Versehrte Seelen

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Bonn, Hollsteinkolleg

10. Kapitel

Obwohl es so heiß war und die Luft staubig und stickig, stand sie schon wieder in diesem ungeordneten Archiv. Einerseits ließ Henrike diese Geschichte keine Ruhe. Andererseits hatte der Student nochmals angerufen und sie dringlich gebeten, sich für ihn einzusetzen. Er sei mit seiner Arbeit bereits im Rückstand und die Ferien stünden doch an. Weitere sechs Wochen könne er keinesfalls warten. Ob Henrike nicht den Direktor überreden könne, dass er, Behrends, Zugang zum Dachboden erhielt, um eigenständig zu recherchieren. Während der Ferien würde er doch niemanden stören.

»Nein, nein, ein Unbefugter erhält auf keinen Fall Zugang zu unserem Dachboden. Doktorarbeit hin oder her.« Herr Novak hatte -– erwartungsgemäß – äußerst zurückhaltend reagiert, als sie das Thema ansprach und war sichtlich nervös geworden. »Lassen Sie doch die Vergangenheit ruhen«, hatte er bedächtig gesagt und sie eindringlich angesehen. »Das bringt nur unnötigen Aufruhr. Sie wissen doch auch, dass wir als Privatschule mehr denn je auf die Gelder der Eltern angewiesen sind. Die Bevölkerung ist hochsensibilisiert und man sieht ja, wohin das führt, wenn man allzu tief in der Vergangenheit gräbt. Da braucht noch nicht mal was an der Sache dran zu sein, schon ist man stigmatisiert. Ständig hört man von Misshandlung und Missbrauch. Man bekommt ja fast den Eindruck, jedes Kind sei irgendwann mal missbraucht worden. Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Leipold. Ich nehme Ihr Anliegen ernst. Und wenn an diesen Behauptungen wirklich was dran sein sollte, bin ich der Letzte, der das negiert. Aber sobald da einer anfängt zu wühlen, schadet das unserem Ruf. Auch wenn sich herausstellt, dass da nichts dran ist, wovon ich im Übrigen überzeugt bin. Das geht heutzutage sehr schnell. Und dann? Sie wollen doch auch nicht Ihren Job verlieren.«

Nein, das wollte sie ganz sicher nicht. Und hatte er nicht Recht? Hier war Besonnenheit gefragt. Ständig gerieten Schulen in Verruf, weil es dort angeblich Missbräuche gegeben hatte. Heftige Diskussionen waren entbrannt, Internate und Heime standen allenthalben unter Rechtfertigungsdruck.

Aber konnte man mit solchen Argumenten wirklich legitimieren, dass Unrecht unter den Teppich gekehrt wurde? Auch, wenn es schon lange zurück lag?

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag zur Güte: Nach den Ferien setzen wir uns in aller Ruhe zusammen und klären das Ganze intern. Dann hat jeder genügend Zeit, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen und die Sache eingehend zu prüfen.«

Dieser Vorschlag klang plausibel.

Dennoch wurde sie den Eindruck nicht los, auf eine Zeitbombe gestoßen zu sein. Auch war ihr bewusst, dass sie bisher nur die Spitze des Eisbergs gesichtet hatte. Offensichtlich hatte sich bisher niemand getraut, sich mit den Unterlagen dort oben auf dem Dachboden zu beschäftigen, sie zu ordnen und seine Schlüsse daraus zu ziehen.

Wenigstens hatte sie sich einen groben Überblick verschafft. Die Akten waren zumindest zeitlich einigermaßen in einer Reihenfolge. Doch gezielt finden konnte man kaum etwas. Von einer alphabetischen Ordnung ganz zu schweigen. Immerhin bedeutete jede einzelne Akte ein Menschenleben, ein Schicksal, über das in den Räumlichkeiten dieser Schule entschieden worden war.

Nach der langen Zeit waren von den hier archivierten Kindern sicher viele längst verstorben, wenn sie nicht damals schon dem Tod anheimgegeben worden waren.

Auf einem der oberen Regalböden in einem verwinkelten Erker hatte sie zwei größere verschnürte Kartons entdeckt, an die sie ohne Leiter nicht heranreichte. Wieder einmal verfluchte sie ihre geringe Körpergröße, die sie oftmals auch vor Supermarktregalen verzweifeln ließ. Hier oben war weder eine Leiter noch ein Schemel, der hoch genug war, noch sonstwas, das ihr eine Hilfe sein könnte. Ob sie vielleicht doch jemanden um Hilfe bitten sollte? Sie versuchte, zu entziffern, was auf der Seite des einen Kartons geschrieben stand. Es war ein einzelnes Wort. Ein verwischter Schriftzug. Die Anfangsbuchstaben konnte sie deutlich erkennen. »De«. Das ganze Wort endete auf »tanol«. Sie konnte sich absolut keinen Reim darauf machen.

Bonn-Castell

11. Kapitel

»Monika Blankenhain. Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse«, stand auf einem Schild, das an der gelb getünchten Hauswand angebracht war. Helena klingelte. Musste warten. Klingelte. Klingelte nochmal.

Erst nach einer geraumen Weile wurde die Tür geöffnet. Eine Frau Mitte Ende Dreißig – vielleicht genauso alt wie sie selbst –sah sie mit unverhohlen verärgertem Blick aus kajalumrandeten Augen an. Dunkles, naturkrauses Haar umwallte ihren Kopf. »Sie wünschen? Ich bin mitten in einem Patientengespräch.«

Helena zückte ihren Dienstausweis. »Rosenberg«, stellte sie sich vor. »Frau Blankenhain?«

Die andere nickte. Nun drückte ihre Miene Verwunderung aus.

»Ich müsste Sie sprechen.«

»Jetzt?« Monika Blankenhain musterte prüfend den Ausweis und runzelte die Stirn.

»Jetzt.«

Helenas Gegenüber sah auf die Uhr. Dann geleitete sie die Polizistin ins Innere des Hauses. »Moment bitte. Warten Sie kurz hier. Ich bin gleich bei Ihnen.« Sie wies auf eine Sitzecke, ausgestattet mit drei modernen kleinen Sesseln und einem runden Glastischchen, auf dem ein paar Illustrierte lagen, und verschwand hinter einer weißen Tür. Nach etwa fünf Minuten kam sie zurück.

»Ich hab meinen Patienten weggeschickt. So was mach ich eigentlich nicht gern.«

Sie führte Helena in ihre Praxis, die angenehm luftig und licht war. An der Wand hingen zwei abstrakte Gemälde – undefinierbare Striche und Kleckse – offenbar Originale. Eine Couch gab es nicht, wie Helena erstaunt feststellte. Bei den Psychiatern und Psychologen, mit denen sie bisher zu tun hatte, stand immer eine Couch im Behandlungszimmer.

Monika Blankenhain deutete mit einer fahrigen Bewegung auf einen modernen Stahlrohrsessel. Sie selbst setzte sich Helena gegenüber auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch.

»Was gibt es denn so Dringendes?« Ihr Blick war wach und auf eine professionelle Art neugierig.

»Sie sind die Tochter von Heribert Blankenhain?«

Die Frau nickte. Sah sie weiterhin erwartungsvoll an. Erst jetzt bemerkte Helena, dass in der dunklen Lockenfülle einige silberne Fäden glitzerten.

»Es tut mir leid. Aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater verstorben ist«, sagte Helena so sanft wie ihr möglich war.

Nach einer kurzen Schrecksekunde reagierte die Tochter relativ geistesgegenwärtig. »Und wieso kommt da die Kripo?«

»Ihr Vater ist ermordet worden.«

»Was?« Monika riss entsetzt die Augen auf. Griff sich in die Locken. Krallte sich darin fest. »Aber wieso … was ist denn …?« Sie schluckte. Tränen traten in ihre Augen. Die zur Schau getragene Professionalität schien dahin.

»Er wurde höchstwahrscheinlich erschlagen. Können Sie sich vorstellen, wer das getan hat?«

»Erschlagen?« Monika schüttelte den Kopf. Die Locken schwangen mit. »Womit wurde er denn …?«

Vor Helenas Augen flackerten blitzlichtartige Bilder vom Tatort auf. Deutlich sah sie den geschliffenen Kristallaschenbecher mit den Haar- und Blutanhaftungen auf dem Boden neben dem Toten.

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen.«

»Wieso nicht?«

Helena senkte den Blick. »Wir müssen das Obduktionsergebnis abwarten.« Sie hatte verinnerlicht, dass man Täterwissen erst einmal verschwieg. Auch Angehörigen gegenüber. Gerade Angehörigen gegenüber.

Monika Blankenhain starrte vor sich hin. Krampfte die Hände ineinander. Rang sichtlich nach Worten.

»Mein … Vater war kein einfacher Mensch«, sagte sie nach einer Weile und sah auf ihren Schoß.

»Das klingt fast, als hätten Sie mit einem gewaltsamen Tod gerechnet?«

Helenas Gegenüber schüttelte heftig den Kopf. Die dunklen Locken zitterten. »Nein. Natürlich nicht. So ein Ende wünscht man niemandem. Schon gar nicht dem eigenen Vater.«

Helena blickte die Frau unverwandt an, registrierte jede ihrer Bewegungen, jeden wechselnden Gesichtsausdruck. Sie wollte ihre Frage ungern wiederholen. Schließlich tat sie es doch: »Hatte Ihr Vater Feinde?«

Monika Blankenhain sah auf, fixierte Helena mit ihren großen kajalumrandeten Augen. Sie sollte sich nicht so sehr schminken, dachte Helena. Das verdeckt zu viel von ihrer Persönlichkeit. Aber vielleicht war gerade dies gewollt.

»Sicher gab es einige, die ihm die Pest an den Hals wünschten. Mein Vater konnte ziemlich austeilen. So mancher fühlte sich von ihm auf den Schlips getreten.« Sie hielt einen Moment inne. »Aber ermorden? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer ihm das angetan haben könnte.« Sie senkte den Blick.

»Möchten Sie über ihn sprechen?« Helena dachte, was für eine merkwürdige Situation das doch war. Jetzt war sie so etwas wie eine Psychologin und die Psychologin war ihre Patientin.

Monika nickte, ohne aufzusehen. »Sicher wollen Sie einiges wissen. Der Täter soll ja bald gefasst werden und wenn ich da behilflich sein kann … Ich hol uns aber erst mal was zu trinken. Mein Mund ist ganz trocken.«

Sie ging in den Nebenraum und kam kurz darauf mit einer Wasserflasche und zwei Gläsern zurück, die sie auf langsame und bedächtige Weise füllte. Das ihre hob sie an den Mund und trank in großen Schlucken. Das andere schob sie ihrem Gast hin.

Helena sah sie eine Weile unschlüssig an. »War er ein guter Vater?«, fragte sie. In ihre Gedanken drängte sich die allerletzte Begegnung mit ihrem eigenen Vater. Sie war zwölf, als sie ihn zufällig auf der Straße traf. Neben ihm eine fremde Frau. Ihr Vater sah gut aus, besser als sie ihn in Erinnerung hatte. Davor hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen, als sie acht war. Danach war er aus ihrem Leben verschwunden. Sie wollte ihm freudig entgegenlaufen, doch er sah einfach durch sie hindurch. Das »Hallo Papa« blieb ihr im Hals stecken. Völlig unbeteiligt ging er an ihr vorüber. Er hatte sie nicht erkannt! Er hatte seine eigene Tochter nicht erkannt. Oder er wollte sie nicht erkennen. Wie gelähmt war sie stehengeblieben, wurde unwirsch von vorübereilenden Menschen angerempelt.

 

Sie hatte niemandem von dieser Begegnung erzählt. Niemandem, nicht einmal Chris und schon gar nicht ihrer Mutter.

Helena konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Monika Blankenhain hatte sich mit ihrer Antwort Zeit gelassen.

»Was heißt das schon, ein guter Vater?«, antwortete sie jetzt. »Finanziell ging es uns nicht schlecht. Aber das meinen Sie sicher nicht. Mein Vater war so gut wie nie daheim. Das war schon in seiner vorigen Ehe so. Alle haben darunter gelitten. Und wenn er dann mal anwesend war, hatten alle zu kuschen und nach seiner Pfeife zu tanzen.«

Helena rekapitulierte ihr bisheriges Wissen über Heribert Blankenhain. »Sie haben noch zwei ältere Halbbrüder?«

Ihr Gegenüber nickte. »Die Ehe mit meiner Mutter war seine dritte. Die ging aber genauso schief wie die beiden anderen. Mein Vater war gebildet und konnte sehr humorvoll sein, er galt allgemein als Frauenversteher. Nur seine eigenen Frauen verstand er nicht.« Sie verdrehte die Augen und lachte kurz und freudlos auf. »Er hat sich in seiner ganz persönlichen Denkweise eingerichtet. Seine Angehörigen waren für ihn eher sowas wie schmückendes Beiwerk: Eine dienende, möglichst unsichtbare Frau, die im Hintergrund blieb und den funktionierenden Tagesablauf gewährte und folgsame Kinder, die nicht aufmucken durften. Meine Halbbrüder waren öfter bei uns. Wir Geschwister verstehen uns untereinander ganz gut, aber wir sehen uns nicht so oft, weil die beiden ziemlich weit weg leben.« Sie strich sich mit einer hilflosen Geste über die Augen. »Familie war für meinen Vater nicht lebensnotwendig, obwohl er sich selbst gern als Familienmensch bezeichnete. Wahrscheinlich glaubte er das tatsächlich von sich. Aber dazu war er einfach zu kompliziert. Und auch zu kompromisslos. Das hat keine Frau lange ausgehalten. Am Schluss lebte er allein. Trotz seiner vielen Affären.«

»Seine erste Frau ist relativ jung gestorben«, sagte Helena, die sich an Wielands Bemerkung erinnerte. »Wissen Sie, woran?«

Monika Blankenhain sah hoch. »Sie hat sich umgebracht.«

Helena war überrascht. »Davon stand nichts in den Medien.«

»Klar. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Es wurde vertuscht. So ein Selbstmord passte nicht zu seiner Reputation. Da passte der Tod nach kurzer schwerer Krankheit besser, wie es in der Todesanzeige stand.«

»Das klingt bitter.«

Wieder lachte Monika kurz auf. »Es ist realistisch. So ist er mit mancher unangenehmen Wahrheit umgegangen. Die Dinge schönreden. Ich hab eine Weile gebraucht, bis ich das alles durchschaute. Und vom Selbstmord seiner ersten Frau hab ich relativ spät erfahren. Sie litt wohl unter einer schweren Depression, an der er offensichtlich nicht ganz unschuldig war. Er selbst hat es mir erst vor Kurzem gesagt. Früher gab er sich ja stets als der größte Moralist. Aber wenn man hinter die Dinge blickt … Doch wehe, wir Kinder sagten einmal die Unwahrheit. Das wurde aufs härteste geahndet. Ich hatte regelrecht Angst vor ihm, als ich klein war. Erst in der letzten Zeit hat sich unser Verhältnis gebessert.« Sie grub die Zähne in die Unterlippe. Atmete laut durch die Nase. »Er will … wollte seine Memoiren schreiben. Ich sollte ihm dabei helfen. Da kam so manches zur Sprache.«

»Memoiren.« Helena horchte auf. »Könnte ich das Manuskript sehen?«

Monika stutzte und bedachte sie mit einem intensiven Blick. »Er hat Tag und Nacht daran gearbeitet. Das war ihm ganz wichtig. Ich hatte ihm letzte Woche die ersten Ausdrucke vorbeigebracht. In einem blauen Schnellhefter. Der muss auf seinem Schreibtisch gelegen haben.«

Helena war irritiert. »Auf dem Schreibtisch lag nichts. Da war alles sehr aufgeräumt. Ganz sicher lag da kein Manuskript.«

Ob die Spusis den Hefter eingesackt hatten? Sie musste unbedingt Marco Baumgart danach fragen.

»Merkwürdig.« Monika zog die Augenbrauen zusammen und hob die Schultern.

»In einer Vitrine standen Tagebücher. Etliche Bände. Die haben wir mitgenommen.«

»Tagebücher. Ja klar. Er hat akribisch Tagebuch geführt.« Monika Blankenhain nickte nachdenklich. Dann stand sie auf und ging hinter den Schreibtisch zu ihrem Computer. Klickte ein paar Mal, wartete einen Moment, dann übergab sie Helena einen USB-Stick. »Versprechen Sie sich nicht zu viel davon. Es ist eine äußerst geschönte Version seines Lebens. Mit etlichen Lücken. Das Manuskript ist auch noch nicht fertig. Da ist noch einiges zu überarbeiten. Aber es gibt einen ersten Einblick über sein Leben. Zumindest wie er es sah. Allerdings, je länger ich mich damit beschäftige, umso mehr fällt mir auf, was für ein positives Selbstbild er hatte. Wenn man seine Memoiren liest, meint man, er war ein vorbildlicher Ritter ohne Furcht und Tadel.«

»Und das war er nicht?«

»Alles, was nicht in sein Weltbild passt, hat er ausgelassen. Dazu gehört auch viel Privates. Das Berufliche kann ich nicht beurteilen, aber ich denke, da wird es sich nicht anders verhalten. Ich hab ihn mehrmals darauf angesprochen. Aber er beharrte darauf, die Politik sei sein Leben gewesen. Das Private müsse privat bleiben. Das ginge die Welt nichts an.«

Helena blickte in Monika Blankenhains Gesicht, das ihr jetzt trotz der Schminke durchsichtig erschien und in dem sie so viel Widersprüchliches gespiegelt sah. Kummer, Schmerz, Trauer, Ärger, und auch das: verlorene Liebe.

»Gibt es ein schönes Erlebnis, das Sie mit Ihrem Vater in Verbindung bringen?«, fragte sie, einer plötzlichen Intuition folgend.

Monika Blankenhain sah überrascht auf. Sie blinzelte ein paar Mal, schien zu überlegen, dann erschien ein kleines, unsicheres Lächeln auf ihrem Gesicht. »Doch. Das gibt es schon. Er war ja kein Unmensch. Nicht, dass Sie das jetzt denken. Einmal, da waren wir in den Bergen wandern. Ich war noch klein, vielleicht sechs oder sieben, und wurde sehr müde. Erst hat er mich angepflaumt, ich solle mich nicht so hängen lassen, da hab ich geweint. Als er merkte, dass ich wirklich nicht mehr konnte, hat er mich auf den Rücken genommen und huckepack getragen. Den ganzen Weg. Ich hatte die Arme um seinen Hals gelegt. Den Kopf an seinem Kopf. Das war schön, ihn so nah zu spüren.« Ihre Augen wurden feucht. Sie schluckte. Zog geräuschvoll Luft durch die Nase. »Und wir haben manchmal Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt. Da hat er mich immer gewinnen lassen. Jedenfalls so lange, bis ich ihn durchschaute. Danach sah er mich als adäquate Spielpartnerin. Und da hab ich fast nur verloren.« Eine Träne kullerte ihre Wange hinunter. »Es war das einzige Spiel, das wir miteinander gespielt haben.«

Helena biss sich auf die Lippen. Wieder schob sich eine Episode von früher in ihre Gedanken. Ihr Vater, als er noch ihr Vater war, wie er den Würfel in seiner Hand drehte, wie er spielerisch draufspuckte und dabei Itschi, die Glücksgöttin anrief, ihm doch bitte, bitte eine Sechs zu bescheren. Und wenn er tatsächlich die Sechs gewürfelt hatte, dann gab er dem Würfel einen kleinen unauffälligen Schubs.

Sie stand auf. »Ich danke Ihnen.« Sie nahm den Stick und hielt ihn hoch. »Das hier ist sicher sehr hilfreich.«

»Wenn Sie es durchhaben, dürfen Sie mich gern nochmal kontaktieren. Und …« Sie brach ab.

»Ja?«

»Die Tagebücher. Was geschieht mit denen?«

»Wenn wir sie nicht mehr brauchen, gehen sie an die rechtmäßigen Besitzer zurück. Und das dürften in dem Fall Sie sein.«

Psychologen, dachte sie im Hinausgehen. Sie sollen erklären, wie der Mensch funktioniert, was ihn innerlich antreibt. Nicht selten ergriffen sie diesen Beruf, weil sie ihr eigenes Inneres verstehen wollten. Das nachvollziehen können, was sie selbst antreibt. Den eigenen seelischen Deformationen auf die Spur kommen. Helena hatte etliche dieser Spezies kennengelernt, um dies beurteilen zu können. Diesseits und jenseits des Schreibtisches. Im gleichen Moment dachte sie: Und warum wird man wohl Polizist? Folgte nicht jeder irgendeinem Trieb, der ihn vorwärts brachte und ihn die Dinge tun ließ, die er selbst für notwendig hielt. Genau das hatte auch Heribert Blankenhain getan.

Ich hab sie gar nicht nach ihrem Alibi gefragt, fiel Helena ein, als sie die Tür hinter sich zuzog. Aber das ließ sich nachholen.

Brandenburg, Havelland

12. Kapitel

Ilona Altendorf ließ zum wiederholten Male ihre Blicke über die Bilder an der Wand schweifen. Typische Wartezimmerbilder, Kunstdrucke von Impressionisten. An der Mutter mit Baby im Arm, deren liebevoller Blick auf dem Gesicht des Kindes ruhte, sah sie schnell vorbei. Das Bild daneben kannte sie nur zu gut. Frühstück im Freien. Einander zugewandte Gesichter, Lichtreflexe auf der Haut und in den Bäumen. Doch dieser sehr billige Kunstdruck ärgerte sie. Sie hatte das Original im Musé d’Orsay gesehen und lange davor gestanden. Kein Vergleich mit diesen aufdringlichen Farben hier.

Es nützte nichts. Die Ablenkung funktionierte nicht. Sie sah das Gesicht von Dr. Gundolf, wie seine Hände ihren faltigen Bauch abtasteten, während er den penisförmigen Ultraschallkopf in ihrer Scheide bewegte. Sein undurchdringlicher Blick, der nichts Gutes verhieß, war auf den Bildschirm gerichtet, auf dieses Helldunkel-Geglucker, ihre innere Landschaft, die ihr so rätselhaft vorkam und die Gebärmutter hieß. Er schien eine bestimmte Stelle zu fixieren, doch er sagte nichts. Und sie hatte nicht gewagt, zu fragen, ob da etwas sei. »Wir machen vorsichtshalber einen Abstrich«, hatte er schließlich geäußert. »Sie können auf das Ergebnis warten.«

Im ersten Moment war sie erschrocken gewesen, doch sogleich hatte sie sich wieder beruhigt. Da ist nichts. Da kann gar nichts sein. Wie oft schon hatte sie das durch. Und jedes Mal hatte es sich als falscher Alarm herausgestellt. So war es sicher auch dieses Mal mit ihrer nutzlos gewordenen Gebärmutter.

Sie sah auf die Uhr. Meine Güte, wie lange wartete sie hier nun schon? Einige Patientinnen waren gekommen und gegangen, nur sie rief keiner auf. Aber sie war ja selbst schuld. Sie hatte sich nicht danach erkundigt, wie lang es dauere. Ob sie mal nachfragen sollte? Sie stand auf, ging über den Flur, klopfte an die Tür des Sekretariats und stellte ihre Frage.

Die junge Frau hinter dem Tresen fühlte sich augenscheinlich gestört. »Wir können Sie auch gern zu Hause anrufen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Ilona schüttelte den Kopf. Jetzt hatte sie schon so lange gewartet, da kam es auf ein paar Minuten nicht mehr an. Sie ging zurück ins Wartezimmer, wo sich die Minuten weiter dehnten.

Wieder betrachtete sie die billigen Drucke der Impressionisten, ließ ihren Blick wandern über die strapazierfähige Auslegware, die Stahlrohr-Stühle, die vor der Wand aufgereiht waren. Das schmale Regal mit Zeitschriften und Broschüren, in dessen unterstem Fach zerlesene Bilderbücher lagen. Davor in einer Kiste stapelten sich Bauklötze, Stofftiere und Autos. Obenauf lag ein Polizeiauto.

Sie stand auf, nahm eine Zeitschrift aus dem Regal, setzte sich wieder und begann zu blättern. Eigentlich interessierte sie das gar nicht, dieser Klatsch und Tratsch über ach so wichtige Leute. Das war so weit weg von ihrem eigenen Leben. Aber was tat man nicht alles, um die Zeit totzuschlagen. Sie blätterte, betrachtete Fotos, las Schlagzeilen, überflog Satzfetzen. Zwischendurch sah sie auf die Uhr. Seufzte. Nicht, dass sie wirklich etwas Wichtiges versäumte, aber den Zustand des Wartens hatte sie schon immer abscheulich gefunden.

Plötzlich stutzte sie. Ihr Blick blieb an einem Foto hängen. Es war ein Gesicht, das sie kannte. Auch wenn es sich verändert hatte und alt geworden war. Über dem Foto prangte die Schlagzeile: »Bonner Altpolitiker tot aufgefunden«. Darunter stand: »Einst wollte er die Welt verändern.«

Heribert, mein Gott! Eine Welle von Erinnerungen durchströmte ihr Gehirn. Sie schluckte. Las weiter. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Heribert. Erschlagen in seiner eigenen Wohnung. Sie konnte es nicht fassen.

Mit den Erinnerungen schwappte eine Zeit an die Oberfläche, die sie weit hinten in ihren Kopf verbannt hatte. Sicher, wie sie glaubte, damit sie nicht mehr davon behelligt werden konnte in ihrem neuen Leben. Und jetzt genügte ein Name, eine Nachricht, und alles war wieder da. Ihre Gedanken rasten hierhin, dorthin, hielten sich nicht an irgendeine Linearität. Alles auf einmal sah sie vor sich. Den Sommer 1958. Diesen unglaublich charmanten Mann mit seinen unmöglichen Ansichten. Die sie ihm austreiben wollte. Das Tanzen auf der Wiese. Die Hitze. Das Flirren in der Luft. Die Abkühlung im Weiher. Nacktbaden, der Gipfel der Verruchtheit in dieser unsäglichen Atmosphäre der Prüderie und Spießigkeit. In ihr war die pure Rebellion gewesen. Nichts kümmerte sie. Nichts hielt sie zurück. Sie lachte über das, was man Anstand nannte. Fühlte sich frei. Atmete gierig den Geruch des Sommers. Fühlte die Wärme, die flirrende Hitze. Die Verheißung. Hörte die Worte an ihrem Ohr: Für immer und ewig. Uns beide trennt nichts. Wir bleiben zusammen, Sugar Baby.

 

Das war so schön, sie tanzte durch die Tage und Nächte. Bis sie unsanft aus ihrem Traum erwachte. Es folgte, was folgen musste. Dann kam das abrupte Ende. Nie hatte sie sich einsamer und leerer gefühlt.

Sie bemerkte nicht, wie die Tür aufging. »Frau Altendorf, Ihr Ergebnis wäre jetzt da.«

Irritiert sah sie auf, tauchte auf aus dieser anderen Welt. Verstand erst nichts. »Wie?«

»Ihr Ergebnis, auf das Sie gewartet haben. Wenn Sie bitte mitkommen wollen.«

Sie schlug die Zeitschrift zu, blinzelte die Erinnerungen fort. Versuchte, sich im Hier und Jetzt zurechtzufinden. Und hoffte, dass das zu erwartende Ergebnis kein allzu schlimmes sein würde.

»Ja … Ich komme.«

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