Mit langem Atem zum großen Glück

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Fühler ausstrecken in anderen Ländern



Nachdem uns somit die in Deutschland zuständigen Institutionen alle als „nicht geeignet“ abgestempelt hatten, erwachte in uns ein ungeheurer Kampfesgeist.



Wir waren uns sicher: Es gibt irgendwo ein Kind für uns. Wenn nicht in Deutschland, dann in …?



Mit dem Orden von Mutter Theresa in Indien standen wir ebenfalls im Briefkontakt. In einem Schreiben wurden wir dann auch zu unserer Religionszugehörigkeit befragt. „Nein, wir sind nicht katholisch. Nein, keiner von uns beiden kann sich vorstellen, zum katholischen Glauben überzutreten.“ Und so mussten wir akzeptieren, dass wir für ein indisches Kind nicht den richtigen Glauben besaßen. Aber sind die Inder nicht Hindus oder Moslems? Während der drei Jahren Auslandsschule von 1968-1971 in Kabul/Afghanistan war ich auch mehrmals in Indien.



Zu „terre des hommes“ nahmen wir nicht nur Kontakt auf, wir nahmen auch an einem Adoptionstreffen teil. Aber hier waren die Verantwortlichen des Treffens nicht mit unserem Weltbild – ohne dies näher zu erläutern – einverstanden. Und der Organisation war es ein Dorn im Auge, dass wir weder ein behindertes noch halbwüchsiges Schulkind aus Schwarzafrika adop­­tieren wollten.



Wir erkundigten uns bei Botschaften und Auslandsschulen, auch in Südamerika. Hatte ich nicht drei Jahre lang in Südchile gearbeitet? Vielleicht konnten hier alte Fäden neu aufgegriffen werden? Aber aus Chile ließ man uns wissen, nach Deutschland dürften nun keine Kinder mehr vermittelt werden.



Wir nahmen Gespräche mit Familien in Deutschland auf, die bereits einem Kind aus der „Dritten Welt“ Liebe, Geborgenheit und einen Platz in ihrem Herzen eingeräumt hatten. Neue Informationen und Wege eröffneten sich.



Und wieder waren Monate ins Land gegangen. Sie waren angefüllt mit Briefe schreiben, sich an den unterschiedlichen Bewerbungsstellen immer wieder möglichst unaufdringlich in Erinnerung bringen, bangen, hoffen, sehnen, verzweifeln, verzagen, erschöpft und mutlos aufgeben wollen, um gleichzeitig mutig weiter zu kämpfen.



Manche Vermittlungsstellen reagierten auf den fünften oder zehnten Brief, andere meldeten sich nicht. Damals gab es noch kein Internet, keinen PC, alle Schreiben wurden auf der alten, klapprigen Schreibmaschine, die ich heute noch besitze, getippt. Damals war telefonisch so gut wie niemand erreichbar, denn Telefon gab es nur in den offiziellen Ämtern. Und so ein Brief über den Großen Teich dauerte schon mal zwei Wochen. Mit sechs Wochen Postdienst musste man dann schon rechnen, bis ein Antwortschreiben nach Deutschland flatterte.



Unsere Hoffnungen sanken unter den Gefrierpunkt. Keine Chance in naher Zukunft. Die Wartelisten schienen ungeheuer lang, Lichtjahre entfernt von unserem großen Wunsch nach einem Kind.



Wut, Bitterkeit, Resignation bemächtigten sich unser. Da gab es so viele Kinder, die ohne Eltern aufwachsen, ohne Liebe und Geborgenheit einer Familie, die auf der Straße dahinvegetierten. Kinder ohne Lebenschance und Lebensperspektive. Darüber wusste ich Bescheid, schließlich hatte ich sechs Jahre in sozialen Einrichtungen in Chile und Afghanistan gearbeitet und gelebt und unendlich viel Leid, Not und Elend der Kinder und deren Familien hautnah erlebt.



Aufgeben? Nein! Zu keinem Zeitpunkt waren wir bereit, unser Ziel fallen zu lassen. Wir waren felsenfest davon überzeugt: Irgendwo in der Welt wartet ein Kind, das zu uns gehört. Unser Kind.





Am 23. Februar 1980 - Der erste Schritt in die Zukunft



Was wir nicht mehr erhofften, geschah. Wir hatten nun alle Papiere des Jugendamtes für eine Adoption im Ausland zusammen. Die internationalen Geburtsurkunden, Heiratsurkunden, polizeiliche Führungszeugnisse, Wohnsitznachweise, Arbeitsbescheinigungen, Lohnbescheinigungen, Gesundheitszeugnisse, Leumund, Referenzen, Pässe usw.



Der Sozialbericht des Jugendamtes wurde uns zugesagt. Dieses wichtige, nein wichtigste Papier überhaupt sollte die vorläufige Pflegeerlaubnis enthalten, die ein Rechtsanwalt als Vollmacht benötigt, um eine Adoption irgendwo in der Welt einzuleiten.



In Peru sollten Auslandsadoptionen möglich sein, hatte mir eine Familie berichtet. Sie stünden auf der Warteliste, aber ihr Jugendamt sei nicht gerade begeistert, ein fremdländisches Kind nach Deutschland zu holen. So fahren wir zu dieser Familie, um so rasch als möglich die Bedingungen zu erkunden. Das Ehepaar ist inzwischen schon weit nach vorne in der Adoptionsliste aufgerückt.



Dieser Zufall sollte unser Hauptgewinn sein. Das Jugendamt vermittelte dem Ehepaar ein neugeborenes deutsches Baby. Dann liefen die Drähte heiß und das große Wunder geschah: „Der Warteplatz wird auf das Ehepaar Klink übertragen.“



Mit neuem Mut fuhren wir nach Hause. Ich setzte mich sofort an die Schreibmaschine, um den ersten Brief nach Peru zu senden.



Unsere Anfragen in Afghanistan und Südchile wurden in diesen Tagen negativ beschieden. Ich hatte zwar das untrügliche Gefühl, dass wir dort eine Chance, wenn auch nur eine winzig kleine hätten, weil ich ja in diesen Ländern je drei Jahre gearbeitet hatte. Aber das war wohl nur ein weiteres, ganz großes Missverständnis auf dem langen Weg einer Adoption.





Am 24. März 1980 - Die vorläufige Pflegeerlaubnis wird ausgestellt



Endlich war wieder ein Schritt geschafft. Unser Jugendamt ließ uns zur Adoption zu, wenn auch nicht in Deutschland, sondern irgendwo in der großen weiten Welt.



Der erste wirkliche Hoffnungsschimmer nach fast zwei Jahren eiserner Bemühungen um ein Adoptivkind.



An dem Tag hatten wir den vierseitigen Antrag auf Pflegeerlaubnis beim Jugendamt abgegeben. Ein Stoßgebet wurde mit dem Schreiben gleich schwungvoll mit in den Briefkasten eingeworfen. Wir hatten längst alle Papiere für eine Auslandsadoption beisammen und vom Landgericht beglaubigen lassen. Unendlich viel Zeit, Nerven wie Drahtseile, Telefonate mit den Ämtern in unserem Bezirk, Übersetzungskosten und natürlich Legalitätskosten. Nur die Beglaubigung von der Beglaubigung durch die zuständige Botschaft des Adoptionslandes stand noch aus. So harrten wir auf das erste Hoffnungszeichen aus irgendeinem Land. Die erste Zusage wollten wir beim Schopfe packen.



Dieser feste, unbeugsame Wille und eine wilde Entschlossenheit, dass unser Kind uns finden würde, nährten unser Durchhaltevermögen und gaben uns Kraft, viel Kraft.





Am 27. Mai 1980 - Ein Hoffnungsschimmer aus Peru



Im Briefkasten lauerte ein blauer Luftpostbrief mit peruanischen Briefmarken. Inkamotive waren darauf abgebildet. Vor lauter Aufregung und Anspannung riss ich mit zittrigen, ungeschickten Händen den Umschlag auf. Noch auf der Treppe las ich die ersten Zeilen. Sie waren mit der Schreibmaschine auf Deutsch getippt. Dann musste ich mich setzen. Meine Beine knickten wie Gummi ein. Vor Schreck wurde es mir ganz übel.



Eigentlich hätte ich ja einen Jubelschrei heraustrompeten müssen, dass die Wände wackeln, oder einen Luftsprung bis an den Himmelsrand vollführen. Aber da saß ich und starrte auf die wenigen, mit der Schreibmaschine getippten Zeilen auf dem hauchdünnen Luftpostpapier.



„… und möchte Ihnen mitteilen, dass ich in einigen Wochen ein Kind zur Adoption finden könnte. Sobald ich Ihre deutschen Unterlagen nach beiliegendem Papier in den Händen halte …“



Die Buchstaben verschwammen, ich vergaß zu atmen, saß da wie zur Salzsäule erstarrt und konnte es nicht fassen. Ich konnte es einfach nicht glauben und saß zusammengesunken auf der kalten Steintreppe. Und gleichzeitig sagte eine Stimme tief in meinem Inneren. „Glaub es nicht, es kann wiederum nur ein Strohfeuer sein. Mach dir keine Hoffnungen, du bist schon viel zu oft enttäuscht worden. Das ist eine Fata Morgana.“ Aber mein anderes „Ich“ schrie den inneren Schweinehund nieder: „Warum soll es dieses Mal nicht klappen, es ist doch eine Zusage.“ Und um ganz sicherzugehen, dass ich keiner Halluzination aufsaß und es auch kein Traum war, strich ich mit der Hand über den unwillkürlich zusammengedrückten Brief. Das leise Knistern holte mich blitzschnell in die Wirklichkeit zurück. Sorgsam strich ich das hauchdünne Papier glatt, eilte die Treppe hinauf und legte den Brief wie ein kostbares Geschenk behutsam auf den Tisch.



„Das wird heute Abend die Überraschung der Welt werden, wenn Siegfried nach Hause kommt.“ Es fiel mir unendlich schwer, nicht zum Telefonhörer zu greifen und mein Glück hinauszurufen.





Am 04. Juni 1980 - Von guten Kräften wunderbar geborgen



Wir beide fühlten uns von guten Mächten wunderbar geborgen. Und dann trudelte die Pflegeerlaubnis ein. Es war ein gutes Omen. Nichts schien mehr schief gehen zu können.



Ich ertappte mich, wie ich einen Moment plötzlich wieder an die guten Mächte und eine hilfreiche Fee glaubte, wie in Kindertagen.



Sofort kopierte ich alle Unterlagen und kostbaren Originalpapiere, verfrachtete diese in einen großen braunen Umschlag und versah ihn mit vielen Briefmarken. Den blauen Luftpostaufkleber aufkleben und nach Peru senden.



Der Postbeamte benötigte einige Minuten, um das Porto nach Südamerika zu berechnen und wollte ihn im Postsack verschwinden lassen. „Kann ich den Brief selbst einwerfen?“, bat ich den Postbeamten. Er blickte mir fragend ins Gesicht: „Natürlich.“



Ich nahm dem Umschlag behutsam, fast zärtlich in die Hand, drückte heimlich ein Küsschen darauf und mit innigen, guten Wünschen glitt er fast lautlos in das gefräßige gelbe Maul des Postkastens. Die anderen Briefe an Waisenhäuser in Indien und Korea, Südchile, Brasilien, Ecuador und Nordperu purzelten hinterher.

 





Am 16. Juni 1980 - Vollmachten für eine gemeinsame Zukunft



Seit drei Tagen lag die Vollmacht aus Lima auf dem Tisch. Wir hatten dieses unglaubliche Dokument hundert Mal gelesen. Endlich war der Notartermin. Dort mussten wir ein Schriftstück unterzeichnen, in dem wir dem Rechtsanwalt und Notar in Lima die Adoptionsvollmacht erteilten. Er konnte uns dann in allen rechtlichen Dingen auf den Ämtern in Lima vertreten und alle für eine Adoption benötigten Unterlagen und Urkunden vorlegen und einholen.



In einer Vollmacht, deren Wortlaut uns aus Lima vorgeschrieben ist, verpflichteten wir uns, ein Kind uneingeschränkt bei uns aufzunehmen sowie alle Kosten der Adoption zu übernehmen.



Siegfried als werdender Vater musste noch eine dritte Vollmacht unterzeichnen, in der er mich als seine Ehefrau ermächtigte, die Adoption in Peru persönlich durchzuführen, das Verfahren auch in seinem Namen in Lima abzuwickeln und mit dem adoptierten Kind nach Deutschland zurückzureisen.



Unser Schicksal war ein offener, geduldiger, versierter und hilfreicher Beamte, der Erste, den wir kennenlernten, der neugierig und positiv auf unser Adoptionsvorhaben reagierte. Beim Verlassen des Notariates wünschte er uns alles Glück der Welt.



Wir waren erleichtert und glücklich, wussten wir doch, dass wir die Hilfe des Notars noch öfters benötigen würden, wenn die Adoption in Peru erfolgreich abgeschlossen und ich mit unserem Kind in Deutschland zurück wäre. Dann erfolgte das zweite Adoptionsverfahren in Deutschland.



Ich fuhr mit dem Zug nach Stuttgart zur zugelassenen Übersetzungsstelle, damit anschließend das peruanische Konsulat alle Unterlagen über beglaubigen konnte.



Wir beschäftigten uns nun intensiv mit dem zukünftigen Heimatland Peru. Ich kannte Peru zwar durch Reisen von Chile aus, aber das lag über zehn Jahre zurück. Jetzt interessierten uns die sozialen und politisch aktuellen Gegebenheiten des Inkareiches weit mehr als seine grandiose Kultur.





Am 23. Juni 1980 - Kinder werden streunenden Hunden gleichgesetzt



Was wir in Zeitungsartikeln oder Zeitschriften lasen und was wir in den letzten Monaten an Informationen über die möglichen Adoptionsländer zusammen getragen hatten, machte uns sehr betroffen und auch zornig. Wir wurden darin bestärkt, dass wir mit einer Auslandsadoption den richtigen Schritt in die richtige Richtung täten.





Pressestimmen



„Verlassene und obdachlose Kinder werden wie streunende Hunde abgetan … Alle zwei Minuten stirbt ein Kind vor seinem ersten Geburtstag … Millionen von Kindern verkommen in Lateinamerika im Großstadtdschungel … Todesschwadron oder schießwütige Polizisten räumen die wie Pest herumlungernden Kinder, die wie „Schinken die Straße der Stadt verunreinigen“, auf … Die Parole: „Man muss aufräumen. Man muss sie ausrotten“, erschallt überall …



Wie streunende Hunde und Katzen werden die Kinder eingefangen, hinter Gitter gesteckt, zusammengepfercht mit Kriminellen, Zuhältern, Dealern oder Rauschgifthändlern. Diese richten dann die Kinder hinter Gittern für ihre Zwecke ab und bilden sie für die Bettelei, den Kurierdienst in der Drogenszene oder für Diebstähle und Raub an Passanten und in Geschäften aus …“



Kinderbanden betteln, ernähren sich aus den Abfalltonnen der Supermärkte, schlafen an irgendeiner Hausfront auf den Treppen. Die Jüngsten sind gerade einmal drei Jahre alt. Den Weg aus der grenzenlosen Armut findet eins von Hunderttausenden Kindern. Und die Welt schaut schweigend und uninteressiert einfach zu.





Situationsberichte wie es um diese Kinder steht



Kinder sind ohnmächtig, sie haben weder psychische, physische noch ökonomische Druckmittel, sie haben keine Gewerkschaft und keine Stimme. Es gibt viele Millionen Eltern, besonders Mütter, deren Kraft ihre Kinder zu schützen und für sie zu sorgen, durch Arbeits- und Besitzlosigkeit, Krankheit, Behinderung, Elend, Entkräftung, Hunger und Not ausgezehrt und vernichtet sind. Richtige Ernährung, sauberes Wasser, Hygiene, ärztliche Versorgung, Arbeit, ein Dach über dem Kopf und Lohn sind die Basis für Gesundheit und für ein Überleben.



Kinderkrankheiten wie Masern oder auch Durchfall werden zur tödlichen Gefahr für ein unterernährtes Kind. Alphabetisierung der Frauen, das Recht auf Schulbesuch, Familienplanung und die elementaren Bildungschancen fehlen.



Die Kindheit wird durch das wirtschaftliche Klima, durch Gewalt, Kriminalität, durch das Nichteingreifen des Staates, durch die bittere Armut und Obdachlosigkeit der Kinder genommen oder bedroht und oft haben diese Kinder keine Kindheit.



Sie wachsen in Slums auf, ohne Wasser, Strom oder die einfachsten hygienischen Voraussetzungen, ohne ärztliche Versorgung, ohne Schule.



Auf Müllhalden und von Müllhalden leben diese Menschen, trotz bestialischem Gestank. Nicht einmal die unzähligen Ratten überleben hier länger, sie ersticken an den austretenden Gasen. Straßenkinder aber wühlen nach Brauchbarem im Unrat. Hier vegetieren Menschen, Kinder ohne Hoffnung und Lebensperspektive. Dieses Wühlen im Müll ist lebensbedrohlich: Bronchitis, Hautausschläge, Darmerkrankungen sind die Folge. Medikamente sind unerschwinglicher Luxus. Um die täglichen Verletzungen, auf den Müllhalden entstanden, wickelt man einen schmutzigen Lappen, denn Wasser gibt es meist nicht oder nur stundenweise und es ist teuer. Ohne Geld ist auch das ein unbezahlbarer Luxusartikel.





Und zwei Jahre später



Was wir zwei Jahre später in einer anmutenden Anti-Adoptionskampagne in allen Zeitungen lasen, war unglaublich:



„Kinderhandel mit der Dritten Welt: Adoption auf Bestellung“ „Kinder in Lima für 12.000 Mark verkauft“ „Werden wohlhabende Leute kriminell, um ein Kind zu bekommen? Wissen die denn, was sie tun?“ Eine andere Zeitung schrieb: „Das ,kleine Schwarze‘ ist groß in Mode. Tausende kinderlose Ehepaare in Deutschland, Holland und Schweden kaufen sich Kinder in Asien oder Lateinamerika. Holländische Agenturen machen das große Geschäft mit organisierten Baby-Touren auf der Tropeninsel in Sri Lanka …“



Meine Sammlung dazu wuchs erschreckend und fühlte sich für uns auch wie eine persönliche Bedrohung an.



Zahlreiche Adoptiveltern reagierten in Leserbriefen darauf. Auch wir. Die Stuttgarter Nachrichten berichteten über das „Kinderkriegen als bürokratischer Akt“ und veröffentlichten meinen Leserbrief „Kinder aus der Dritten Welt“ am 11. Mai 1982.



Später würde in einem Bericht des Jugendamtes Esslingen zu lesen sein: … „Im Jahr 1983 wurden sechs Auslandsadoptionen und zwei Kinder an Pflegeeltern vermittelt. Diesen neun Adoptionen stehen 82 gemeldete adoptionswilligen Ehepaare gegenüber.“



Und wie reagierten unsere Freunde und Familien? Mit diesem Vorhaben wurden wir als leicht „verrückt“ abgestempelt. „Ausländer bei uns? Was wird später aus diesen Kindern? So Ausländer-freundlich ist Deutschland nun auch wieder nicht! Tolerant sind wir mit dem Mund, aber weniger mit unserem Herzen.“ Aber auch: „Wir begleiten und unterstützen euch auf diesem langen, schwierigen Weg und wünschen euch viel Glück, Kraft, Mut und Durchhaltevermögen. Ihr schafft das schon.“





Am 26. Juni 1980 - Im Land der Inkas



An diesem Tag begann die Geschichte eines winzigen Lebens, viele Tausend Kilometer von uns entfernt, in Südamerika, in Peru, im Land der Inka. Was an diesem und den folgenden Tagen und Wochen geschah, erfuhren wir später durch unseren Rechtsanwalt in Lima und die mich begleitende und betreuende Dolmetscherin.





Lima/Peru - am 26. Juni 1980



Eine Indiofrau, Maxima Rosario, ihr Alter wurde im Armenhospital mit 22 Jahren angegeben, sie kannte ihr genaues Geburtsdatum nicht. Hochschwanger machte sie sich in ihrer traditionellen, bunt gewebten Indiotracht, ihrem weit schwingenden Rock, ein bunt gewebtes Tuch über die Schulter gewunden, schweren und langsamen Schrittes, vorgebeugt unter der Last des Kindes, das auf die Welt drängte, auf den Weg ins Armenhospital in Lima. Dort würde sie einem Kind das Leben geben, für das sie nichts hatte. Nichts als die nackte Armut in einer winzigen, windschiefen Bretterhütte mit einer Tür. Ohne Fenster und mit einem Wellblechdach, auf das der Winterregen in Lima trommelt. Der graue Lima-Nebel lag bleischwer über der Stadt. Das Thermometer zeigte acht Grad an. Limawinter. Sie verdiente als Wäscherin ein paar Centavos und mit viel Glück auch ein paar Soles. Diese reichten für die sechs hungrigen Mäuler nicht aus. Ihr Mann hatte sich irgendwann einmal aus dem Staub gemacht.



Eigentlich lebte sie mehrere Tagesreisen von Lima entfernt, im Hochland der Anden auf etwa 3.000 m Höhe. Heute arbeitet Maxima Rosario an der Küste in Perus Hauptstadt Lima, begrenzt durch die Anden, dem mächtigsten Faltengebirge der Welt, mit seiner Gebirgslänge von 7.300 km, das den ganzen Kontinent durchzieht und begleitet.



Ihre Familie hingegen lebt im Hochland, dem Altiplano mit seinen schroffen Höhenzügen und Gletschervulkanen. Diese Hochtäler liegen 2.300 bis 3.800 m hoch. Hier leben die meisten Indiobauern, die Quechua und bauen Mais, Weizen, Gerste und Kartoffeln an. Maxima Rosarios Familie gehört zum Stamme der Quechua.



Das kleine Indiodorf auf dem Altiplano, dem kargen Hochland der Anden, ernährt die Familie mehr recht als schlecht. Sie leben von den wenigen Alpakas, dem Lasttier der Anden und den Schafen, die sie züchten und die sie auf dem Indiomarkt verkaufen. In dieser Höhe ist das Land karg, die Luft dünn und das Leben schwer.



Ihre Nachbarn besitzen noch zottige, braune Lamas und Guanakos als Lastentiere und Lieferanten für Fleisch und Wolle. Manche besitzen Schweine und in tieferen Lagen Rinder, die die spanischen Eroberer mitbrachten. Fast alle Indios halten sich als Haustiere Meerschweinchen, die gegessen werden.



Hoch über ihnen in der Luft gleitet der Kondor, der Herr des Hochgebirges, der schwerste fliegende Vogel mit einem Körpergewicht von bis zu zwölf Kilo und einer Flügelspannweite von bis zu drei Metern, ruhig und majestätisch über die Geröllfelder, Gletscher und das braune Land des Altiplano dahin. Der braune Boden ist karg und die kleinen Lehmhäuser mit den mit Schilf gedeckten Dächern ducken sich hinter braune Lehmmauern. Die Großmutter sitzt mit ihrem Wetter gegerbten braunen Gesicht und unzähligen tief eingegrabenen feinen Falten alterslos erscheinend, mit hervorgetretenen Backenknochen in der wärmenden Nachmittagssonne. Die Spindel zum Wollespinnen in den ruhelosen braunen Händen.



Viele Indios tragen Trachten, die von Region zu Region sehr unterschiedlich sind. Die Stoffe werden mit traditionellen Farben und Indiomustern aus Schaf- oder Alpakawolle selbst gewebt. Die Motive sind der Natur entnommen: Vögel, Pflanzen, der Kondor, das Lama, die doppelköpfige Schlange, die Sonne. Über die weit schwingenden Röcke wird eine farbenfrohe Bluse getragen. Ein Hut krönt das Ganze. Die Männer tragen über den Hemden quadratische Ponchos, einen Hut oder eine gestrickte Mütze.



Jeder in der Familie hat seine festgelegte Aufgabe: Holz organisieren, die Tiere versorgen, den Boden mühsam bestellen, Süßkartoffeln und Mais ernten, aus der gesponnen Schafs- und Alpakawolle leuchtende Teppiche und Tücher zu Umhängen weben, um diese zu verkaufen. Hier ist Maxima Rosario zu Hause. Sie hat wie alle Indios eine enge Bindung zur Familie und zur Mutter Erde.



Als Maxima Rosario noch klein war, wurde sie von ihrer Mutter auf dem Rücken getragen, eingehüllt in ein bunt gewebtes Stofftuch. Sie war in den Tagesablauf eingebunden, spürte die Sonne, den Regen, die Kälte und erfuhr jede Bewegung der Mutter hautnah. Sobald sie laufen konnte, trippelte sie neben der Mutter her, begleitete sie beim Kochen am Lehmherd und leistete ihr Gesellschaft bei der Feldarbeit, beim Weben, Wolle spinnen oder Schafe hüten. Mit drei Jahren durfte sie schon selbst auf die Tiere aufpassen, sie half im Haushalt mit und Maxima Rosario erlebte Arbeit in der Familiengemeinschaft.



Eine Spielwelt kannte sie nicht, sie war damit beschäftigt, Menschen, Tiere und die Natur mit allen Sinnen wahrzunehmen und zu entdecken. Sie lernte, wie Erde riecht, wie man sät oder erntet, wie man miteinander spricht und isst.



Als sie in die Schule kam, war der Schulweg lang und weit. Vor und nach dem Unterricht erledigte Maxima Rosario die ihr aufgetragenen häuslichen Pflichten. Sie kümmerte sich um die kleineren Geschwister, trug sie in ihrem bunten Tragetuch, half der Mutter Dinge herzustellen, die auf dem Sonntagsmarkt verkauft werden konnten, bewässerte den Garten, lernte Stoffe zu weben, um daraus Bekleidung zu nähen oder Töpfe aus Ton herzustellen. Sie wurde größer, entdeckte ihre Umwelt, half der Mutter auf dem Markt ihre Waren zu verkaufen und lernte, wie man mit Geld umgeht und eine geübte Verkäuferin wird. Sie erfuhr etwas über Arbeit und Feilschen, über Streit, über die Überheblichkeit der Städter sowie die Solidarität ihrer Großfamilie und der Dorfgemeinschaft.

 



Wurde Maxima Rosario zu Hause bei der Ernte gebraucht, fiel die Schule aus. Sie lernte, das kleine Lehmhaus in Ordnung zu halten und zu reparieren. Das Haus hatte ihr Vater mit Nachbarn erbaut. Zuerst hatten sie in dem Lehmboden ein Loch gegraben. Lehm, Wasser und klein gehäckseltem Stroh wurden mit den nackten Füßen gestampft, ehe aus dieser Masse dann Ziegel geformt wurden, die in der Sonne trockneten. Daraus wurde dann das Haus gebaut.



Sie lernte auf einem Tier zu reiten, Wasser zu holen und an der Wasserstelle die Wäsche zu waschen, die auf der Wiese oder an Sträuchern zum Trocknen ausgelegt wird. Brennholz sammeln, Maissuppe kochen oder die dünnen Maisfladen zu backen, gehören zur Hausarbeit. Die kleine Kochstelle liegt genau neben der Tür, so kann der Rauch bequem abziehen.



Auch der kleine Lehmstall neben der Hütte muss sauber gemacht werden. Am Abend versammelt sich die ganze Familie vor dem Haus. Alle essen dasselbe und wenn es dunkel wird, schlüpfte Maxima Rosario zu ihren Geschwistern auf eine Matte oder ein Tierfell, das auf der Erde lag, und kuschelte sich unter eine gewebte Wolldecke.



Ihre Familie gehörte noch zur Urbevölkerung des Andenstaates mit seiner kolonialen Vergangenheit, aber auch seinem brutalen Terror, der alltäglichen Gewalt und der Korruption in Peru, der grenzenlosen Armut und einem von Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Land.



Doch mit sieben Jahren änderte sich ihr Leben dramatisch. Sie wurde als „Chica“ zu einer Señora und einem Patron in die Millionenstadt Lima geschickt. Sie sah zum ersten Mal das schäumende Meer und rund um sich herum nichts als gelbbraune Wüste. Maxima Rosario wusste, dass viele Mädchen in diesem Alter eingetauscht oder verkauft werden, um bei reichen Leuten bei einer Señora zu waschen, zu putzen, zu kochen und auf die Kinder aufzupassen.



In den kommenden Jahren würde sie mehrmals ihre Arbeitsstelle wechseln.



Sie musste auch auf die Kinder des Patrons aufpassen. Von Sonnenaufgang bis oft kurz vor Mitternacht. Ein eigens Zimmer hatte sie nicht, sie schlief auf der Erde in einer Ecke der Wäschekammer.



Maxima Rosario fügte sich in ihr Schicksal, sie kannte es nicht anders. Wenn der Patron sie nicht benötigte, vermittelte er die Kleine an Bekannte weiter. Der geringe Lohn reichte nie. Sie wurde oft beschimpft und lebte von den Essensresten der Familie oder dem, was man ihr übrig ließ. Nur ihre Arbeitskraft war gefragt und die möglichst kostenlos. Eine Schwangerschaft würde sie den Arbeitsplatz kosten. Das konnte sich Maxima nicht leisten.



Heimlich hatte sie bereits einigen Kindern das Leben geschenkt. Sie lebte in einer der unzähligen Callampas, die sich wie ein Kranz um die Millionenstadt Lima schmiegen. Etwa fünf Millionen Menschen leben auf diesen Müllhalden, um Abfall aus dem Wohlstandsmüll zu sammeln, Büchsen, Papier, Flaschen, Metall, Bekleidung und Essensreste, um zu überleben. Ohne Strom, ohne fließendes Wasser, ohne Kanalisation, in einer Hütte aus Holz und Blechteilen zusammengezimmert mit Karton, Plastikfetzen, Strohmatten gegen den staubigen Wind abgedichtet. Gegen den Regen schützen Wellblechreste notdürftig ab.



Das, was sie als Wäscherin oder Hausmädchen verdiente, reichte nicht. Ihre Señora ahnte auch nicht, dass sie hochschwanger war. Ihre weiten Indioröcke verbargen ihren Zustand geschickt.



An diesem 26. Juni 1980 bat sie die Pachamama, die Mutter Erde, dass sie ihr Kind erst in der Nacht schicken möge, denn dann könnte sie am anderen Morgen wieder zur Arbeit gehen ohne dass irgendjemand von der Geburt ihres Kindes erfuhr, denn dies hätte unweigerlich eine Kündigung zur Folge gehabt. Und womit sollte sie dieses weitere Kind ernähren und am Leben erhalten?



Hier in der Callampa war das menschliche Leid, die Not, die Verzweiflung und Aussichtslosigkeit oft nicht mehr zu ertragen. Maxima Rosario lebte von der Hand in den Mund, von einem Moment zu anderen, von einem Tag zum nächst