Mit langem Atem zum großen Glück

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Lima am 27. Juni 1980 - Ein Kind erblickt das Licht der Welt

Am anderen Tag kehrte Maxima Rosario ins Hospital zurück, drückte das kleine Bündel Mensch zärtlich an sich und kehrte mit ihm zurück in ihre Elendshütte. Dort legte sie ihr Kind in einen kleinen braunen Pappkarton. Es ist ihr Kind. Sie hat es unter Schmerzen zur Welt gebracht. Sie liebt dieses Kind, so wie jede Mutter der Welt ihr Neugeborenes liebt.

Doch von Liebe allein kann das Baby nicht leben, das weiß sie ganz genau: Ohne Milch, liebevolle Pflege, ohne Kleidung, Wärme und Nahrung muss ihr Neugeborenes sterben. Sie hat diese entsetzliche Erfahrung schon einmal gemacht.

Lima am 30. Juni 1980 - Überlebenskampf

Tagsüber musste sie das Kind in der winzigen Hütte zurücklassen. Die Kleine wimmerte, weinte, schrie. Nach wenigen Tagen gab das Baby den Kampf um sein bisschen Leben auf. Es lag im Kot, ein Teefläschchen als Nahrung neben den winzig kleinen Händchen, die zu Fäusten geballt waren. Ab und zu sah eines der Geschwister nach ihm, doch sie waren damit beschäftigt, auf den stinkenden Abfallhalden mit Hacken und Stöcken oder den bloßen Händen Brauchbares herauszuholen.

Dabei heißt es Heerscharen von Fliegen zu vertreiben, sich mit den kreisenden Geiern herumzuärgern und Stöcke oder Müll nach ihnen zu schleudern. Den streunenden, abgemagerten Hunden gilt es gute Fundstücke abzujagen, um schließlich das Beutestück in Tüten und Säcke zu stopfen. Am Ende des Tages werden die so gesammelten Reichtümer auf dem Rücken abtransportiert. Man wird versuchen, sie zu verkaufen. Noch verwertbare Lebensmittel schleppen die Kinder in ihre Behausung.

Einen Namen hatte das Kind noch immer nicht. Kind heißt es nur: Nina, Mädchen. So braucht man es nicht anzumelden und die Ausstellung eines Totenscheines entfällt, denn beides kostet Geld. Geld, das Maxima nicht besitzt.

Niemand weiß, wie viele Kinder das erleiden müssen. Es heißt nur: „Jedes dritte Kind hat die Chance zu überleben“. Geboren werden, um zu sterben.

Etwa jeder zweite Peruaner ist ein Indianer, ein Drittel sind Mestizen, also Mischlinge aus Indianer und Weißen, und nur 12 % sind Weiße. In Armut leben etwa sechzig Prozent der Peruaner. Sie sind die Leidtragenden der verfehlten Politik, der Aufstände, des Mordens durch das Militär. Dem Reichtum weniger steht das Elend der Massen gegenüber. Vielen Indios bleibt nur noch Betteln oder Diebstahl offen und so schließen sie sich gewaltlosen Bewegungen an, um ihre Menschenrechte einzufordern.

Frauen und Kinder sind die billigsten Arbeitskräfte und halten die Familien am Leben. Sie versorgen auf dem Lande die Tiere, schleppen Feuerholz und Wasser herbei, sind für die Ernte zuständig, laufen kilometerweit zum Markt, um ihre Waren feilzubieten und halten Haushalt und Kinder in Ordnung.

Und der Mann? Zu viele fühlen sich als berechtigte Patriarchen und sind Machos. Ein echter Mann zeugt allzu oft zahlreiche Kinder und überlässt dann die Familie sich selbst.

Um dem täglichen Überlebenskampf standzuhalten, wird die Droge Koka gekaut. Schmerzen, nicht behandelte Krankheiten und auch der Hunger werden so überlagert. Drogenhändler und Drogenmafia machen gute Geschäfte.

Früher durften Indiokinder nicht die Schule besuchen, sondern wurden vom Staat bewusst als Analphabeten zu billigsten Hilfskräften herangezogen. Die Indios wurden enteignet, man nahm ihnen gutes Ackerland ab und gab ihnen schlechten Grund und Boden.

Heute bietet Peru einen kostenfreien Schulbesuch und es besteht Schulpflicht vom 8. bis zum 14. Lebensjahr. In den Städten gibt es Kindergärten, auf sie bauen die Primarschule und dann die Sekundarschule mit Fachschule und Abitur auf.

In den großen Städten sind etwa 11 Prozent noch Analphabeten, auf dem Land steigt dieser Anteil auf bis zu 70 Prozent.

Kinder und Jugendliche müssen Geld verdienen, um der Familie das karge Überleben zu sichern. Reiche ermöglichen ihren Kindern teure Privatschulen und damit eine gute schulische Ausbildung und leider investiert der Staat in die Schulbildung für alle sehr wenig.

Arme Kinder legen oft einen kilometerlangen Schulmarsch zurück, nach einem schweren Arbeitstag zu Hause. Und dennoch oder gerade deshalb wollen diese Kinder zur Schule gehen. Sie werden am ganz frühen Morgen und am späten Nachmittag bis in die Nacht hinein im Schichtbetrieb unterrichtet.

Auf dem Land und in den großen Elendsvierteln um die Städte herum kümmert sich der Staat wenig um die Bildung seiner Kinder.

Fast alle Peruaner sind katholisch. Die Indios sind sehr gläubig und haben aus der Inka- und Indianer-Zeit religiöse Sitten, Bräuche und Überlieferungen übernommen und in den christlichen Glauben eingebettet, sodass alles miteinander und ineinander verwoben ist.

Viele christliche Feste fallen mit den alten Bräuchen zusammen und werden als ein großes Fest in der Gemeinde begangen.

Das wichtigste Jahresfest zu Ehren des Sonnengottes „Inti Raymi“ fällt mit dem Fest des heiligen Johannes zusammen. An heiligen Wallfahrtsorten treffen sich Tausende von Menschen an einem bestimmten Tag. Dort sprechen sie mit Gott, musizieren, tanzen, feiern. Sie bringen symbolische Opfergaben und bitten ihre Götter um Erfüllung. Dabei nimmt die Pachamama, die Mutter Erde, das Spiegelbild zur Muttergottes ein.

Priester nutzten den Indioglauben aus, die Menschen wurden ausgebeutet und gehorchten.

Das Bild des leidenden Christus am Kreuz wird von den Indios am höchsten verehrt. Von ihm erwarten sie Hilfe und Verständnis für ihr eigenes Leben.

Ein Lichtblick

An diesem Nachmittag erfährt Maxima Rosario von einer befreundeten Empleada, dass es ein Waisenhaus gibt und dass dort einige wenige Kinder das unglaubliche Glück haben, von verrückten Fremden mitgenommen zu werden. Menschen mit weißer Haut und einer fremden Sprache. Kein Peruaner würde je ein Indiokind adoptieren. Niemals. Also müssen diese Gringos, wie die Weißen genannt werden, völlig verrückt und übergeschnappt sein.

Maxima Rosario bringt ihr halb verhungertes Kind dort hin. Legt es behutsam neben einer Mülltonne vor dem Haus ab, versteckt sich und beobachtet das Haus. Wenig später tritt eine Frau aus der Tür, hört das Wimmern, schaut sich suchend um, geht hin und hebt das Bündel Mensch auf. Die Tür schließt sich leise hinter ihr. Ihr Kind und die Frau sind aus ihrem Leben verschwunden. Maxima macht sich erleichtert auf den Heimweg.

Die Kinder liegen auf langen Pritschen, dicht aneinandergedrängt. Sie sind bis zum Hals eingewickelt. Nur der Kopf ist noch frei beweglich. Auch hier sind Kleidung, Nahrung und Personal Mangelware. Viele Kinder werden nicht überleben, sie liegen im Kot und Erbrochenen. Niemand kann sich um so viele ausgesetzte und verlassene Kinder kümmern. Es fehlt auch an medizinischer Betreuung. Das Heim lebt von Spenden und ehrenamtlichen Betreuern. Alle Kinder leiden unter schweren Mangelerscheinungen, es fehlt an Aufbaustoffen ebenso wie an Milch. Tee, Gemüsesuppe und eingeweichtes Brot bilden die Überlebensbasis. Parasiten und schwere Durchfälle zeichnen die Kinder.

Nur willensstarke Kinder, die immer wimmern und ihre Not herausschreien und so auf sich aufmerksam machen, werden den Kampf mit dem Tod bestehen. Die anderen Kinder werden immer stiller, bis sie unbemerkt und lautlos ihr kleines Lebenslicht verlöschen lassen.

Lima am 14. Juli 1980 - Das Schicksal nimmt eine unerwartete Wendung

Maxima geht nach zwei Wochen zurück ins Waisenhaus. Sie wünscht sich so sehr, dass ihr Kind noch lebt. Und wenn es so wäre, würde sie es zur Adoption frei geben.

Aus dem Gerichtsprotokoll

„Vor dem Jugendrichter in Lima erfolgt um 14:00 Uhr der Gerichtstermin in der Adoptionsverhandlung. Die abgebende Mutter wurde einbestellt, um der Abgabe ihrer Tochter zuzustimmen. Maxima Rosario erklärt mit ihrer Unterschrift, dass sie das Kind an Adoptiveltern abgeben möchte.“

Lima 21. Juli 1980 - Entdeckt

Das kleine Mädchen ohne Namen lebt noch immer. Da besucht am frühen Morgen ein von der Regierung zugelassener und beauftragter Advokat das Waisenhaus. Er darf Auslandsadoptionen durchführen. Der Kalender, wenn es einen hier gäbe, zeigt das Datum des 21. Juli 1980.

An diesem Vormittag entdeckt dieser Rechtsanwalt das Kind. Es schreit und kämpft um sein Leben. So zieht es das Interesse und die Neugierde des Gastes auf sich.

Ein zweites Leben wird dem kleinen, noch namenlosen Mädchen geschenkt. Pachamama hatte die flehentlichen Bitten von Maxima Rosario erhört.

Lima am 22. Juli 1980 - Das kleine Mädchen erhält einen Namen

Aus dem Gerichtsprotokoll:

„Um 15:00 Uhr wird die abgebende Mutter abermals zur Verhandlung vor dem Jugendrichter einbestellt. Ihr wird eröffnet, dass Adoptiveltern gefunden wurden. Sie erklärt durch ihre Unterschrift, dass das Kind den Namen Felicitas Mariella Klink erhalten soll.

Außerdem muss sie noch einmal dieser Adoption zustimmen, nachdem das Gericht erneut die Personalien aufgenommen hat. Sie bezeugt, dass sie die Mutter des Kindes ist, ledig, 22 Jahre alt, Wäscherin und Hausmädchen, wohnhaft in Nueva Esperanza.

Weiterhin bezeugt sie, dass sie den Kindsvater nicht kennt und deshalb das Kind auch nicht in das Geburtenregister der Stadt Lima eingetragen wurde. Da der Aufenthalt des Kindsvaters nicht ermittelt werden kann, kann das Kind somit auch nicht anerkannt werden. Deshalb konnte eine Geburtsurkunde nicht ausgestellt werden.“

 

Lima am 24. Juli 1980 - Adoptionszustimmung

Aus dem Gerichtsprotokoll:

„Erneute Gerichtsverhandlung. Die Mutter beantragt, dass ihr Kind von dem deutschen Ehepaar adoptiert wird. Der Richter bestätigt die Einwilligungsniederschrift zur Adoption.

Der Erste Jugendrichter verfügt über die Eintragung in die auszustellende Geburtsurkunde: Felicitas Mariella Klink.“

Deutschland am Donnerstag 31. Juli 1980 - Sprachlos

Im Briefkasten liegt ein blauer Luftpostbrief. Sofort erkenne ich die peruanischen Briefmarken. Oben links prangt der große Stempel der deutschen Schule in Lima. Mein Herz klopft bis zum Hals, als ich ihn etwas unschlüssig in der Hand halte. Soll ich ihn gleich öffnen oder bis zum Abend warten, bis Siegfried nach Hause kommt? „Du meine Güte, wenn er nun gar eine gute Nachricht enthält? Aber nein, bisher nur Absagen oder Vertröstungen und Enttäuschungen.“

Aber die weibliche Neugierde gewinnt die Oberhand. Mit flatterndem, bis zum Hals klopfendem Herzen, Neugierde, Freude gemischt mit Angst, zerre ich mit zitternden Händen am Briefumschlag, reiße ihn ungeduldig und ungeschickt auf.

Die ersten Zeilen überfliege ich fahrig, ohne zu begreifen, was ich lese. Das Schreiben ist nicht etwa in Spanisch getippt, nein, es sind deutsche Worte und Sätze. Doch mein Gehirn hat sich wohl abgeschaltet, ist steckengeblieben oder hat sich gar aufgelöst?

Also beginne ich die Zeilen zum zweiten Mal halblaut zu lesen. Nun macht es in meinem Hinterkopf „Klick“ und die Wörter rinnen wie durch eine Sanduhr in mein Bewusstsein. Immer wieder von Neuem lese ich mit Staunen den Briefbeginn:

„Liebe Familie Klink,

ich möchte Ihnen heute die langersehnte Nachricht übermitteln, dass ein kleines Mädchen für Sie gefunden wurde. Das Kind ist am 26. Juni 80 geboren. Weitere Einzelheiten weiß ich noch nicht.

Das Kind wird sofort in eine Pflegefamilie gegeben.“

Etwas unschlüssig drehe ich das zehn Tage alte Schreiben und betrachte dann den Umschlag von allen Seiten. Ich will mich vergewissern, dass er tatsächlich an mich adressiert ist und nicht an jemand anderen, denn dieser Inhalt ist ungeheuerlich.

So viel ich auch den Brief samt Inhalt inspiziere und kontrolliere, hin und her schwenke, da steht mein Name. Klar und deutlich. Unumstößlich. „SRA Gabriele Klink, Einsteinweg 22, 7440 Nürtingen, West Germany“

Fassungslos rinnen mir die Tränen über das Gesicht. Ich bemerke es nicht einmal. Erst als mit einem leisen „Plopp“ ein Tropfen einen unübersehbaren, dunklen, nassen Klecks auf dem blauen Luftpostumschlag hinterlässt, mir die Buchstaben verschwimmen und vor meinem Gesicht tanzen, spüre ich auch körperlich: „Es ist wahr!“

Ich kann es nicht glauben! Lese und lese, aber die Buchstaben bleiben gleich, kein Wort verschwindet wie mit unsichtbarer Tinte geschrieben. Die Sätze bleiben ganz brav und artig dort, wo sie hingehören, nämlich auf dem Briefpapier.

Jubel im Inneren kämpft gegen den sich jetzt regenden und neu erwachten Verstand. Ich will umgehend diese Traumnachricht an Siegfried weiterleiten. Das Telefon steht fast neben mir. Ich stehe wie festgenagelt, festgewurzelt. Mein Arm ist tonnenschwer und nicht imstande, den Hörer abzuheben. Ich will ja diese Nachricht glauben, kann sie aber schlicht und einfach nicht fassen.

Da sitze ich. Aufgelöst. Erstarrt. Ich bin außerstande, das zu tun, was nun getan werden müsste und was mir mein klarer Verstand eingibt „Ruf den frischgebackenen Vater an“. Doch ich habe das untrügliche Gefühl neben mir zu sitzen. „Ich muss den frischgebackenen Vater umgehend über sein Vaterglück informieren“, rufe ich befreit. „O Gott, wie bringe ich ihm das bloß bei? Wie wird er reagieren? Er kann sich schließlich nicht einfach hinsetzen, um diese Nachricht zu verdauen. Er hat auch keinen Brief in den Händen, an dem er sich festklammern kann. Und er ist nicht allein, sondern die Arbeitskollegen werden ihn forschend beobachten. Er steht an einer Maschine, die volle Konzentration einfordert.“

Aber alle „Wenns“ und „Abers“ verflüchtigen sich wie mit Zauberhand, als ich mich nach einer kleinen Ewigkeit erhebe und mich durchringe, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen. Ich bin so nervös, dass ich mich zweimal verwähle.

Es dauert und dauert, bis Siegfried endlich ans Telefon gerufen wird und sich meldet „Klink“. Ich kann nun nur noch überstürzt und atemlos in den Telefonhörer stammeln: „Halt dich fest. Es ist die schönste Nachricht unseres Lebens: Wir sind die glücklichsten Eltern der Welt. Wir haben eine kleine Tochter in Peru.“

Lima am 06. August 1980 - Unsere kleine Tochter in Lima

Aus den Gerichtsakten:

„Es ergeht der Beschluss im Adoptionsverfahren in Lima: Das Gericht stellt den Antrag im Namen der Mutter, die anwesend ist, auf endgültige Adoptionsbescheinigung. Es wird erneut festgestellt, dass alle vorliegenden Unterlagen rechtskräftig sind. Sie erfüllen nach eingehender Überprüfung die peruanischen Adoptionsgesetze.

Maxima Rosario werden die Fotos aus Deutschland über die Adoptionseltern und deren Wohnumfeld vorgelegt und diese kommen zu den Gerichtsakten.

Am Ende der Verhandlung ergeht der Beschluss des Herrn Staatsanwalt, dass dieses Kind den Eheleuten aus Deutschland zur Adoption übergeben wird. Weiterhin wird beantragt, die Namensgebung dem Standesamt in Lima-Miraflores zur Eintragung zu übermitteln und an das Personenstandsregister weiterzuleiten, damit das Kind ausreisen kann. Es wird weiterhin beschlossen, dass sowohl der Name des Kindes als auch das Geburtsdatum festzuschreiben ist.“

Lima am 10. August 1980 - Endlich eine Geburtsurkunde

Aus den Gerichtsakten:

„Da kein Widerspruch eingereicht wurde, verfügt das Gericht am 10. August 1980, dass die Adoption ausgesprochen wird. Alle Unterlagen sowie die 32 Seiten Gerichtsprotokoll werden der Staatsanwaltschaft zur Beglaubigung vorgelegt, mit der Bitte um Weitergabe an das Außenministerium.“

Deutschland am Mittwoch, 13. August 1980 - Träume

Die nächsten Tage sind hektisch. Alle Papiere zur peruanischen Botschaft bringen. Fotokopien anfertigen, alles beglaubigen lassen, abschicken. Ein Stoßgebet begleitet den dicken Brief über den Ozean und eine leise Bitte schicke ich hinterher: „Komm gut an!“

Nachts träume ich von unserem Kind, obwohl ich noch nichts weiß. Natürlich haben wir in Lima sofort angerufen, dass wir das Baby haben möchten. Den Namen „Felicitas“ haben wir sorgfältig ausgewählt. Etwas anderes schien uns unpassend zu sein: Wir wünschen unserer kleinen Tochter, dass sie mit uns und bei uns glücklich wird. Er lässt sich in Peru aussprechen und spiegelt unser gemeinsames Glück einfach im Namen wieder.

Die Suche nach einem preisgünstigen Flug scheint wie eine unüberwindliche Hürde. Die Sommerferien haben begonnen und Peru liegt ja nun nicht gerade um die Ecke. Dann das Riesenglück. Ein Jumbo der spanischen Avianca würde mich nach Peru bringen.

Es war schwierig eine genauere Vorstellung außerhalb der Reiseführer und Ausgrabungsberichte über Peru zu erhalten. Das Internet war noch nicht erfunden und wen interessierte schon Peru? Wir entwickelten uns zu wahren Spürhunden im Entdecken von Literatur. Im Sprachkurs hatte ich mein Spanisch wiederaufgefrischt. Peru, unser Kind, Spanisch, Flug, Ungewissheit. Alles drehte sich wild durcheinander, wirbelte wie bunt gefärbte, leuchtende Herbstblätter im Wind immer wieder im Kreis herum.

Samstag, 16. August 1980 - Die große Reise ins Unbekannte

Alle Papiere sind nun vollständig da, mit interessanten Stempeln verziert und in einer dick angeschwollenen Mappe verstaut. Geld, Pass und Geburtsanzeigen sind eingepackt. Die blaue Tragetasche und der Koffer warten auf das große Abenteuer auf der anderen Welthalbkugel.

Flughafen Stuttgart - 14:50 Uhr

Eine letzte Umarmung und mit Tränen in den Augen verabschieden wir uns. Wenn wir uns wiedersehen, sind wir Eltern und unser bisheriges Leben wird sich von Grund auf verändert haben. Meine innere Anspannung ist fast unerträglich. Freude, Trauer, Angst, Hoffnung und Zweifel kämpfen gleichzeitig in mir. Es ist die letzte, endgültige Entscheidung. Noch kann ich umkehren. Unser Kind abzuholen, die übergroße Spannung auf all das, was nun präzise wie ein Uhrwerk abzulaufen beginnt, ängstigen mich und alles vermischt sich im Chaos von Gefühlen und Gedanken. Dann bin ich auf dem Weg nach Peru. Ein Weg von 31 Stunden zwischen Stuttgart und Lima. Ein weiter Weg ins Ungewisse.

Die Maschine wird aufgerufen. „Frauen und Kinder zuerst“, sagt die Stewardess freundlich und schiebt mich nachdrücklich in den Gang. Ich will protestieren. Mit der Tragetasche ohne Inhalt finde ich mich zwischen Kindern und Frauen wieder. Ich halte die Tasche krampfhaft fest – oder hält sie mich fest? Sie ist jetzt mein einziger Halt und der einzige Beweis, dass es unser Kind gibt. Wirklich gibt. Es ist sozusagen mein Schwangerschaftsnachweis. Ich bin sozusagen auf dem Weg zu einer Geburt. Verstohlen blicken die Mitreisenden in die Tasche, um einen kleinen Blick auf den Inhalt zu erhaschen. Aber außer Bettzeug ist noch nichts drin.

Im Flugzeug versuche ich dann, der Stewardess meine Situation klar zu machen und sie davon zu überzeugen, dass ich erst auf dem Rückflug Mutter wäre. Ungläubig starrt sie mich an, ihr Blick bleibt auf meiner Bauchregion haften –, kein Millimeter einer Schwangerschaft ist zu entdecken. Passagiere drängeln sich an mir vorbei. Einige lauschen verstohlen und neugierig dem nicht ganz lautlosen Gespräch. Endlich ist eine Verständigungsbrücke aufgebaut. Die Stewardess überzeugt sich gewissenhaft noch einmal, dass die Tasche wirklich leer ist und verstaut sie in die Ablage über mir.

Langsam hebt die Maschine nach Frankfurt ab. Von dort fliege ich nach Paris, weiter geht es nach Madrid und dann über den Großen Teich nach Lima.

„Werde ich das alles schaffen, so weit weg von zu Hause? Werden wir gute Eltern sein? Wird unsere kleine Tochter uns auch adoptieren und annehmen können? Wird die Adoption gut verlaufen und was ist, wenn irgendetwas verhindert, dass ich mit dem Kind ausreisen kann?“

Dann bin ich auf dem Weg zu unserer kleinen Tochter. Ich versuche, mich auf den langen Weg dieser Adoption zu konzentrieren. Ich versuche mir die Worte „Mama“ und „Papa“ vorzustellen, ich möchte sie mir einprägen und sie mit Leben erfüllen.

Auf der unendlich langen Flugreise kreisen meine Gedanken wie ein Karussell in der Warteschleife. Wir haben alles Tausende Male besprochen. Aber die Sorgen lassen mich nicht los. Ich kann nicht abschalten. „War es richtig, ein Kind aus einer anderen Welt zu uns zu holen? Sind Auslandsadoptionen so unmoralisch wie man es in der Presse lesen kann? Werden wir mit der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland richtig umgehen können, wenn sie uns berührt? Werden wir überhaupt in der Lage sein, dieses Kind, unser Kind anzunehmen, zu lieben? Können wir gute Eltern sein? Was erwartet mich in Peru? Wie lange werde ich dort sein? Reichen die geplanten vierzehn Tage aus?“

Und ich stelle mir in Gedanken ganz direkte Fragen: „Wie wird sie aussehen? Hoffentlich ist sie gesund! Wie groß wird sie sein und hat sie wirklich so lange schwarze Haare, wie der Rechtsanwalt am Telefon die Kleine beschrieben hatte und hoffentlich akzeptiert sie mich auch.“ Fragen über Fragen – und noch keine Antwort. Ich versuche mich auf das Abenteuer Adoption zu konzentrieren und einzulassen.

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