Versehrte Seelen

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Die beiden verzogen die Mundwinkel und rollten genervt mit den Augen. Immerhin blieben sie still.

Sie hatte sich schon manches Mal gefragt, was aus Schülern wie diesen beiden Sitzenbleibern später mal werden würde. Und was sie dagegen tun könnte, damit sie selbst erkannten, wie sehr sie sich mit ihrem Gehabe schadeten. Ihren Einfluss schätzte sie jedoch denkbar gering ein. Learning by doing, diese Methode war noch immer erfolgversprechender als Vorhaltungen zu machen. Ob sie einfach ihre Erfahrungen machen mussten und sehen, wo sie blieben? Erfahrungen kann einem niemand anders abnehmen, klar. Aber man brauchte Menschen, Verbündete, die man respektierte und die einem die richtige Richtung aufzeigten. Lehrer konnten durchaus solche Verbündete sein. Wenn man es denn zuließ. Sie hatte jedoch viel damit zu tun, diese Dinge immer wieder abzufedern.

»Büchner, der sehr jung starb, hätte dieses Stück wahrscheinlich nicht ohne fundiertes Medizinstudium schreiben können. Es geht darin auch um die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Der wahre Woyzeck ist aufgrund medizinischer Gutachten für zurechnungsfähig erklärt worden. In seinem Stück jedoch lässt Büchner diese Frage offen«, fuhr sie mit dem Unterrichtsstoff fort.

Äußerlich mimte sie weiterhin die überlegene Lehrerin, innerlich seufzte Henrike. Sie gestand sich – wieder einmal – ein, dass sie sich Deutschunterricht so nicht vorgestellt hatte. So vieles scheiterte an der Interesselosigkeit ihrer Schüler. Gut, sie waren alle mitten in der Pubertät. Und in dieser Phase der heftigen Hormonschübe und der allgemeinen Verunsicherung musste man sich irgendwie auflehnen, auch ihre eigene Pubertät war ihr noch recht lebendig vor Augen. Aber mein Gott, musste das alles so anstrengend sein? Und musste sich das immer wiederholen?

Mit Denise und Sebastian machte der Unterricht Spaß, aber für ihre konstruktiven Bemerkungen wurden sie von vielen anderen als Streber abgeurteilt. Über Nayla wunderte sie sich oft. Ausgesprochen klugen Beiträgen ihrerseits konnten manchmal höchst dümmliche Aussagen folgen, die verdeutlichten, dass sie irgendetwas Provokantes nachplapperte, das sie irgendwo gelesen hatte. Zu Woyzeck hatte sie bis jetzt noch nichts Differenziertes beitragen können.

Henrike war sich sicher, dass die meisten ihrer Schüler noch nicht einmal das Stück gelesen hatten. Obwohl das ihre Hausaufgabe gewesen war. Und obwohl es ziemlich kurz war.

Gut, Büchners Drama war 180 Jahre alt. Aber gleichzeitig hochmodern, weil es so viel über soziale Konstellationen und zwischenmenschliche Kommunikation aussagte. Und über das Wesen des Menschen. Büchner, der wie viele gute Schriftsteller, seiner Zeit voraus gewesen war, hat den Finger in offene Wunden gelegt. Natürlich ist die Sprache altbacken und gewöhnungsbedürftig. Aber es ist ein Stück Literaturwissenschaft. Ein wichtiges Stück Literaturwissenschaft. Und das Fragmentarische setzt viel Phantasie frei. Darauf hatte sie eigentlich gesetzt.

»Wer kann was über den Inhalt wiedergeben?«, forschte sie weiter.

Stille. Nur ihre beiden Lieblingsschüler hoben wieder die Hände.

»Ich bin sicher, Denise und Sebastian können das. Was ist mit euch anderen?«

Wie sie da saßen. Coolness vortäuschend. Sich vor lauter demonstrierter Lässigkeit auf ihren Stühlen fläzten, das Gesicht in die Hände gestützt. Dabei blasiert in die Gegend schauen. Langeweile aussendend. Für einen kurzen Moment wünschte sie sich die Pädagogik früherer Jahre zurück. Als man einfach nach einem Stock griff und sich dadurch Respekt verschaffte. Wer nicht hören will, muss fühlen. Damals hatte man gehört!

Was denk ich bloß für einen Blödsinn, ging es ihr durch den Kopf. Als ob man die Zeit zurückdrehen könnte.

»Gut, dann lesen wir jetzt einige Dialoge. Vielleicht wird euch da manches klarer. Tobias, du bist der Tambourmajor. Sven ist der Hauptmann, Nayla liest die Marie. Und du, Sebastian, bist der Woyzeck.« Sie verteilte sämtliche Rollen aus dem Stück.

Die meisten der angesprochenen Schüler murrten. Schließlich begannen sie, auf äußerst gelangweilte Weise ihren jeweiligen Text herunterzuleiern.

Henrike hörte der Litanei eine Weile zu. Als Sven den Satz des Hauptmanns stotterte: »Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke«, reichte es ihr.

»Och, Leute!«, rief sie genervt aus. »Das klingt ja grauenhaft.« Sie wiederholte den Absatz in einer angemessenen Intonation. »So, und jetzt erzählt euch Denise, worum es in diesem Stück geht.«

Nachdem Denise den Inhalt strukturiert und treffend wiedergegeben hatte, entspann sich eine lebhafte Diskussion.

»Der Woyzeck ist eifersüchtig auf den Tambourmajor«, sagte jemand. »Deshalb ermordet der später die Marie.« – »Der ist doch nicht ganz klar im Kopf, das merkt man daran, dass der Stimmen hört.« – »Auf dem trampeln alle herum.« – »Was soll das eigentlich mit den Erbsen? Hab ich nicht verstanden.« – »Na, der gibt sich doch als Versuchskaninchen her. Auf so ne blöde Idee muss man erst mal kommen.« – »Vielleicht kommt man auf solche Ideen, wenn man arm ist und kein Geld hat!« – »Also ich hab immer noch nicht richtig verstanden, warum der die Marie umgebracht hat. Und nicht den Tambourmajor oder den Doktor.«

Henrike war erstaunt. Sogar Maik und Luis hatten sich an der lebhaften Diskussion beteiligt. Auch Vanessa, das Alphaweibchen mit der honigblonden Mähne und dem lässigen Outfit, die gern im Schulhof die lautstarke Anführerin herauskehrte, aber im Unterricht eher mit Schweigsamkeit glänzte, hatte einen Beitrag geleistet, der noch nicht mal so verkehrt war.

Mit einem Mal war es still. Alle Augen waren auf Henrike gerichtet.

»Sehr gut!«, nickte sie anerkennend. »Ich glaube, ihr habt verstanden, dass Woyzeck nicht einfach mal so die Marie umgebracht hat, sondern dass seiner Tat ein vielschichtiger Prozess vorausgegangen ist.«

»Sie meinen also, ein Mord sei zu entschuldigen? Weil die anderen dran schuld sind?« Nayla hatte diese Frage gestellt. So wie sie sie anschaute, war sie wirklich an ihrer Antwort interessiert.

»Das ist nicht so einfach zu beantworten. Was wir hier im Unterricht tun, ist die Tat vom Ende her beurteilen. Und das, was dazu führte, herauszuarbeiten. Und da gibt uns Büchner einiges an die Hand.«

Sie freute sich über die Lebhaftigkeit ihrer vorher so trägen Schüler.

»Das nächste Mal schauen wir uns genauer die Sache mit dem medizinischen Experiment an.« Sie klappte das gelbe Reclam-Heftchen zu. Wenn die Schüler dann genauso gut mitarbeiteten, konnte sie sich auf die nächste Stunde freuen.

Ein Gedanke kam plötzlich wie aus dem Nichts angeflogen: Sie ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, wie sich wohl ein Leben ohne Martin anfühlte.

Bonn, Venusberg

8. Kapitel

Bei Schellenbrink auf der anderen Seite des Flurs öffnete niemand. Helena ging ein Stockwerk höher und klingelte bei Beck. Eine junge Frau im luftigen Sommerkleid öffnete sofort und bat sie in die Wohnung, in der ein brummender Ventilator vergeblich versuchte, die warme Luft etwas abzukühlen.

»Sie hatten uns benachrichtigt.« Helena zückte ihren brandneuen Dienstausweis. Blau und fälschungssicher ausgestattet mit Hologrammfolie. Das Wort »Polizei« neben dem nordrhein-westfälischen Landeswappen hob sich deutlich hervor. Ihr Portrait war das typische Produkt eines nicht besonders talentierten Fotografen, sie war frontal abgelichtet worden, das schmale Gesicht glänzte, die dunklen Haare trug sie zurückgebunden. Ihr halbherziges Lächeln sah immerhin einigermaßen seriös aus. Aber sie glich darauf nicht im Geringsten dem Bild, das sie von sich im Kopf hatte.

Es gab eine Zeit, da hatte sie ihr Haar in allen möglichen und unmöglichen Farben gefärbt. Rot, blau, grün, rosa. Bis sie irgendwann dahinterkam, dass es nicht auf die Haarfarbe ankam, schon gar nicht auf eine allzu künstliche. Seitdem ließ sie ihr Haar wachsen, wie es ihm gefiel, in seiner Naturfarbe, für die die Friseurbranche keine richtige Bezeichnung hatte, irgendwas zwischen schwarz und braun. Von den vielen kleinen Narben, die die zahlreichen Piercings in ihrem Gesicht hinterlassen hatten, konnte man auf dem Foto nur die in der linken Augenbraue ausmachen. Und das auch nur, wenn man genauer hinsah.

Marianne Beck warf einen kurzen Blick auf den Ausweis und nickte. »Ich hab den Gestank bemerkt und … Na ja, man vermutet ja nicht gleich das Schlimmste. Aber nachdem der Herr Blankenhain auch nicht auf mein Klingeln und Klopfen hörte, dachte ich, man muss was tun. Und jetzt …« Sie hob den Blick und sah Helena direkt in die Augen. »Sagen Sie, ist er wirklich ermordet worden?«

»Haben Sie Herrn Blankenhain gut gekannt?«, fragte Helena statt einer Antwort.

Aber auch die junge Frau antwortete mit einer Gegenfrage: »Kommen Sie aus Berlin? Ich mein, ich bin öfter in Berlin – es ist so schön dort, so ganz anders als …«

»Ja, ich komme aus Berlin«, fiel Helena ihr ins Wort. »Aber das tut momentan nichts zur Sache. Bitte beantworten Sie meine Frage.« Sie hoffte, dass das nicht allzu barsch klang, aber momentan war absolut keine Zeit für unverbindlichen Smalltalk.

»Entschuldigen Sie.« Die junge Frau fühlte sich ertappt. Strich sich übers Kleid. Es gab ein leise knisterndes Geräusch. »Also nein, ich hab Herrn Blankenhain nicht gut gekannt. Ich wohne ja erst seit Kurzem hier, ich hab vorher in Tannenbusch gewohnt, nach meiner Scheidung musste ich mir eine andere Bleibe suchen. Wie das so ist.«

Sie hielt kurz inne. Helena warf ihr einen Blick zu, der ihr hoffentlich deutlich signalisierte, dass sie endlich zur Sache kommen sollte.

»Ich kenne die Mitbewohner nur von kurzen Begegnungen aus dem Treppenhaus«, fuhr Marianne Beck fort. »Hier wohnen fast nur ältere Leute. Niemand in meinem Alter. Da sagt man sich guten Tag und geht seinen Weg. Ich hab nicht den Eindruck, dass man hier mehr voneinander will. Ist eigentlich schade. Wenn’s nach mir ginge, hätte ich zu allen ein gutes Verhältnis. Man weiß ja nie, was kommt und wie man einander braucht. Die Frau Schellenbrink zum Beispiel, die direkte Nachbarin von Herrn Blankenhain, die muss schon ewig hier wohnen. Die sagte doch glatt, dass sie nichts riecht. Dabei stank das bestialisch. Also, wenn Sie mich fragen: Die wollte nichts riechen. Die wollte ihre Ruhe.«

 

»Ich hab bei ihr geklingelt. Sie hat nicht aufgemacht.«

»Sehen Sie! Ich bin sicher, die hat das gehört und hat einfach nicht aufgemacht. Die Polizei könnte ja vielleicht ein paar Fragen stellen. Mich hat sie auch schon öfter vor der Tür stehen lassen, obwohl ich ganz genau wusste, dass sie da war.«

»Sie meinen, sie will sich aus allem raushalten?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es furchtbar stank. Und dass niemand was unternommen hat.«

»Außer Ihnen.«

Sie zuckte die Schultern.

»Wissen Sie etwas über Herr Blankenhains Freunde, Familienangehörige, oder womit er seine Zeit verbracht hat?«

Marianne Beck schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Da kann ich Ihnen überhaupt nicht weiterhelfen.«

»Gut. Dann danke ich Ihnen.« Helena wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie … man erzählt sich, der Herr Blankenhain sei hier in Bonn kein Unbekannter. Früher war er mal aktiv in der Politik. Aber was er genau gemacht hat, weiß ich nicht. Ich hab mich nie besonders für Politik interessiert.« Die junge Frau lächelte verlegen mit schief gelegtem Kopf.

Helena nickte ihr zu, ging ein Stockwerk tiefer und klingelte nochmals bei Frau Schellenbrink. Das tat sie mehrmals hintereinander. Als sich immer noch nichts rührte, klopfte sie und rief laut den Namen. Schließlich wurde ihr aufgetan.

So wie es in der Wohnung roch, glaubte Helena aufs Wort, dass mit den olfaktorischen Fähigkeiten der alten Dame nicht mehr alles in Ordnung war. Der säuerlich-muffige Geruch stand in eklatantem Gegensatz zu dem eleganten, gepflegt wirkenden Äußeren der alten Dame, die mit ihren weißen Löckchen und der Perlenkette ein wenig an die Queen erinnerte. Sie hatte sich in einer Wohnung, ähnlich der ihres Nachbarn, eingerichtet. Die Thonetstühle um den Kirschholz-Esstisch waren wahrscheinlich echt. Auf dem Sofa schonten Spitzendeckchen die Armablagen.

»Ach Gott«, begann Frau Schellenbrink sofort zu jammern. »Ach Gott, so ein Ende. Nein. Ich dachte, wir leben hier in einem sicheren Haus, aber da muss man ja furchtbare Angst haben. Man hört ja immer wieder von diesen Gangstern, die es auf alte Leute abgesehen haben …«

Helena unterbrach abrupt ihren Redefluss. »Haben Sie in den letzten Tagen etwas Verdächtiges bemerkt? Fremde Personen im Haus?«

»Wie?« Frau Schellenbrink schien noch ganz in unvorstellbare Schreckensszenarien versunken.

Helena wiederholte deutlich ihre Frage.

»Nein. Doch, warten Sie. Da kam immer eine junge Frau. Ich meine sogar, der Herr Blankenhain hätte mal gesagt, das sei seine Tochter. Die helfe ihm bei irgendwas. Ich weiß aber nicht, wobei. Vielleicht hat er es erzählt, aber ich hab’s nicht richtig verstanden.« Sie wies auf ihre Ohren. Zog bedauernd die Schultern hoch. »Ich hab zwar ein Hörgerät, aber das taugt nix.«

»Wie heißt diese Tochter?«

»Bitte?«

Helena stellte die Frage eine Tonhöhe lauter.

»Das weiß ich nicht. Sie hatten wohl erst spät miteinander Kontakt. Vorher habe ich sie nie hier gesehen.«

»Was heißt das?«

»Na, erst so seit einem guten Jahr. Seitdem war sie regelmäßig hier. Ungefähr einmal die Woche. In der letzten Zeit öfter, fast jeden zweiten oder dritten Tag. Ehrlich gesagt, ich hab mich schon ein bisschen gewundert, warum die so oft kam. Er war ja schließlich nicht pflegebedürftig oder so und kam gut zurecht.«

»Herr Blankenhain war Politiker?«, fragte Helena.

Frau Schellenbrink nickte. »Er war sehr angesehen hier in Bonn während seiner aktiven Zeit. Aber die ist schon lange vorbei. Heute kennt ihn kaum mehr jemand.«

»Haben Sie sonst etwas Ungewöhnliches beobachtet?«

Frau Schellenbrink hob die Schultern. Ruckte wie eine Taube mit dem Kopf. Schaute ängstlich. Blinzelte. »Doch, warten Sie. Da war am Freitag jemand hier.«

»Am Freitag? Welche Uhrzeit?«

»Das weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht war es auch Samstag. Doch, jetzt weiß ich es wieder: Es war Samstag. Gegen Abend. Glaub ich. Ein Mann, er sah etwas … nun ja, ramponiert aus. So mit strähnigen Haaren und unrasiert. Fast wie ein Obdachloser. Ich hab mich noch gewundert, was der wohl von Heribert, also Herrn Blankenhain, will. Der war ja immer …«

»Wie alt war der Mann?«

»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht sechzig. Oder auch älter. Bei diesen … Menschen ist das ja immer etwas schwierig zu schätzen. Und so genau hab ich nicht hingesehen. Ich sitze ja nicht hinter der Tür und lauere.«

Nein, ganz bestimmt nicht, dachte Helena.

Bonn, Polizeipräsidium

9. Kapitel

Helena stand am geöffneten Fenster und fächelte sich mit einer zweckentfremdeten Akte frische Luft von draußen zu. Dabei schaute sie hinunter auf die Königswinterer Straße. Wie anders war doch der Klang von Bonn im Vergleich zu dem von Berlin. Und auch der Geruch. Oder bildete sie sich das nur ein? Hier wie dort fuhren Autos, Busse, Motorräder und sonderten ähnliche Geräusche und Gerüche ab.

Sie ging zurück zum Computer, gab den Namen »Heribert Blankenhain« in die Suchmaschine ein und überflog ein paar der Einträge. Sie klickte einzelne Seiten an, hauptsächlich die der führenden Medien und las Eckdaten, Einschätzungen und Kommentare. Vor ihrem geistigen Auge formte sich allmählich das Bild einer schillernden Persönlichkeit, die von der Öffentlichkeit ziemlich kontrovers wahrgenommen wurde. Mit provokanten Äußerungen habe der CDU-Politiker für Unmut gesorgt, hieß es mehrmals. Einige Male wurde Blankenhain als umsichtiger Politiker mit Weitblick gelobt, öfter jedoch registrierte man seine Aktivitäten mit ausgesprochener Häme.

Fotos zeigten ihn als jungen, aufstrebenden Politiker mit vollem dunkelblondem Haar. In späteren Jahren hatte sich sein Haar weißgrau verfärbt, war aber immer noch voll. Auf einem der Fotos hielt ihm die amtierende Weinkönigin eine Traube hin. Lachend versuchte er, eine der Beeren mit dem Mund zu pflücken.

Der Fuchs und die Trauben, dachte Helena. Hingen dir wohl zu hoch.

Drei Ehen war Blankenhain eingegangen. Die erste Ehe war kinderlos geblieben, der zweiten entstammten zwei Söhne, der dritten eine Tochter. Helena überflog die Zeilen nach den Namen der Kinder. Walter. Ernst. Monika.

Monika. Das war der Name, der mehrmals in Blankenhains Kalender eingetragen war. Die Frau, die ihn laut Frau Schellenbrink in letzter Zeit öfter besucht hatte.

Es klopfte an der Tür. Ihr Chef trat herein. »Der Blankenhain«, rief er aus. »Meine Güte. Heribert Blankenhain.«

»Kannten Sie ihn?«

»Jeder in Bonn kannte ihn.« Er stutzte kurz. Dann lenkte er ein: »Klar, Sie kommen aus Berlin …« Das klang wie ein Vorwurf.

»Muss ja nicht unbedingt von Nachteil sein«, erwiderte sie pikiert. »Außerdem kann man heutzutage fast jeden googeln. Ich hab mich schon mal ein wenig schlau gemacht. Scheint ja ein merkwürdiger Zeitgenosse gewesen zu sein.«

»Das können Sie laut sagen!«, rief ihr Chef aus. »Der Blankenhain war stadtbekannt, jedoch weniger wegen seiner politischen Errungenschaften. Er vertrat zwar die Konservativen, aber er zog es vor, sein Fähnchen immer schön nach dem Wind zu richten.«

Wieland setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs. Ließ lässig ein Bein herunterbaumeln. Über seinen Oberschenkeln wölbte sich ein ordentlicher Bauch. »Wollte stets hoch hinaus, der Blankenhain. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Ein Schwätzer und Dampfplauderer wie er im Buche steht, eine Windmaschine der hohlen Phrasen, den auch seine Parteifreunde nicht ganz ernst nahmen. Immer auf seine Vorteile bedacht. Mit den großen Hunden pinkeln, bekam aber das Bein nicht hoch genug. Sie verstehen schon.« Er zwinkerte ihr zu. Offensichtlich liebte es ihr Chef, Leuten zuzuzwinkern.

Sie verzog keine Miene. »Nein, ich verstehe nicht.«

Konrad Wieland lachte auf. »Ich dachte, Sie in Berlin hätten einen ähnlichen Humor wie wir Rheinländer. Heribert Blankenhain galt allgemein als der Inbegriff eines ›Bonner Jeck‹. Er sah sich als Hoffnungsträger für eine politische Spitzenposition, aber das fruchtete nicht. Ein paar Mal war er kurz davor, die Karriereleiter höher hinaufzusteigen, doch stets nahm ihm ein anderer den Posten weg. Privat war er ein Charmeur, der gut bei den Damen ankam. Warum auch immer. Jedenfalls war er mehrmals verheiratet.«

»Was ja nicht ganz ungewöhnlich ist in Politikerkreisen«, sagte sie ungerührt.

Wieland ging nicht auf ihre Bemerkung ein. »Seine erste Frau kam aus einem guten Haus, was für ihn, der aus kleinen Verhältnissen stammte, einen Aufstieg bedeutete. Aber die Frau starb schon kurz nach der Eheschließung unter nicht ganz geklärten Umständen.« Er sah sie vielsagend an.

»Was heißt das?«

Wieland hob die Schultern. »Es hat jedenfalls nicht lange getrauert und bald darauf wieder geheiratet. Die Eltern waren einfache Leute vom Land und gegen diese Hochzeit, aber er hat sich durchgesetzt. Das ging damals durch alle Zeitungen. Er hatte jedenfalls Großes vor hier in Bonn. Wollte überall mitmischen und alles umkrempeln. Dabei trat er von einem Fettnäpfchen ins andere. Am Schluss musste er abziehen. Wie ein geprügelter Hund. Seine Frau hat ihn auch verlassen.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, dann wollen Sie mir sagen, es gibt eine Menge Leute, die Interesse am Ableben des Herrn Blankenhain hätten?«

Ihr Chef zuckte mit den Schultern. »Kann ich mir eigentlich nicht so recht vorstellen. Warum ausgerechnet jetzt? Ist ja alles schon so lange her. Um den war es wirklich schon seit Jahren sehr still geworden. Weiß gar nicht, was der nach seiner aktiven Zeit gemacht hat. Der ist ja auch schon weit über siebzig gewesen.«

Helena blätterte in ihren Unterlagen. »Achtundachtzig«, sagte sie. »Vor Kurzem ist er achtundachtzig geworden.«

»Nun ja. Manche Politiker sind in dem Alter noch ziemlich helle. Denken Sie nur an Helmut Schmidt.«

»Der war kein Konservativer«, entgegnete sie trocken.

»Ach, und Sie meinen, das macht einen Unterschied?«

»Und kein Bonner Jeck.«

Wieland lachte laut. »Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht.

Gibt’s denn irgendwelche Hinweise auf einen möglichen Täter?«

Das Bild des schweren geschliffenen Aschenbechers am Boden neben dem Toten blitzte vor ihrem inneren Auge auf.

Sie schüttelte den Kopf.

»Wir müssen in jedem Fall zügig vorankommen. Die Presse sitzt uns im Nacken. Die brauchen Futter, sonst schreiben die, was sie wollen. Jetzt im Sommerloch schnappen die alles auf, was nach Sensation klingt.«

»Ich bin stets bemüht, meine Arbeit zügig und gründlich zu machen. Aber ich werde nichts Ungesichertes aus der Hand geben.«

Er schaute auf, Überraschung im Blick. »Schon klar. Aber behalten Sie die Brisanz im Hinterkopf. – Hat eigentlich schon jemand die Angehörigen benachrichtigt?«

»Äh … Ich denke nicht.«

»Dann wird’s Zeit. Bevor die das aus den Medien erfahren.«