Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3.6 Analysekriterien und Teil 1 des Fünf-­Dimensionen-­Modells FDM-P

Aus den Merkmalen mündlichen Erzählens (Kap. 3.1-3.5) werden nunmehr Kriterien für eine funktionale Analyse der Erzähltexte und Diskurse sowie der narrativen Interaktion im Rahmen der Erzählperformances gewonnen und in einem Fünf-Dimensionen-Modell (FDM-P, Teil 1) zur Analyse von Erzählperformances festgehalten. Das Modell wird im empirischen Teil der Studie zur Analyse der von den Lehrkräften durchgeführten Erzählperformances (Kap. 9) angewandt.

Zu analysieren sind in diesem Kontext verbale Erzählungen, die in unterschiedlicher medialer Kommunikation verfasst sind. Dazu gehören:

 ein von den Lehrkräften ausgewählter schriftlicher Originaltext,

 eine für die mündliche Kommunikation verfasste Textvorlage und

 der in mündlicher Kommunikation tatsächlich realisierte Erzähldiskurs.

Zu analysieren sind ferner die narrativen Interaktionen zwischen den Erzählenden und ihrem Publikum.

Möglich ist, dass die drei Fassungen der verbalen Erzählungen identisch sind, leicht voneinander abweichen oder aber auch bemerkenswerte Unterschiede aufweisen. Da diese Unterschiede für die Beantwortung der Forschungsfragen der Studie relevant sind, werde ich ein Analyseinstrumentarium entwickeln, das diesen Differenzen Rechnung trägt, aber auch den Gesamtzusammenhang der Performance in den Blick nimmt. Zur Modellierung dieses Instrumentariums nehme ich eine Gliederung in fünf Dimensionen vor.

1 Die erste Dimension wird von der Textkonstruktion in medialer Schriftlichkeit gebildet.

2 Die zweite Dimension enthält die narrative und genrespezifische Markierung der Textoberfläche1.

3 Die dritte Dimension wird von der Diskurskonstruktion in medialer Mündlichkeit gebildet. Zu dieser Dimension rechne ich die Textvorlage, die für das Erzählen in medialer Mündlichkeit verfasst wird, und den tatsächlich realisierten Erzähldiskurs.

4 Die vierte Dimension erfasst die narrative Interaktion zwischen Erzählenden und Publikum.

5 Die fünfte Dimension, die performative Gestaltung, wird aus der Dimension des Performativen und der Perspektive der Aufführung gewonnen und im nächsten Kapitel als Teil 2 (Kap. 4.5.2) hinzugefügt.

Den ersten drei Dimensionen weise ich Kriterien der Analyse zu, die ich den Konstituenten des Narrativen (Kap. 3.1.1), den Funktionen des Prototypen (Kap. 3.1.2), den Prinzipien der Erzählwürdigkeit (Kap. 3.2.3), dem fiktionalen Erzählen (Kap. 3.3), dem Erzählen von Märchen und den Ausführungen zur medialen und konzeptionellen Mündlichkeit (Kap. 3.4, 3.5) entnehme. Die Kriterien für die vierte Dimension leite ich aus den narrationsspezifischen Aufgaben der Diskursteilnehmer (Kap. 3.2.2.) ab.

Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse von Erzählperformances stellt ein Basismodell dar, das auf den jeweiligen Fallkontext flexibel anzuwenden, zu ergänzen, zu erweitern und zu verändern ist (Kap. 9.4.2). Die folgende Übersicht (Tab. 3) zeigt die Gliederung in fünf Dimensionen. Den ersten vier Dimensionen werden Kriterien der Analyse mit entsprechenden Leitfragen zugeordnet.


1. Konstruktion der verbal-schriftlichen Erzählung: der Erzähltext
a. Realisierung qualitativer Narreme: - Mit welchen Mitteln wird Darstellungsqualität erreicht? - Worauf beruht die Erlebnisqualität der Erzählung? - Welche Sinndimensionen werden eröffnet? - Worin besteht die Erzählwürdigkeit der Erzählung?
b. Realisierung inhaltlicher Narreme: die prototypische Gestaltung der histoire: - Mit welchen protototypischen Textbausteinen wird die Geschichte gebildet? - Mit welchen Gefühlen, Stimmungen, Konflikten werden die Handlungen der Figuren verbunden?
c. Gebrauch syntaktischer Narreme: Sequenzierung und Herstellung semantischer Kohärenz: - Welche Makrostruktur (z. B. schéma quinaire) liegt der Erzählung zugrunde? - Welche Untergliederungen der großen in kleine Sequenzen liegen vor? - Wie sind die einzelnen Episoden miteinander verknüpft (z. B. durch chronologische, teleologische Prinzipien)? - Worin besteht der Planbruch?
d. genretypische Merkmale: - Welche genretypischen Merkmale des Märchens / von Zaubergeschichten / von Tiergeschichten werden gebraucht?
e. Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: - Welche Verfahren konzeptioneller Mündlichkeit der Großform A (z. B. szenische Gestaltung, Figurenrede) werden mit welcher Wirkung eingesetzt? - Welche Verfahren konzeptioneller Mündlichkeit der Großform B (z. B. Redundanz der poésie orale) Schriftlichkeit werden eingesetzt? - Welche Verfahren konzeptioneller Schriftlichkeit kommen zum Tragen?
2. narrative und genrespezifische Markierung
a. narrationsspezifische Markierungen der Textoberfläche: - Welche narrationstypischen Diskursmarker werden gebraucht?
b. genretypische Markierungen der Textoberfläche: - Welche genretypischen Fiktionssignale (z. B. formelhafter Beginn des Märchens, formelhafte Wendungen) werden gebraucht?
3. Konstruktion der verbal-mündlichen Erzählung: der Erzähldiskurs
a. Vertextung der Erzählvorlage: - Worin unterscheidet sich die Textvorlage zum Erzählen vor der Lerngruppe im Hinblick auf die Kriterien 1.a-e, 2.a-b vom Originaltext? - Welche Strategien der Adaption werden mit welchen Konsequenzen eingesetzt?
b. Realisierung des Erzähldiskurses: - Welche textuellen Veränderungen erfährt die Erzählvorlage bei ihrer Realisierung als Erzähldiskurs?
4. narrative Interaktion
a. Sequenzierung der narrativen Diskurseinheit: - Wie verläuft die narrative Gesprächsorganisation? - Wie wird der Wechsel zwischen narrativen Diskurseinheiten und Klassenzimmerdiskurs realisiert?
b. Übernahme narrativer Jobs: - Wie sind die Jobs während der Erzählperformance verteilt? - Welche Konsequenzen hat die Verteilung für die Redeanteile und Redevergabe?
5. performative Gestaltung (Wird ergänzt in Kap. 4.5.2) Teil 2

Tab. 3:

Das Fünf-Dimensionen-Modell zur Analyse von Erzählperformances im Fremdsprachenunterricht (FDM-P, Teil 1)

3.7 Zusammenfassung: das werkseitige, narrative Potenzial mündlichen Erzählens

Die Ergebnisse der Recherche des Potenzials mündlichen Erzählens für den Fremdsprachenunterricht in der Dimension des Narrativen (Kap. 3.1-3.5) lassen sich zwei Aspekten zuordnen. Der erste Aspekt (A) betrifft die Natur, die Fähigkeiten und die Struktur des Narrativen allgemein. Der zweite betrifft das spezifische Vermittlungsmedium mündlichen Erzählens und seine Präsentationsform (B). Die Ergebnisse fasse ich in einer ‚Potenziale-Liste‘ wie folgt zusammen:

1) Die Medienunabhängigkeit bzw. Transmedialität des Narrativen (Kap. 3.1.1)

Die Möglichkeit des Narrativen, sich in unterschiedlichen medialen Vermittlungsformen zu realisieren, bietet eine mediale Vielfalt narrativer Werke für die fremdsprachliche Rezeption: narrative Texte und Diskurse, Filme, Comics, Bilder, Musik. Medial vielfältig sind auch die Möglichkeiten der schriftlichen und mündlichen (Re-)Konstruktion von Erzählungen, deren Plots unter Beibehaltung des narrativen Paradigmas von einer medialen Präsentationsform in eine andere übertragen werden können. Beispiel: Die Transformation von Handlungsstationen einer in Mündlichkeit rezipierten Erzählung in Bilder – oder die Transformation eines schriftlich verfassten Textes in einen mündlich vorzutragenden Erzähldiskurs.

2) Die Graduierbarkeit des Narrativen (Kap. 3.1.2)

Die Graduierbarkeit des Narrativen birgt für den Fremdsprachenunterricht Möglichkeiten der Steuerung des Schwierigkeitsgrades bei der Rezeption und Produktion eines narrativen Werkes: Da jede mediale Präsentationsform des Narrativen unterschiedliche Narrativierungsleistungen bei der Produktion und der Rezeption verlangen, kann der Grad der (verbalen) Narrativierung bei der Aufgabenstellung der Anschlusskommunikation berücksichtigt werden. Beispiel: Die Transformation der Handlungsstation eines Märchens in ein Bild verlangt eine weniger hohe Narrativierung als die Transformation in ein anderes, dominant verbales Genre wie z.B. einen Brief, einen Tagebucheintrag etc.

 

3) Der Prototyp des Narrativen (Kap. 3.1.2 und 3.4)

Der Prototyp des Narrativen, das Märchen, enthält Bausteine des Narrativen in einfacher, modellhafter Form, d. h. qualitative, inhaltliche und syntaktische Narreme wie Erlebnisqualität, Kohärenzbildung durch Chronologie und Kausalität, eine leicht durchschaubare und erwartbare Makrostruktur, anthropomorphe Figuren als Träger der Handlung etc. Der Prototyp und ihm verwandte Genres wie Zauber- und Tiergeschichten halten für den Anfangsunterricht authentische Texte und Diskurse zur Rezeption in der Fremdsprache bereit. Es besteht darüber hinaus die Möglichkeit, das Prototypische der Texte und Diskurse durch eigene Bearbeitungen zu verstärken. Beispiel: Das Hinzufügen spektakulärer Handlungen, die Konzentration auf wenige Figuren, die Erhöhung der Anzahl an Gliederungssignalen.

4) Die transgenerische Verfasstheit des Narrativen (Kap. 3.2)

Die Realisierung des Narrativen in unterschiedlichen narrativen Kurztexten wie Märchen, Legenden, Sagen, Kurzgeschichten und Großformen des Episch-Narrativen wie der Novelle, dem Roman bietet zum einen eine Vielfalt an Genres für die unterrichtliche Kommunikation, zum andern eine Vielfalt intramedialer (innerhalb der schriftlich-verbalen Vermittlungsform) Transformationsmöglichkeiten von einem Genre ins andere. Die Realisierung des Narrativen in unterschiedlichen Varianten des Architerms Erzählen bietet dem Diskurstyp Erzählen verwandte Diskursarten wie Aufzählen, Beschreiben, Berichten, Schildern als Ergänzung zum ‚rein‘ narrativen Diskurstyp Erzählen.

5) Interaktives Potenzial durch die Realisierung narrativer Diskurseinheiten im fremdsprachlichen Klassenzimmer (Kap. 3.2.2)

Die Integrierbarkeit narrativer Diskurse in den Klassenraumdiskurs bietet Chancen zum Durchbrechen routinemäßiger Diskurs- und Handlungsmuster des Fremdsprachenunterrichts. Die klare Rollenverteilung der narrativen Interaktion, die narrativen Jobs zur Hervorbringung der Erzählung, die klare Gliederung der Interaktionsphasen und des Diskurses, die deutlichen Gliederungssignale an der Textoberfläche und die Gemeinsamkeit in der Hervorbringung der Erzählung durch die Kommunikationspartnerinnen und -partner liefern interessante, für die Lernenden gut zu bewältigende kommunikative und interaktive Alternativen zum Klassenraumdiskurs und darüber hinaus authentisch-ästhetische Kommunikationssituationen. Die Kontextgebundenheit der Diskursform kann für pädagogische Zwecke genutzt werden. Sie stellt eine Herausforderung zur adressatengerechten Anpassung an die fremdsprachliche Unterrichtssituation dar.

6) Ästhetisches Potenzial durch das Prinzip der Erzählwürdigkeit von Geschichten (Kap. 3.2.3)

Das Erzählwürdige des narrativen Diskurses ist in hohem Maße verantwortlich für den Reiz und das Vergnügen seiner Rezeption und für seinen Bildungswert. ‚Erzählwürdige‘ Texte und Diskurse bieten interessante Alternativen zu ausschließlich in pädagogischer Intention produzierten Texten und Diskursen. Da das Erzählwürdige in unterschiedlichen Bausteinen des Erzählens wie dem Unerhörten, Irritierenden, Fremden der Themen und Ereignisse, dem ungewöhnlichen Profil der Figuren, der poetischen Rhythmisierung der Erzählung oder der abwechslungsreichen Gestaltung der Figurenrede begründet sein kann bzw. von unterschiedlichen Rezipienten in unterschiedlichen Bausteinen situiert wird, steckt im Erzählwürdigen ästhetisches Potenzial und Potenzial für den individuellen Rezeptionsprozess. Für die Lehrkräfte ist die Erzählwürdigkeit von Geschichten ein wichtiges Kriterium der Textauswahl.

7) Die fiktionale Variante der narrativen Diskursform (Kap. 3.3)

Die Rezeption fiktionaler Diskurse bietet Möglichkeiten ästhetischen Erlebens. Der fiktionale Charakter des narrativen Diskurses bietet dem mündlichen Fremdsprachenunterricht Diskurse mit Erlebnis- und Darstellungsqualität und liefert Lehrenden und Lernenden Chancen, sich nicht nur mit dem Was der Geschichte, sondern auch mit dem Wie der Gestaltung zu beschäftigen. Der Als-Ob-Charakter des Fiktionalen kann zum Erleben, Anwenden, Reflektieren von Geschichten genutzt werden.

8) Das Märchen als Prototyp des Narrativen (Kap. 3.4, 3.5)

Der Bekanntheitsgrad der Märcheninhalte und -strukturen, die Kürze des Märchens, die Fokussierung auf die äußere Handlung, die binäre Figurenkonstellation, d.h. die Fokussierung auf den ‚Kern des Narrativen‘, erleichtern die Rezeption in der Fremdsprache. Das Zauberhafte des Märchens fungiert als Verstärkung des pacte de fiction für jede Zielgruppe. Bekanntheitsgrad, Gattungskonventionen, Prototypeninkarnation, Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit und ggf. Doppeladressierung machen das Märchen zu einem geeigneten Genre für das mündliche Erzählen in der Fremdsprache auf unterschiedlichen Niveau- und Jahrgangsstufen.

9) Die Medialität der direkten Mündlichkeit bei Erzählperformances (Kap. 3.5.1)

Die kommunikative Nähe der face-to-face Kommunikation bietet vielfältige Möglichkeiten, die narrative Kommunikation in engem Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden einerseits und zwischen Erzählwerk und Rezipierenden andererseits zu gestalten. Weitere Merkmale des Mediums wie Flüchtigkeit, Irreversibilität und Linearität der Produktion und Rezeption ‚zwingen‘ Erzählende und Rezipierende, den besonderen Charakter des Mediums in die Kommunikation einzubeziehen. Die Erzählenden müssen die Flüchtigkeit der mündlichen Kommunikation durch Maßnahmen ausgleichen, die das spontane, augenblickliche Verstehen fördern. Mittel dazu stellt ihnen die Verfasstheit des Mediums als Kompositmedium durch ein reiches Angebot non-verbaler Gestaltungsmittel zur Verfügung. Die Erzählenden können die mündliche Situation aber auch nutzen, um in Reaktion auf die Situation und ihr Publikum ihren Diskurs spontan zu verändern. Für die Zuhörerschaft bietet die Kommunikation in direkter Mündlichkeit die Chance auf Mitgestaltung des Diskurses und auf das Erproben medienspezifischer Verstehens- und Memorierungsstrategien.

10) Die konzeptionelle Mündlichkeit (Kap. 3.5.2 und 3.5.3)

Das Erzählen in Mündlichkeit kann den Rezipierenden den Eindruck vermitteln, das Geschehen und die Reden der Figuren, d.h. die face-to-face-Situationen der fiktionalen Welt, fänden im Hier und Jetzt der direkten Kommunikation statt. Diese dem theatralischen Spiel mit der Gegenwärtigkeit der Situation (Kap. 4.1) vergleichbare Illusionsbildung wird nicht nur durch die mediale Mündlichkeit erzeugt, sondern ist auch der konzeptionellen Mündlichkeit des Diskurses zu verdanken. Durch Modellierung der text- bzw. diskursinternen konzeptionellen Mündlichkeit können Autorinnen und Autoren und reale Erzählende das Verhältnis von Distanz und Nähe zur fiktionalen Welt regulieren, die phatische und expressive Funktion gegenüber der referentiellen privilegieren, Memorierungshilfen geben und damit ihren Diskurs flexibel gestalten – je nach ästhetischem und pädagogischem Erzählkonzept und je nach kontextuellen Klassenraumbedingungen.

4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen

In diesem Kapitel werden die Potenziale der werkseitigen, performativen Dimension mündlichen Erzählens als Aufführung erforscht. Dabei werden die wesentlichen Merkmale einer Aufführung auf der Ebene des Systems1 (Kap. 4.1-4.4), der Norm (4.5) und der Rede (4.6) herausgearbeitet und auf das Erzählen als Performance bezogen. Kapitel 4.1 stellt die Ereignishaftigkeit der Aufführung in den Mittelpunkt. Kap. 4.2 untersucht die Nähe der Erzählperformance zum Theater. Diese Nähe bildet die theoretische Basis für die Erarbeitung des Kommunikationsmodells „Mündlich-fiktionales Erzählen als Performance“ (4.2.1). Kapitel 4.3 untersucht die Semiotizität der (Performance-)Aufführung auf der Ebene des Systems. Dazu werden die der Erzählperformance zur Verfügung stehenden Zeichen und Zeichenkombinationen aufgelistet und deren Funktionen und Wirkungsweisen in der Performanceaufführung erläutert. Mit der Erörterung des Prinzips der Verwandlung werden in Kapitel 4.4 die Merkmale der Aufführung miteinander verbunden, die Erlebnishaftigkeit von Aufführungen, deren Rahmung und deren Kommunikationsmöglichkeiten dargestellt. In Kapitel 4.5 werden auf der Ebene der Norm Inszenierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Erzählperformances diskutiert (Kap. 4.5.1). Auf der Ebene der Rede werden Kriterien zur funktionalen Analyse der Erzählperformances und Teil 2 des Fünf-Dimensionen-Modells erarbeitet (4.5.2). Kapitel 4.6 stellt die Potenziale der performativen Dimension im Gesamtzusammenhang dar.

4.1 Erzählen als Performance (1): die Aufführung als Ereignis

Das folgende Kapitel erfasst das mündlich-verbale Erzählen aus der Perspektive einer Aufführung. In der theater- und literaturwissenschaftlichen Literatur (Fischer-Lichte 2005a: 16, 22, Pfister 2004: 516f.) wird der Begriff der Aufführung schwerpunktmäßig auf Veranstaltungen im öffentlichen Raum und auf Theateraufführungen oder Konzerte angewandt. Die Auffassung vom mündlichen Erzählen als Aufführung im Fremdsprachenunterricht ist im Augenblick noch eher ungewöhnlich, im Rahmen der aktuellen Diskussion um den performativen Fremdsprachenunterricht (Hallet 2010c, Surkamp / Hallet 2015, Schewe 2011, 2015 und Kap. 11.3.1 der Studie) jedoch von großem Interesse.

Um die Erkundung des performativen Potenzials für den Fremdsprachenunterricht mithilfe des Aufführungsbegriffs durchführen zu können, werde ich im Rekurs auf die Performancetheorie Fischer-Lichtes ein Konzept für das mündliche Erzählen als Performance und als Aufführung entwickeln und an jeder Station der Konzeptentwicklung die Frage nach der Übertragung auf die Unterrichtssituation klären.

4.1.1 Der Performance- und der Aufführungsbegriff

Zentral für die Klärung des Performancebegriffs ist die Unterscheidung aus sprachwissenschaftlicher und aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Aus sprachwissenschaftlicher, auf Austin zurückzuführender Perspektive (Bußmann 2008: 514f, Fischer-Lichte 2004: 31, 2005b: 234) wird mit Performanz die individuelle Sprachverwendung (im Gegensatz zur Kompetenz, der allgemeinen Fähigkeit zur Sprachverwendung) bezeichnet. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive wird Performance bzw. Performativität unterschiedlichen Aktionen in unterschiedlichen Handlungsfeldern wie z.B. dem Theater, der bildenden Kunst, Konzerten, Festlichkeiten, Wettkämpfen sowie rituellen, aber auch alltäglichen Handlungen zugeschrieben. Beide Perspektiven bezeichnet Pfister als die „beiden semantischen Hauptachsen <Ausführung> und <Aufführung>“ (Pfister 2004: 516). Fischer-Lichte unterscheidet zwischen drei Konzepten:

 erstens einem schwachen Konzept, das „die Handlungs- und Gebrauchsdimension von Sprache“ (Fischer-Lichte 2005b: 234) meint,

 zweitens einem starken, das sich bezieht „auf eine Äußerung, die das, was sie bezeichnet, zugleich auch vollzieht“ (a.a.O.), also auf eine performative Äußerung in einem illokutionären Sprechakt,

 drittens einem radikalen Konzept, das „auf die Fähigkeit des Performativen, eine operativ-strategische Funktion zu erfüllen […]“ (a.a.O.) verweist.

In dieser Funktion wird das Performative seit der performativen Wende in den 90er Jahren als Ausdruck für kulturelle, als Aufführung inszenierte Handlungen verwendet: „Die Metapher von <Kultur als Performance> begann ihren Aufstieg.“ (Fischer-Lichte 2005b: 237)

Den Begriff der Aufführung definiere ich im Rekurs auf Fischer-Lichte (2005a: 16) wie folgt:

Unter Aufführung wird ein Ereignis verstanden, das zu einem bestimmten Anlass an einem verabredeten Ort zur verabredeten Zeit stattfindet und „aus der Konfrontation zweier Gruppen von Personen hervorgeht.“ (Fischer-Lichte 2005a: 16) Beide Gruppen teilen sich die Rollen der Akteure und der Zuschauerinnen und Zuschauer und „durchleben“ (a.a.O.) das Ereignis gemeinsam. Die Rollen sind klar getrennt, ein Rollenwechsel ist jedoch möglich. Die Bedeutungserzeugung erfolgt im Augenblick des Ereignisses aus der Kommunikation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und deren Wahrnehmung des Geschehens. Die Besonderheit der Kommunikation in einer Aufführung besteht in ihrer Medialität und Materialität einerseits, in der Semiotizität der zum Einsatz kommenden Zeichen sowie dem ästhetischen Prinzip der Verwandlung andererseits. Darüber hinaus wird der Charakter der Aufführung bestimmt durch den Grad an Öffentlichkeit bzw. Privatheit der Aufführung, durch die o. g. und weiteren kontextuellen Faktoren, die als Rahmen der Aufführung dienen, sowie durch das Inszenierungs- bzw. Aufführungskonzept.

 

Der Öffentlichkeitscharakter von Aufführungen wird von Seiten der Theatersoziologie und teilweise auch der Mündlichkeitsforschung als unabdingbare Voraussetzung bzw. als eines ihrer wesentlichen Charakteristika (Rapp 1973: 175, Zumthor 1983: 40) angesehen. Meiner Studie werde ich einen weiten Aufführungsbegriff zugrunde legen, der auch Veranstaltungen, die in halb-öffentlicher, d.h. auch in institutioneller Sphäre1 stattfinden, als Aufführungen ansieht, soweit sie die o. g. Prinzipien realisieren. Der weite Aufführungsbegriff ist m. E. aus zwei Gründen gerechtfertigt: Erstens ist der Öffentlichkeitscharakter einer Aufführung im einzelnen Klassenzimmer zwar eingeschränkt dadurch, dass der Teilnehmerkreis geschlossen ist, aber das einzelne Klassenzimmer ist Teil eines größeren Ganzen. Nachrichten von den in geschlossenen Klassenzimmern angewandten Lerninhalten und -methoden dringen nach außen, in die Schulöffentlichkeit hinein und auch über die Grenzen der einzelnen Schule hinaus, und sie sind von öffentlichem Interesse. Insofern ist auch hier Öffentlichkeit hergestellt. Zweitens stellt der Öffentlichkeitscharakter nur einen der Einflussfaktoren dar, die den Rahmen der Aufführung bilden. Es wird darum gehen, die eingeschränkte Öffentlichkeit einer Aufführung im Klassenzimmer zu berücksichtigen und diesen Faktor zusammen mit anderen, vom schulischen Kontext vorgegebenen Rahmenfaktoren in den Blick zu nehmen und deren Einfluss auf die Realisierung der Erzählperformances festzuhalten (Kap. 4.4.1).

Das Performative definiere ich im Rekurs auf Fischer-Lichte (2005b: 234) und Pfister (2004: 516-518) wie folgt:

Das Performative wird gefasst als die Eigenschaft von Handlungen, im Augenblick ihres Vollzugs sichtbar, beobachtbar und wirksam zu werden. Mithilfe des Performativen können Absichten und Wirklichkeiten dargestellt (z.B. durch Gesten, Gestikulieren, alltäglichen Gebrauch von Gegenständen) oder konstituiert (z.B. durch Erschaffen von Gegenständen, Tatsachen u.a.m.) werden. Das Performative kann auch dazu dienen, über alltägliche Absichten und Wirklichkeiten hinauszuweisen (z.B. durch ästhetische Gestaltung und / oder die Grenzen von Alltag und Kunst überschreitende performing arts). Im ersten Fall wird das Performative im alltäglichen, in letzte­rem im kulturell-ästhetischen Zusammenhang realisiert. In jedem Fall bewirkt die Realisierung des Performativen eine Transformation, sei es von Zuständen, Gegenständen, Werken, Personen oder von Beziehungen zwischen Personen.

Den Begriff der Performance verwende ich in meiner Studie ausschließlich für inszenierte Handlungen in kulturell-ästhetischem und pädagogischem Zusammenhang und definiere die Performance ebenfalls im Rekurs auf die o. g. Fachliteratur wie folgt:

Unter einer Performance wird eine gestaltete Präsentation verstanden, die das Performative je nach Zielsetzung, ästhetischem Konzept, Art der performativen Kunst und dem Aufführungsrahmen in unterschiedlicher Ausprägung realisiert. Das eine Extrem der Ausprägung bildet ein traditionelles, an der psychologisch-realistischen Theatertradition orientiertes2 und das andere ein radikales, der postmodernen Avantgarde verpflichtetes Inszenierungskonzept3.

Allgemeine Charakteristika von Performances sind Plurimedialiät und Theatralität der Gestaltung, eine intensive Beziehung zwischen Akteuren und Publikum, die Betonung des Augenblicklichen, Flüchtigen, aber auch der Materialität der Performance und eine prozesshafte Gestaltung, die den Willen zur Grenzüberschreitung, sei es im Bereich des Medialen, des Materialen oder der Beziehung zum Publikum zumindest nicht ausschließt.

Performances können sich ästhetisch-künstlerisch als Erzähl-, Tanz-, Musik-, Ausstellungs-, Theater-Performances konstituieren bzw. die o. g. Darstellungskünste kombinieren oder als Aktionskunst bzw. body-art4 in Erscheinung treten und damit eine Form annehmen, die den o. g. Künsten nicht eindeutig zuzurechnen ist.

Als erstes Ergebnis der Recherche des Potenzials mündlichen Erzählens als Performance und als Aufführung lässt sich festhalten:

1 Ein wesentliches Charakteristikum sowohl der Aufführung als auch der Performance ist das Ereignis.

2 Das Ereignishafte der Aufführung beruht auf folgenden vier Merkmalen: auf ihrer Medialität, ihrer Materialität, ihrer spezifischen Form der Bedeutungserzeugung und im Prinzip der Verwandlung.

3 Zwischen Aufführung und Performance besteht eine Art Aufgabenteilung. Während sowohl der Begriff der Aufführung als auch der Begriff der Performance das Ereignis selbst bezeichnet, bietet die Aufführung eher den Realisierungsrahmen für das Entstehen des Ereignisses und die Performance stellt eine mögliche Form der Realisierung dar. Die Performance nutzt den Aufführungsrahmen, um das Ereignis hervorzubringen. Sie setzt die Komponenten der Aufführung in unterschiedlicher Art und Weise und in unterschiedlicher Radikalität in Aktion um und macht es für das Publikum erlebbar.

Da das Potenzial von Erzählperformances als Aufführung in den o. g. vier Merkmalen der Aufführung und in den möglichen Ausprägungen bzw. Inszenierungen der Erzählperformances zu vermuten ist, werden diese im Folgenden dargestellt und auf ihre Wirkmöglichkeiten für den Fremdsprachenunterricht befragt.