu­er­wach­ter Zärt­lich­keit ih­rer Mut­ter an. Sie fand rei­zen­de klei­ne Auf­merk­sam­kei­ten für ih­ren Va­ter. Der Re­gie­rungs­rat be­gann sei­ne Toch­ter mit stil­ler Ver­liebt­heit zu be­trach­ten. Er fühl­te jene herz­li­che Freu­de an der be­stän­di­gen Nähe ei­nes fri­schen, jun­gen Mäd­chens, die äl­te­ren Män­nern das Heim mit ei­nem neu­en son­ni­gen Zau­ber ver­klärt, ei­nem Zau­ber, wel­cher un­ge­stört von sinn­li­chen Stür­men, kaum we­ni­ger hold, nur fried­vol­ler ist, als der der ers­ten Ehe­jah­re – ein Zau­ber, der wie zar­ter Früh­lings­duft die El­tern um­spielt, zur Form er­starr­te In­nig­keit, zur Ge­wohn­heit ver­trock­ne­te Zu­nei­gung mit wär­mer pul­sie­ren­dem Le­ben er­fül­lend.

*

In Aga­thes woh­lig durch­heiz­tem Er­ker­zim­mer fei­er­te sie ih­ren sieb­zehn­ten Ge­burts­tag, um­ge­ben von blü­hen­den Ro­sen und ro­si­gen Freun­din­nen.

Die Mäd­chen wa­ren in der ge­ho­be­nen Stim­mung, in der sie sich ei­gent­lich alle Tage be­fan­den, ganz be­son­ders aber, wenn sie zu­sam­men­tra­fen, und das ge­sch­ah eben­falls täg­lich – zum min­des­ten ein Mal. Da­rum be­ka­men ihre Un­ter­hal­tun­gen auch nach­ge­ra­de eine ge­wis­se un­ge­nier­te Zu­trau­lich­keit.

»Wirst Du aber stark, Eu­ge­nie! Zeig’ mal her! Wahr­haf­tig Kin­der – al­les echt!« Die jun­ge Dame mit der nei­dens­wer­ten Büs­te ließ sich in sie­ges­si­che­rer Ruhe auf Aga­thes Kre­ton­ne­so­fa nie­der.

»Rog­gen­mehl­sup­pe mit Ei­ern zum Früh­stück – nach­mit­tags einen Tel­ler voll Gries­brei – da, nun wisst Ihr’s.«

»Das möcht’ ich nicht«, rief die blas­se Lis­beth Wend­ha­gen und knab­ber­te an ei­nem Ma­kro­nen­stück­chen.

»Man muss sich doch auf den Kampf des Le­bens vor­be­rei­ten«, be­merk­te Eu­ge­nie wei­se.

»Pfui Ge­nie!«

»Die keu­sche Aga­the er­rö­tet«, sag­te Eu­ge­nie, sich be­hag­lich mit Ku­chen ver­sor­gend. »Das hat sich das gute Kind im­mer noch nicht ab­ge­wöhnt!«

»Ach, es ist schreck­lich!« Aga­thes Wan­gen er­glüh­ten bei die­ser är­ger­li­chen Ent­schul­di­gung noch feu­ri­ger.

»Du wirst wohl über­haupt nicht mehr rot?« frag­te bis­sig ein äl­te­res Mäd­chen aus dem Krei­se.

»O doch – aber nur wenn ich will! Den Atem an­hal­ten! Seht mal her!«

Mit Be­wun­de­rung und viel Ge­läch­ter wur­de das Kunst­stück be­ob­ach­tet.

»Ich wer­de mir auch Gries­brei ko­chen las­sen«, über­leg­te Fräu­lein von Hen­ning, wel­che die gan­ze Zeit in erns­ter Be­trach­tung vor dem Spie­gel ge­stan­den hat­te. Sie be­dach­te da­bei, ob ihre Mut­ter wohl die Ex­tra­aus­ga­be ge­stat­ten wür­de? Es war doch ge­mein, sich so ein­rich­ten zu müs­sen!

»Ex­zel­lenz Wimpf­fen1 hat ge­sagt, Gries wäre sehr schäd­lich für den Teint!«

»Wie­so denn?«

»Na – die Gries­kör­ner las­sen sich, glau­be ich, nicht gut ver­dau­en und krie­chen dann ir­gend­wie im Kör­per her­um.«

»Ach, Un­sinn!« wi­der­sprach Eu­ge­nie.

»Doch! Ex­zel­lenz Wimpf­fen hat zu Mama ge­sagt: in Russ­land es­sen die jun­gen Mäd­chen nie­mals Gries, weil sich die Gries­kör­ner un­ter der Haut fest­set­zen und ent­zün­den, da­her kommt die Gän­se­haut und Pi­ckel und al­les mög­li­che!«

Es trat eine Stil­le ein. Das klang ernst­haft!

»Ich glau­be nicht dar­an«, sag­te Aga­thes ru­hi­ge Stim­me. »Je­der will heut­zu­ta­ge et­was wis­sen! Pfau­en­fe­dern sol­len auch schäd­lich sein!«

»Das glaubst Du wohl auch nicht?« frag­te Lis­beth Wend­ha­gen wich­tig. »Mein al­ter On­kel …«

»Mit Pfau­en­fe­dern, das weiß ich nicht«, rief die Toch­ter des Ober­prä­si­den­ten – »aber See­ro­sen …! das habe ich sel­ber er­lebt, das kann mir kei­ner ab­strei­ten! Als ich vo­ri­ges Jahr bei mei­ner Tan­te in Pots­dam war, schlepp­te mei­ne Cou­si­ne von ei­ner Kahn­par­tie einen gan­zen Arm voll nach Haus. Meh­re­re Da­men warn­ten sie noch, die Din­ger bräch­ten Un­glück – aber sie woll­te ja nicht hö­ren! Rich­tig – am an­de­ren Mor­gen be­kommt sie Diph­the­ri­tis – wäre bei­na­he dran ge­stor­ben! Ne, ne – vor Was­ser­ro­sen habe ich al­len Re­spekt!«

Trotz der Ge­fah­ren, die dem Le­ben und der Schön­heit der jun­gen Ge­schöp­fe von al­len Sei­ten ge­heim­nis­voll droh­ten, be­sa­ßen sie doch Leicht­sinn ge­nug, die be­vor­ste­hen­den Ball-Aus­sich­ten eif­rig zu be­spre­chen. Wu­trows woll­ten tan­zen las­sen! Und dann der große Ju­ris­ten­ball! Aga­the hat­te eine ent­zücken­de Toi­let­te be­kom­men: ech­te Pa­ri­ser He­cken­ro­sen – schreck­lich teu­er – von On­kel Gu­stav.

»Sag’ mal – Dein On­kel Gu­stav hat wohl Geld, dass er so lebt, ohne was zu tun? Das wäre am Ende eine ganz gute Par­tie?«

»Ach nein – Geld hat er keins! Das heißt, er sagt im­mer, wenn sei­ne Er­fin­dung glückt, könn­te er Mil­lio­när wer­den!«

»Ach, der Ju­gend­born!« Ein un­end­li­ches Ge­ki­cher er­scholl um den Kaf­fee­tisch, man schi­en On­kel Gu­stavs Er­fin­dung, trotz ih­res poe­ti­schen Na­mens, nicht eben ernst zu neh­men.

»Dein On­kel ist kost­bar! Bei uns heißt er die Kirsch­blü­te we­gen sei­ner schö­nen, wei­ßen Som­meran­zü­ge! Aga­the, Du hei­ra­test ihn am Ende doch noch!«

Aga­the lach­te laut und lus­tig und alle stimm­ten aufs neue ein.

»Du – ge­ste­he! – Hat er Dich schon mal ge­küsst?«

»Ach, Un­sinn, – nur bei Ge­burts­ta­gen!«

»Ich küs­se mei­ne On­kels und Vet­tern im­mer«, ließ sich das hohe Stimm­chen ei­nes nied­li­chen Schwarz­kop­fes ver­neh­men. »Wozu hat man sie denn sonst?«

»In un­se­rer Fa­mi­lie ist’s nicht Sit­te«, sag­te Aga­the hoch­mü­tig.

»Das ist wahr!« rief Eu­ge­nie. »Bei Euch gehts haar­sträu­bend so­li­de zu! Aber Dein Va­ter fasst einen doch ganz gern mal um die Tail­le!«

»Pfui Eu­ge­nie!«

»Gott, sei doch nicht so! Er ist ja ein al­ter Herr – was scha­det denn das?«

»Denkt Euch, neu­lich Abend bin ich auf der Stra­ße an­ge­re­det«, be­gann Lis­beth Wend­ha­gen, ihr klei­nes, som­mer­spros­si­ges Ge­sicht mit den hel­len Au­gen­wim­pern be­leb­te sich or­dent­lich. »Es war schau­der­haft!«

»Möch­test Du noch Kaf­fee, Lis­beth?«

»Nein, dan­ke – eins, zwei, drei … Habe ich mich doch wie­der ver­zählt! Das in­fa­me Mus­ter! So. – Also ich – na­tür­lich – gehe im­mer schnel­ler – er ne­ben mir her …«

»Wie gräss­lich!«

»Was hat er denn zu Dir ge­sagt?«

»Ach, das kann ich gar nicht wie­der­er­zäh­len.« End­lich fas­se ich Mut und sage: »Mein Herr, Sie ir­ren sich!«

»Man soll gar nicht ant­wor­ten!«

»Ich darf abends nicht al­lein aus­ge­hen!«

»Ach manch­mal ist es sehr amüsant – wisst Ihr noch, wenn wir als Schul­mäd­chen auf der Brei­ten­stra­ße bum­mel­ten und die Gym­na­sias­ten ka­men?«

»Aber was wur­de denn? Er­zäh­le doch wei­ter«, rie­fen un­ge­dul­di­ge Stim­men.

»Ich kam nach Haus – klin­gel­te – in Schweiß ge­ba­det! Denkt Euch – der Kerl! – Ant­wor­tet mir: nein, mein Fräu­lein, ich irre mich nicht! Was sagt Ihr dazu!?«

»Mich hat mal ei­ner drau­ßen auf den Gla­cis an­ge­re­det«, rief Eu­ge­nie. »Es war ein Herr, das sah ich gleich. Wisst Ihr, was ich geant­wor­tet habe? – Ich wür­de ihm für sei­ne Beglei­tung sehr dank­bar sein! – Habe mich ganz gut mit ihm un­ter­hal­ten, und er hat mich rich­tig bis vor die Haus­tür ge­bracht! Am an­de­ren Mor­gen be­kam ich an­onym ein Bou­quet zu­ge­schickt!«

 

»Nein die­se Eu­ge­nie! Du bist doch ein fre­ches Tier! – Ach Schlag­sah­ne! – An der könnt’ ich mich tot es­sen!«

»Na – Gott seg­ne Dei­ne Stu­dia!«

»Über­friss Dich nur nicht vor dem Ju­ris­ten­ball!«

»Un­ser Tanz­fest soll gleich hin­ter­her sein«, schrie Eu­ge­nie. »Kin­der – ich freue mich ja die­bisch! Wir ha­ben auch Dei­nen Vet­ter Mar­tin ein­ge­la­den, Aga­the! Wie sie se­lig ist …!«

»Es ist nicht wahr – ich in­ter­es­sie­re mich gar nicht für ihn!«

»Kind­chen, Kind­chen, tu’ doch nicht so! Das kann ich nicht aus­stehn!«

»Ach Du lie­ber Him­mel, ob mich wohl Re­fe­ren­dar Son­nen­strahl zum Ko­til­lon en­ga­giert?« seufz­te Lis­beth. »Er hat so ’nen himm­li­schen Schnurr­bart!«

»Ich fin­de den von Lieu­ten­ant Bie­be­ritz viel schö­ner, Dein Son­nen­strahl hat ja krum­me Bei­ne.«

»Und Dein Lieu­ten­ant Bie­be­ritz trägt ein Kor­sett!«

»Wie kannst Du so et­was be­haup­ten?«

»Ich weiß es ganz be­stimmt von un­se­rer Schnei­de­rin. Bei de­ren Mut­ter ist er in Lo­gis.«

»Habt Ihr die Tri­ne?«

»Zu uns darf sie nicht mehr kom­men! Sie klatscht zu gräss­lich! Was die für Ge­schich­ten weiß! Scheuß­lich!«

»Er­zäh­le – er­zäh­le!«

»Nein – ich schä­me mich.«

»Raus – raus mit der Spra­che! Na –«

»Denkt nur, der alte ver­hei­ra­te­te Ta­de­mir … Ach – Frau Re­gie­rungs­rat …!«

»Nun, mei­ne lie­ben Mäd­chen, amü­siert Ihr Euch? Aga­the, bist Du eine auf­merk­sa­me Wir­tin? Wie geht es zu Haus?«

»Dan­ke, Frau Re­gie­rungs­rä­tin!«

»Aga­th­chen darf doch auf un­sern Läm­mer­sprung kom­men, Frau Re­gie­rungs­rä­tin?«

»Ach, Frau Re­gie­rungs­rat – wie kön­nen Sie nur so et­was sa­gen – Sie ge­nie­ren uns doch nicht …«

An­de­re Stim­men – an­de­re Be­we­gun­gen – wohl­er­zo­ge­ne Kni­xe – lä­cheln­de, be­ru­hig­te Ge­sich­ter – wenn sie auch von dem hef­ti­gen Durchein­an­der­schrei­en noch in leb­haf­tem Ro­sen­rot glüh­ten – das stand ih­nen gut zu den fried­lich auf die Hand­ar­beit ge­senk­ten Au­gen.

Man sprach von Holz­ma­le­rei, von dem letz­ten Buch ei­ner be­lieb­ten Ju­gend­schrift­stel­le­rin.

Es wa­ren doch net­te Mäd­chen, Aga­thes Freun­din­nen. Eu­ge­nie al­lein er­reg­te Frau Heid­ling Ver­dacht. Man mun­kel­te et­was Un­be­stimm­tes von ei­ner dum­men Lie­bes­ge­schich­te, um de­rent­wil­len sie aus dem Haus ge­schickt wor­den sei. Ge­wiss nur eine von den ge­häs­si­gen Nach­re­den, wie sie hüb­sche Mäd­chen so gern ver­fol­gen. Die Re­gie­rungs­rä­tin muss­te sich ge­ste­hen, dass sie noch nichts Be­denk­li­ches hat­te an Eu­ge­nie ent­de­cken kön­nen. Das Mäd­chen be­saß weit bes­se­re For­men, als ihre Mut­ter, von dem al­ten Wu­trow gar nicht zu re­den.

1 Wimpf­fen=Adels­ge­schlecht <<<

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