Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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XVI.

Frau Heid­ling emp­fing ihre Toch­ter auf dem Bahn­hof. Wäh­rend bei­de in On­kel Bärs großer dunk­ler Ka­le­sche die auf­ge­weich­te Land­stra­ße ent­langroll­ten, be­nutz­te Frau Heid­ling gleich die Ge­le­gen­heit, um sich bei Aga­the nach der Wä­sche und den an­de­ren häus­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten zu er­kun­di­gen. Es be­un­ru­hig­te sie schon die gan­zen Tage, dass sie Aga­the al­les al­lein über­las­sen hat­te. Aga­the war ja frei­lich ein er­wach­se­nes Mäd­chen, und ihr Mann hat­te recht, wenn er är­ger­lich wur­de, weil sie die Rei­se mit ihm als ein Op­fer be­trach­te­te, und wenn er sag­te, Aga­the müs­se doch auch ler­nen, sich selbst­stän­dig um et­was zu küm­mern. Die Re­gie­rungs­rä­tin hat­te nun ein­mal das quä­len­de Ge­fühl, sie wür­de bei der Heim­kehr vie­les an­ders fin­den, als sie es ge­wohnt war und als sie es für rich­tig hielt. Aga­the war auch so gleich­gül­tig, so in­ter­es­se­los. Ihre Fra­gen: ob kei­ne von den Da­mast­ser­vi­et­ten ge­fehlt habe, und ob die Mäd­chen abends kei­nen Bra­ten, son­dern Wurst be­kom­men hät­ten, be­ant­wor­te­te sie in ei­nem mil­den, un­lie­bens­wür­di­gen Ton.

Aga­the dach­te nicht dar­an, der Mut­ter von ih­rer Be­geg­nung mit der Da­niel zu sa­gen. Sie wür­de sich auf­re­gen, und Aga­the war von je­her ge­wohnt, ihre Mut­ter zu scho­nen. Dann die Furcht, Mama möch­te ir­gend et­was Mora­li­sches vor­brin­gen – et­was Ta­deln­des über Lutz und die Schau­spie­le­rin, oder Aga­the be­dau­ern, dass sie eine so häss­li­che Ge­schich­te er­fah­ren hat­te. Und das al­les war es doch gar nicht, was ihr so un­sin­nig weh tat – nicht Ab­scheu – nicht tu­gend­haf­ter Un­wil­le – nur Neid – Neid – Neid!

*

Aga­the hör­te beim Abendes­sen ein lan­ges und brei­tes Ge­spräch: Cou­si­ne Mimi woll­te Dia­ko­nis­sin wer­den, aber die El­tern wünsch­ten, sie soll­te sich die Sa­che noch ein Jahr über­le­gen. Der Re­gie­rungs­rat nann­te den Plan eine ex­al­tier­te Mäd­che­nidee und sprach von dem Be­ruf, den die Toch­ter zu­erst bei den Ihren zu er­fül­len habe; Aga­the kam es vor, als sei sie von den Men­schen, ih­rem Tun und Re­den und Wol­len durch einen wei­ten, mit Ne­bel an­ge­füll­ten Raum ge­trennt.

Mimi be­glei­te­te sie zu ih­rem Zim­mer – sie hat­te es auch wäh­rend je­nes fröh­li­chen Som­mer­auf­ent­hal­tes als Pen­sio­nä­rin be­wohnt. Nicht das Ge­rings­te hat­te sich hier ver­än­dert: die­sel­be al­ter­tüm­li­che, weiß und grün ge­streif­te Ta­pe­te, die­sel­ben ge­ra­den, hoch­leh­ni­gen Stüh­le, mit knis­ternd stei­fem, hart­glän­zen­dem Mö­bel­kat­tun be­zo­gen, der auf der gan­zen Welt nur noch in den Gast­stu­ben kon­ser­va­ti­ver Lan­de­del­leu­te zu fin­den ist. Die küh­le, von ei­nem La­ven­delaro­ma und dem Ge­ruch der Vieh­stäl­le durch­zo­ge­ne Luft schlug Aga­the mit tau­send plötz­li­chen Erin­ne­run­gen an die ers­te Ju­gend, an Froh­sinn und Ge­läch­ter ent­ge­gen.

»Weißt Du noch?« frag­te Mimi und hielt die Ker­ze em­por, einen al­ten, wun­der­li­chen Kup­fer­stich zu be­leuch­ten. In wurm­zer­fres­se­nem Ma­ha­go­ni­rah­men Sapp­ho, die sich flat­tern­den Ge­wan­des und flüch­ti­gen Fu­ßes mit schö­nem Schwun­ge vom leu­ka­di­schen Fel­sen ins Meer stürzt.

Ei­nes Ta­ges hat­ten sie die Jun­gens her­ein­ge­holt und o – wie hat­ten sie mit Mar­tin und den Ka­det­ten über die­sen thea­tra­li­schen Schmerz ge­lacht, ge­ki­chert und ge­spot­tet.

Mimi zün­de­te ih­rer Cou­si­ne das Licht an und ließ sie al­lein.

Aga­the muss­te sich ru­hig ver­hal­ten, denn ne­ben­an, nahe der Tür, schlie­fen die El­tern.

Und vor ihr lag die lan­ge, lan­ge, ein­sa­me Nacht.

*

Das war so grau­en­haft: sich vor­zu­stel­len, wie er bei ei­ner an­de­ren ge­we­sen, wäh­rend sie ihm ge­hör­te mit je­dem Puls­schlag ih­res Blu­tes, dem gan­zen über­schwäng­li­chen Ge­fühl ih­res Her­zens und al­len Träu­men ih­res Hirns.

… Und kein Ge­dan­ke kam von ihm zu ihr ge­flo­gen … Sie glaub­te sei­ne geis­ti­ge Nähe zu emp­fin­den, und sein Kopf ruh­te be­frie­digt auf ei­ner wei­chen, at­men­den Brust, sein Ohr hat­te in stil­ler Dun­kel­heit dem freu­de­wil­den Herz­schlag je­ner Frau ge­lauscht. Ihre ge­öff­ne­ten Lip­pen hat­ten den Hauch sei­nes Kus­ses zu spü­ren ge­meint, und sein Mund hat­te Won­ne von dem Ant­litz der an­de­ren ge­trun­ken …

Pfui – wie das ge­mein war und schmach­voll lä­cher­lich dazu … Wie ihre im To­des­kampf rin­gen­de Lie­be ge­schän­det wur­de durch die Er­kennt­nis der Wahr­heit, der elen­den, ab­scheu­li­chen Wirk­lich­keit.

*

»Hast Du Kopf­weh?« frag­te Mama Aga­the, als die Ver­wand­ten sich um den Früh­stücks­tisch ver­sam­mel­ten.

»Ich weiß nicht – nein.«

Die Wän­de, der Tisch, der Stuhl, auf den sie sich setz­te, al­les schi­en lei­se zu schwan­ken. Son­der­bar …

»Du wirst mir doch nicht krank wer­den?« frag­te der Re­gie­rungs­rat be­sorgt.

In dem hei­te­ren Früh­lings­son­nen­schein, der heut Mor­gen zu den ho­hen Fens­tern des Gar­ten­saals her­ein­glänz­te, un­ter den vol­len, ge­sun­den Land­men­schen, die in ih­ren Klei­dern schon einen Duft von drau­ßen – von Gras und Blu­men und fri­scher, feuch­ter Erde zum Früh­stück brach­ten, sah er mit Un­zu­frie­den­heit und ver­letz­tem Va­ter­stolz, wie ab­ge­ma­gert und dürf­tig Aga­the vor ihm saß. Sei­ne Toch­ter war ja häss­lich … ein grau­es, ver­zerr­tes Ge­sicht mit schar­fen, spit­zen Zü­gen und dunklen Rin­gen um den Au­gen.

Mimi leg­te ihr Schin­ken und Ho­nig und Ku­chen auf den Tel­ler.

»Lie­be Aga­the«, be­gann sie in ih­rer wei­sen, nä­seln­den Stim­me, »un­ser al­ter Herr Rat sagt im­mer, die ers­te Mahl­zeit wäre die nahr­haf­tes­te. Mor­gen kommst Du mit, im Kuh­stall Milch trin­ken.«

Der Re­gie­rungs­rat neck­te sie. »Wer­den Dei­ne Kran­ken auch mal Ho­nig und Schin­ken be­kom­men?«

Aga­the ver­such­te zu es­sen – es muss­te doch mög­lich sein, wenn sie sich zwang. Ein fes­ter Knäu­el saß ihr im Hals. Schon nach den ers­ten Bis­sen be­gann sie zu hus­ten.

»Es ist nichts«, stam­mel­te sie mit ei­nem Lä­cheln, und da­bei hus­te­te und hus­te­te sie im­mer hef­ti­ger. Sie wur­de asch­fahl, die Schweiß­trop­fen ran­nen ihr von der Stirn und Trä­nen über die Wan­gen. In­stink­tiv press­te sie die Hand auf die rech­te Sei­te der Brust, wo sie einen lei­sen Schmerz fühl­te. Man sprang mit be­sorg­ten Mie­nen von den Stüh­len. Müh­sam er­hob sich Aga­the, um sich vor all die­sen teil­neh­men­den Bli­cken zu ret­ten. Sie spür­te einen frem­den, un­heim­li­chen Ge­schmack auf der Zun­ge – da – das war Er­leich­te­rung …

Sie hielt ihr Tuch an den Mund – es färb­te sich dun­kel­rot.

Blut …

Ent­setzt, hil­fe­su­chend sah sie ihre Mut­ter an. Frau Heid­ling stütz­te sie und führ­te sie hin­weg. Mit ei­ner ru­hi­gen, trös­ten­den Stim­me sag­te sie: »Du legst Dich still hin – dann wird sich’s schon be­ru­hi­gen. Das kommt wohl mal vor.«

Sie bet­te­te die Toch­ter, hielt sie im Arm, als ein neu­er An­fall kam, und hat­te ein Lä­cheln, in­dem sie ihre Wan­gen strei­chel­te und sag­te: »Ar­mes Kind, hast Du Dich ge­ängs­tigt? Das sieht gleich so schreck­lich aus. Nicht wahr? Das kommt ja so oft vor.«

Aga­the lä­chel­te auch. Ja – ja – sie wuss­te schon – das kam oft vor.

Al­les war gut so – ganz frie­de­voll und gut.

Nur die Aus­sicht, das Er­leb­te jah­re­lang heim­lich mit sich wei­ter­tra­gen zu müs­sen, hat­te sie so auf­ge­regt und zer­ris­sen.

Da – sie tas­te­te mit der Hand – da un­ter dem rech­ten Schlüs­sel­bein – wenn sie at­me­te, fühl­te sie ein leich­tes Ras­seln an der Stel­le. Kaum Schmer­zen.

Ster­ben war ja gar nicht schwer – war ja ein mü­des Auf­ge­ben – ein gleich­gül­ti­ges sich Ab­wen­den von al­lem …

Die Au­gen ge­schlos­sen, ein we­nig fie­bernd, lag sie, nach­dem der alte Sa­ni­täts­rat, der mit dem Wa­gen aus der Stadt ge­holt war, sie ver­las­sen hat­te.

Nicht re­den – nichts er­klä­ren zu brau­chen – ach – das war gut.

Auf Ze­hen schlich je­mand ins Zim­mer, sie kann­te ih­res Va­ters Schritt, aber sie öff­ne­te die Li­der nicht. Er küss­te sie auf die Stirn – be­hut­sam – sie fühl­te war­me Trop­fen über ihre Schlä­fe rin­nen. Da quol­len ihr auch die Trä­nen. Er wisch­te sie ihr fort und mur­mel­te: »Mein gu­tes Kind – mei­ne gute Klei­ne!«

Mama, die in ei­ner großen wei­ßen Schür­ze vor dem Bet­te saß, mach­te ihm ein stum­mes Zei­chen, bei­de gin­gen lei­se, lei­se wie­der hin­aus und stan­den flüs­ternd vor der Tür.

»Der Herr Rat sagt, wenn Du hübsch vor­sich­tig sein willst, bist Du in vier­zehn Ta­gen wie­der mun­ter«, er­zähl­te Mama mit der hei­te­ren Stim­me, die so selt­sam von ih­rem ge­wöhn­li­chen, sor­gen­vol­len, mü­den Ton ab­stach, und die sie nur an­nahm, wenn eine große Ge­fahr ganz nahe stand, doch durch Selbst­be­herr­schung und Ver­stän­dig­keit viel­leicht noch ab­ge­wen­det wer­den konn­te. Aga­the er­in­ner­te sich die­ser be­son­de­ren, sanft­hei­te­ren Sprech­wei­se ih­rer Mut­ter von den Kran­ken- und Ster­be­bet­ten ih­rer klei­nen Ge­schwis­ter her.

*

Wie gut es tat, so zu ru­hen, um­spielt von der lin­den Früh­lings­luft, die zu den ge­öff­ne­ten Fens­tern bald die kräf­ti­gen Gerü­che der Land­wirt­schaft, bald die zar­ten Düf­te des jun­gen Lau­bes an der großen Lin­de her­ein­trug. Kei­ne Schmer­zen – nur eine leich­te fie­be­ri­sche Ver­wir­rung des Den­kens, das in hal­b­en Schlum­mer über­ging. Und al­les Er­leb­te so fer­ne – aus ei­nem frü­he­ren Da­sein mit ver­blass­ten Far­ben her­über­däm­mernd.

Auf dem Tisch­chen ne­ben ihr stan­den Blu­men, Flie­der und Ka­me­li­en. Cou­si­ne Mimi brach­te sie täg­lich frisch aus dem Ge­wächs­haus. Die kost­ba­ren Blu­men, die nur bei den sel­tens­ten Ge­le­gen­hei­ten ge­op­fert wur­den – das hat­te so et­was Fei­er­li­ches, wie letz­ter Lie­bes­dienst.

 

Sie war doch nicht ver­las­sen – man hät­te sie ger­ne noch be­hal­ten. Und sie hat­te ein Be­dürf­nis nach Zärt­lich­keit …

Auch ein Bild des Hei­lan­des hat­te Mimi an ih­rem La­ger auf­ge­stellt, sie woll­te ja Dia­ko­nis­sin wer­den, und ihr Sin­nen, ihr gan­zes We­sen war von ei­ner hei­te­ren und be­stimm­ten Glau­bens­kraft er­füllt.

Aga­the sah ger­ne auf das edle ge­senk­te Haupt un­ter der Dor­nen­kro­ne. Sie be­te­te viel – stumm mit ge­fal­te­ten Hän­den. Es war ihr dem Got­tes­sohn ge­gen­über wie ei­nem ho­hen wun­der­vol­len Men­schen, von dem man viel hat er­zäh­len hö­ren – aber man glaub­te doch nie­mals, von Per­son zu Per­son ihn ken­nen zu ler­nen. Und da mel­det er plötz­lich sei­ne nahe An­kunft – und nun fühlt man erst, was das be­sa­gen will.

*

Eu­ge­nie schrieb einen lan­gen, teil­neh­men­den Brief. Sie er­zähl­te von ei­ner Land­par­tie, die am zwei­ten Os­ter­ta­ge statt­ge­fun­den hat­te.

»Es war recht scha­de, dass Du nicht da­bei warst. Herr von Lutz frag­te auch nach Dir und lässt Dir gute Bes­se­rung wün­schen. Er war ganz ver­rückt und mach­te der dum­men Weh­ren­pfen­nig den Hof – aber, wie je­der se­hen konn­te, nur zum Spaß. Die Da­niel ist üb­ri­gens nach Schluss der Sai­son an­der­wei­tig en­ga­giert und geht von hier fort …«

Mama las Aga­the den Brief vor und sah sie lie­be­voll an. Ein mat­tes Lä­cheln blieb auf den ab­ge­zehr­ten, scharf und schmal ge­wor­de­nen Zü­gen der Kran­ken.

Nun hat­te sie auch die­se Prü­fung be­stan­den … Sie fühl­te sich stark in al­ler Schwä­che – sie hat­te sei­nen Na­men ge­hört und nach dem ers­ten Au­gen­blick, in dem es ihr ge­we­sen war, als sin­ke sie mit ih­rem La­ger hin­ab in ein dunkles kal­tes Was­ser, war sie ru­hig ge­blie­ben.

Gott sei Dank – kein Neid und kein Hass auf die Da­niel war mehr in ihr – und auch kei­ne Hoff­nung und kein Wunsch.

Wie das gut tat.

Auch das Glück war doch im Grun­de Schmerz ge­we­sen.

Ob sie noch viel lei­den wür­de? So leicht konn­te das Ster­ben doch nicht sein? Sie muss­te jetzt oft dar­über nach­den­ken, be­son­ders in der Nacht, wenn sie stun­den­lang nicht schlief. Es muss­ten noch Kämp­fe kom­men. Sie woll­te mu­tig sein.

Nach den hef­ti­gen An­fäl­len, die sie nie­der­ge­wor­fen hat­ten, war der Hus­ten fast ver­schwun­den. Aber in ei­ner Nacht, als Mama ihr zu trin­ken gab, weil der Mund ihr sehr tro­cken war, fiel er sie plötz­lich wie­der an. Sie setz­te sich auf­recht. Ach, war das ein Schre­cken. Keu­chend rang sie mit dem Fein­de, der sie schüt­tel­te und ihr die Brust schmerz­lich zer­riss. Die Luft ging pfei­fend durch ih­ren Hals – sie schlug mit den Ar­men um sich in der Er­sti­ckungs­not – ihre Mut­ter hielt sie auf­recht und wisch­te ihr, tief seuf­zend, die vom kal­ten Schweiß ge­näss­te Stirn.

Der Re­gie­rungs­rat kam, ei­lig und flüch­tig be­klei­det, aus dem Ne­ben­zim­mer.

»Mein Kind – mein Kind – was ist denn nur ge­sche­hen?«

»Lasst mich doch ster­ben«, keuch­te Aga­the. »Lasst mich doch ster­ben – es ist ja bald vor­über. O Gott! O mein Gott!«

Jetzt hielt der Va­ter sie, die Mut­ter sank vor dem Bett auf die Knie, fass­te ihre Hän­de und küss­te sie mit lau­tem, lei­den­schaft­li­chem Schluch­zen.

»Nein – nein« – ächz­te sie da­bei, »Du darfst nicht – Du darfst nicht ster­ben. Das wirst Du uns doch nicht an­tun – das kann doch der lie­be Gott nicht ge­sche­hen las­sen …«

Und als sei es ihr mög­lich, dem Tode zu trot­zen, wenn sie nur woll­te, fleh­te nun auch ihr Va­ter, vor Angst al­ler Ver­nunft be­raubt, sie an, bei ih­nen zu blei­ben.

»… Wir ha­ben Dich ja so lieb – Du weißt es ja gar nicht – al­les – al­les wol­len wir Dir zu­lie­be tun … Wer­de doch nur wie­der ge­sund – mein sü­ßes Kind – wie sol­len wir denn nur le­ben … Wir kön­nen Dich ja nicht ent­beh­ren …«

Nein – sie hat­te es nicht ge­wusst – hat­te den wil­den Schmerz, die stür­mi­sche Zärt­lich­keit nicht vor­aus­ge­se­hen. Das war ein Kampf – ein ent­setz­li­cher, der ihr die See­le zer­riss, wäh­rend die Brust nach Atem rang.

Sie glaub­te, es müs­se wie­der ein Blutstrom quil­len und ihre Qual en­den. Aber es lös­te sich nur ein zä­her Schleim, und dann be­ru­hig­te sich der An­fall.

Sie war see­lisch tief er­regt, und von dem Schweiß der Schwä­che über­gos­sen, mit strö­men­den Trä­nen bat sie Papa und Mama, ihr den Ab­schied nicht so schwer zu ma­chen – sie möch­te ja so ger­ne ster­ben, und es wäre ja gut so. Und sie hät­ten ja doch noch Wal­ter und Eu­ge­nie, Eu­ge­nie wür­de ih­nen auch eine gute Toch­ter sein.

End­lich schlief sie sit­zend, die Arme um ih­res Va­ters Hals ge­schlun­gen, den Kopf an sei­ne Schul­ter ge­lehnt, vor Er­schöp­fung ein. Und er hielt sie so, wohl eine Stun­de lang.

Als sie auf­wach­te, sah sie aus ver­wor­re­nen Träu­men beim Schein des Nacht­lich­tes noch im­mer die bei­den Ge­sich­ter angst­voll und mit ver­zwei­fel­ter Lie­be auf sich ge­rich­tet.

Trau­rig lä­chelnd leg­te sie sich auf die Kis­sen zu­rück und ließ sich bet­ten und zu­de­cken.

Nein – sie durf­te nicht ster­ben – sie muss­te schon le­ben wol­len.

Heim­lich mein­te sie: wenn sie es auch ver­such­te, Gott wür­de ihr Op­fer ver­ste­hen und wür­de wohl Ein­se­hen ha­ben.

Der alte Haus­arzt schi­en am fol­gen­den Mor­gen durch die Schil­de­rung des nächt­li­chen Schre­ckens nicht son­der­lich be­un­ru­higt. Er mein­te, die Hei­lung ma­che gute Fort­schrit­te, und das wer­de der letz­te An­fall ge­we­sen sein.

Nach vier­zehn Ta­gen durf­te Aga­the wie­der auf­ste­hen, soll­te gute Beefs­teaks und Schwarz­brot es­sen, Milch und Bier trin­ken, spa­zie­ren ge­hen oder doch in der Luft sit­zen und lie­gen.

Es fan­den jetzt täg­lich Be­ra­tun­gen zwi­schen den Ver­wand­ten und den El­tern statt, wo­hin man im Som­mer mit ihr ge­hen kön­ne und ob nicht für den nächs­ten Win­ter ein Auf­ent­halt im Sü­den an­ge­zeigt sei. Aga­the hör­te um sich her die be­kann­ten Na­men: Gör­bers­dorf – Da­vos – Meran. Na­tur- und Kalt­was­serärz­te wur­den vor­ge­schla­gen und ein sehr be­rühm­ter Mann, der nach ei­nem Me­tall­stück, das der Kran­ke ei­ni­ge Zeit am Lei­be ge­tra­gen, die er­folg­reichs­ten Ku­ren ver­ord­ne­te. In je­dem Brie­fe, den die Mama von ih­ren Freun­den emp­fing, wur­de ihr ein neu­es Heil­mit­tel an­ge­prie­sen und auch gleich zu­ge­schickt. Heu­te soll­te Aga­the Ge­lee von Schne­cken es­sen, mor­gen sich mit Ha­sen­fett ein­rei­ben und über­mor­gen Esels­milch trin­ken.

Schließ­lich schrieb der Re­gie­rungs­rat doch an eine be­kann­te Grö­ße auf dem Ge­bie­te der Lun­gen- und Brust­krank­hei­ten. Als der Pro­fes­sor ant­wor­te­te, es tref­fe sich gut, er habe eine Pa­ti­en­tin in je­ner Ge­gend zu be­su­chen und kön­ne da­mit einen Ab­ste­cher nach Bor­nau ver­bin­den, wirk­te das wie eine Er­lö­sung auf die El­tern.

Aga­the selbst sah der Un­ter­su­chung in schwan­ken­der Stim­mung ent­ge­gen. Sie hat­te kei­ne Lust mehr zum Le­ben und kei­ne Freu­dig­keit mehr zum Tode. Ein lan­ges Lei­den mit den Sta­tio­nen schein­ba­ren Wohl­be­fin­dens da­zwi­schen – der Jam­mer von Papa und Mama ins End­lo­se hin­aus­ge­zo­gen – das war doch ganz an­ders schreck­lich als ein leich­tes, fried­li­ches Ein­schla­fen. Sie sah die ihr dro­hen­de Krank­heit nicht mehr in ei­ner ro­man­ti­schen, son­dern in ei­ner trü­ben, kläg­li­chen Be­leuch­tung, sie sah plötz­lich al­les Wi­der­li­che, Unäs­the­ti­sche, Pein­vol­le. Seit es ihr wie­der bes­ser ging, war sie über­haupt nicht mehr in der sanf­ten, ver­klär­ten Ge­müts­ver­fas­sung, son­dern un­ge­dul­dig, leicht zur Hef­tig­keit und zu Trä­nen ge­reizt.

Sie ver­such­te, sich durch Le­sen von Psal­men und durch Ge­bet zu be­ru­hi­gen. Ihre See­le in den Wil­len des Herrn zu er­ge­ben – ach, das war das ein­zi­ge, was ihr hel­fen konn­te. Aber sie glaub­te end­lich, still ge­wor­den zu sein, so merk­te sie dar­an, dass sie kei­nen Bis­sen fes­te Nah­rung her­un­ter­schlu­cken konn­te und dass ihre Hän­de von ei­ner un­an­ge­neh­men Feuch­tig­keit be­deckt wa­ren, wie frucht­los ihr Mü­hen blieb.

Der alte Rat kam schon vor dem Pro­fes­sor in sei­nem ei­ge­nen Wa­gen. End­lich er­schi­en auch der be­rühm­te, er­war­te­te und ge­fürch­te­te Gast.

Aga­the be­fand sich mit den El­tern in der großen Wohn­stu­be. Auch Tan­te Mal­wi­ne war ge­gen­wär­tig und Cou­si­ne Mimi, weil der Vor­gang sie, ih­res künf­ti­gen Be­ru­fes we­gen, doch sehr in­ter­es­sier­te. On­kel Au­gust emp­fing den Pro­fes­sor un­ten auf der Trep­pe, ge­lei­te­te ihn hin­auf und übergab ihn dem Re­gie­rungs­rat. Al­les war un­be­schreib­lich fei­er­lich – wie bei ei­ner Ge­richts­sit­zung.

Der Pro­fes­sor schi­en et­was er­staunt durch die zahl­rei­che Fa­mi­lie.

»Ach – wel­ches ist die Pa­ti­en­tin?« frag­te er, in­dem er rings­um grüß­te und dem Kol­le­gen die Hand schüt­tel­te.

Aga­the er­hob sich zit­ternd.

Er sah sie scharf an. Ein zwer­gen­haft klei­ner, blei­cher Mann. Be­quem in einen Lehn­ses­sel zu­rück­ge­legt, die Hän­de be­hag­lich ge­fal­tet, ließ er sich er­zäh­len, wie der Fall sich er­eig­net habe, wie alt Aga­the sei, wel­che Krank­heit sie durch­ge­macht habe, – auch das Al­ter ih­rer El­tern und ihr Ge­sund­heits­zu­stand wur­de ge­nau ge­prüft, und be­son­ders frag­te er, ob schon Fäl­le von Tu­ber­ku­lo­se in der Fa­mi­lie vor­ge­kom­men sei­en. Nein, das war durch­aus nicht der Fall. Frau Heid­ling be­ant­wor­te­te al­les mit der hei­te­ren Stim­me der angst­vol­len Zei­ten.

End­lich ver­ließ der Re­gie­rungs­rat das Zim­mer.

»Sie sind sehr ein­drucks­fä­hig«, sag­te der Pro­fes­sor, das Ohr an Aga­thes Brust ge­legt … »ganz un­ge­wöhn­lich ein­drucks­fä­hig.« Den Kopf er­he­bend, dicht vor ih­rem Ge­sicht, und den ma­gern Hals be­trach­tend, in den die letz­ten Wo­chen förm­li­che Lö­cher ge­gra­ben hat­ten, frag­te er: »Ha­ben Sie sich vor die­sem An­fall hef­tig al­te­riert?«

»Ja«, hauch­te Aga­the, und eine dun­kel­ro­te Blut­wel­le färb­te ihr Hals und Bu­sen.

»Wann – wenn ich fra­gen darf?«

»Am Tage vor­her.« Sie zit­ter­te stär­ker, ihr Herz schlug qual­voll hef­tig.

»Kind – da­von hast Du mir ja gar nichts ge­sagt«, be­gann ihre Mut­ter vor­wurfs­voll.

Der Pro­fes­sor warf der Rä­tin einen schnel­len, zur Vor­sicht mah­nen­den Blick zu.

»Ich dach­te es mir«, be­merk­te er ru­hig. »Das er­klärt die Sa­che. So – nun wol­len wir ein­mal auf der an­de­ren Sei­te klop­fen … Die Wun­de ist üb­ri­gens sehr gut ge­heilt.«

Der alte Sa­ni­täts­rat er­hielt ein Kopf­ni­cken.

Aga­the leg­te ihr Kleid wie­der an und die Ärz­te zo­gen sich zu ei­ner Be­ra­tung zu­rück.

Der Re­gie­rungs­rat und On­kel Bär sa­hen zur Tür her­ein.

»Was hat er ge­sagt?«

Man zuck­te mit den Schul­tern und zeig­te nach der Tür, hin­ter der die Ärz­te ver­schwun­den wa­ren.

»Sie hat sich al­te­riert«, be­rich­te­te Tan­te Mal­wi­ne halb­laut, vor­sich­tig und auf den Ze­hen zu ih­rem Man­ne tre­tend.

»Gro­ße Al­te­ra­ti­on …« flüs­ter­ten On­kel Bär und der Re­gie­rungs­rat.

»Aga­the hat sich sehr al­te­riert, ich wuss­te nichts da­von«, wie­der­hol­te Frau Heid­ling dem Re­gie­rungs­rat. Alle blick­ten Aga­the teil­neh­mend und neu­gie­rig an. Nur Cou­si­ne Mimi sah ein we­nig streng aus. Wie konn­te man sich so al­te­rie­ren, dass man krank wur­de!

Aga­the schäm­te sich, sie litt Fol­ter­qua­len. Nun wür­den sie alle dar­über re­den und nicht ru­hen, bis sie es end­lich her­aus­be­kom­men, wor­über sie sich al­te­riert hat­te. –

Dann wur­de sie von ei­nem wil­den Schre­cken er­fasst. Sie war doch ge­wiss sehr krank, wenn man dort drin­nen so end­los lan­ge über sie sprach.

Das wur­de ja un­er­träg­lich!

Ster­ben müs­sen – auf­hö­ren zu sein Nein – nein – al­les an­de­re! Nur le­ben! O Gott – lie­ber, barm­her­zi­ger Gott – nur noch ein biss­chen le­ben.

Plötz­lich hör­ten alle das tie­fe, be­hag­li­che La­chen des al­ten Sa­ni­täts­rats.

Wie das über­rasch­te und den stum­men Bann der Er­war­tung brach!

Der Re­gie­rungs­rat öff­ne­te die Tür – auch der Pro­fes­sor lach­te über das gan­ze Ge­sicht.

»Ja – das sind so Er­fah­run­gen, mein lie­ber Kol­le­ge«, hör­te man ihn lus­tig sa­gen.

Als er im Rah­men der ge­öff­ne­ten Tür das blas­se Mäd­chen­ant­litz mit den lei­dens­vol­len Au­gen ge­spannt auf sich ge­rich­tet sah, ver­schwand sein Ver­gnü­gen an der gu­ten An­ek­do­te hin­ter dem mild-erns­ten Be­rufs­ge­sicht.

 

Er wen­de­te sich zu Frau Heid­ling.

»Nun – ich kann Ih­nen ja güns­ti­ge Aus­kunft ge­ben«, sag­te er freund­lich. »Von Tu­ber­ku­lo­se fin­de ich kei­ne An­zei­chen. Ihr Fräu­lein Toch­ter ist sehr sen­si­bel – un­ter dem Ein­fluss hef­ti­ger psy­chi­scher Er­re­gung ist ihr da ein Äder­chen ge­sprun­gen. Die Kon­sti­tu­ti­on muss Wi­der­stands­fä­hi­ger ge­macht wer­den – sonst könn­ten sich doch böse Din­ge ent­wi­ckeln. – Ihre Ge­sund­heit, lie­bes Fräu­lein, ist in Ihre ei­ge­ne Hand ge­legt. Ge­ben Sie sich hei­te­ren Ein­drücken hin, ge­nie­ßen Sie Ihre Ju­gend.«

Er er­teil­te nun sei­ne ein­fa­chen Ver­ord­nun­gen, die in al­len Haupt­sa­chen mit de­nen des al­ten Haus­arz­tes über­ein­stimm­ten. Doch hör­te man ihm auf­merk­sa­mer zu, und je­des Wort aus sei­nem Mun­de schi­en einen hö­he­ren Wert zu be­sit­zen.

Aga­the hät­te ihm am liebs­ten in hei­ßer Dank­bar­keit die Hand ge­küsst.

Als der Pro­fes­sor sich ent­fernt hat­te, um­arm­ten Papa und Mama die Toch­ter. Ihr Glück dünk­te Aga­the so un­schätz­bar, so köst­lich und so tief be­frie­di­gend, dass ein freu­di­ger, ja ein wahr­haft kampf­lus­ti­ger Mut zu je­der Ent­sa­gung über sie kam.

Sie woll­te ge­sund sein, sie woll­te le­ben – für nie­mand und für nichts an­de­res auf der wei­ten Welt, als nur für ihre El­tern.

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