Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht

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3.2.3 Das Prinzip der Erzählwürdigkeit

Die Frage nach der Erzählwürdigkeit ist die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Erzählungen und der Sinnstiftung durch das Erzählen – die Frage nach dem, was eine Erzählung aus welchen Gründen erzählenswert macht. Konsens besteht in der Forschung darüber, dass die Erzählwürdigkeit (auch Tellability) ein wichtiges Gütekriterium narrativer Werke und ein Interaktionskriterium zwischen Erzählung und Rezipierenden (Ehlers 1998, Wolf 2002a, Fludernik 2010) darstellt. Je nach Forschungsansatz ist die Zuordnung der Erzählwürdigkeit zu den Konstituenten des Erzählens unterschiedlich.

Aus werkinterner Perspektive kann die Erzählwürdigkeit einer Geschichte als Realisierung qualitativer Narreme (Kap. 3.1.1) angesehen werden. Diesen Weg geht Fluderniks ‚Natural‘ Narratology (Fludernik 2010: 122). Für Fludernik, die das Wesentliche des Narrativen nicht nur in der Darstellung von Handlungen und Ereignissen, sondern vor allem in der „Vermittlung anthropozentrischer Erfahrung“ (Fludernik, 2010: 73), d.h. in der „Vermittlung von Gedanken und Gefühlen und [der] Darstellung von Wahrnehmung und Reflektion“ (a.a.O.), sieht, liegt in dieser Erlebnisqualität die Tellability des Narrativen begründet.

Aus werkinterner Perspektive wird Erzählwürdigkeit auch an der Realisierung inhaltlicher Narreme festgemacht. Diesen Weg geht Ehlers lesetheoretischer Ansatz. Für sie ist erzählwürdig, was in einer Erzählung aus dem Alltäg­lichen heraustritt:

Das Erzählen setzt dort ein, wo das Kontinuum von Alltagserfahrungen unterbrochen wird, um hervorzutreiben, wofür es keine Einordnung gibt: das Neue oder das Besondere. Je nach Wahrnehmung lassen sich Phänomene, die zum erzählerischen Antrieb werden, als neu, besonders fremd oder anders kategorisieren. Ereignisse, die nicht einordbar sind, sich dem kanonischen Wissen, dem Regelhaften und Konventionalisierten entziehen, besitzen eine Signifikanz. (Ehlers 1998: 199)

Erzählenswert in diesem Lichte ist das, was die Leserinnen und Leser irritiert, was sie zur Reflexion auffordert. Ehlers geht über die werkinterne Perspektive hinaus, indem sie Erzählwürdigkeit auch aus deren Perspektive definiert. Um das Neue oder das Besondere zu würdigen, müssen die Rezipierenden ihr Wissen über den der Erzählung zugehörigen Kulturraum aktivieren. Nur so können sie verstehen, „was jeweils die Basis des Alltäglichen und Bekannten ist und was innerhalb einer Kultur als neu oder besonders und somit für erzählenswert gilt“(a.a.O.).

Für Jerome Bruner ist sind ebenfalls die in Geschichten dargestellten Alltagserfahrungen erzählenswert, weil sie, um Aufmerksamkeit zu erregen, das Besondere brauchen (1997: 64)1. Das Besondere steckt für Bruner im Durchbrechen dessen, was in einer Kultur als kanonisch gilt. Die Erzählwürdigkeit von Geschichten besteht für ihn darin, dass individuell und gesellschaftlich relevante Konflikte als menschliche Dramen so dargestellt werden, dass sowohl dem Kanonischen als auch dem Durchbrechen des Kanonischen Sinn und Bedeutung verliehen wird. Bruners kulturpsychologisches und Ehlers lesetheoretisches Konzept treffen sich dort, wo die Sinngebung letztlich durch die Interpretationsleistung der Rezipierenden erfolgt. Beide Konzepte sind für das interkulturelle Lernen anhand literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht von Relevanz.

Zur Erzählwürdigkeit auf werkinterner Ebene trägt auch die den syntaktischen Narremen zuzurechnende thematische Einheitsstiftung (Wolf 2002a: 50) bei. Die Zentrierung auf eine die gesamte Erzählung leitende Problematik schafft als ‚roter Faden‘ der Erzählung inhaltliche Kohärenz. Viele Märchen beziehen aus diesem Phänomen ihren Kanon-Status. Sie stehen – prototypisch – für anthropomorphe Verhaltensweisen wie Neugier, Verführung, Schlauheit usw. Dieser Aspekt von Erzählwürdigkeit kann von den Rezipierenden im Fremdsprachenunterricht zur Unterstützung des Verstehens genutzt werden. Diesen Aspekt verstärkt m. E. ein weiteres syntaktisches Narrem, die Teleologie, die der formal-erzähllogischen Einheitsstiftung zuzurechnen ist. Mithilfe dieses Narrems kann die Abfolge der Handlungen und Geschehnisse so gestaltet werden, dass die Rezipierenden entdecken, worauf die Handlung abzielt, und damit in emotionale und / oder intellektuelle Spannung versetzt werden.

Beim mündlich-fiktionalen Erzählen im Fremdsprachenunterricht wird als ein wichtiger werkexterner Faktor der Lernstand der Lerngruppe zu beachten sein. Aber auch das Alter der Lerngruppe, aktuelle Modeerscheinungen, bisher erworbene literarische Kompetenzen der Lernenden u.a.m. sind zu bedenken. Für die empirische Untersuchung interessant ist die Wechselwirkung zwischen werkexternen und werkinternen Faktoren. So ist es möglich, dass die Lernenden die Erzählwürdigkeit der gehörten Geschichte übereinstimmend auf Seiten der inhaltlichen Narreme sehen, während die Lehrkraft eher auf die qualitativen Narreme bei der Textauswahl setzt. Möglich ist auch eine individuell unterschiedliche Wahrnehmung und Beurteilung innerhalb der Lerngruppe.

Als Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Erzählwürdigkeit ergeben sich weitere narrationsspezifische Aufgaben für die Akteure der narrativen Interaktion. Die Lehrkräfte als Erzählende haben die Aufgabe, die Erzählwürdigkeit der ausgewählten Geschichte auf werkinterner Ebene aus ihrer Perspektive zu definieren, diese in Beziehung zu dem von ihnen erwarteten Rezeptionsverhalten der Lernenden zu setzen und die Erzählwürdigkeit der Geschichte in ihrer Performance zum Tragen zu bringen. Die Lernenden als Zuhörende haben die Aufgabe, in der direkten Kommunikation Erzählwürdiges wahrzunehmen und dessen Erscheinungsformen für das individuelle Verstehen zu nutzen.

3.3 Mündlich-verbales Erzählen (2): fiktionales Erzählen

Da es sich bei den von den Lehrkräften ausgewählten Erzählungen um fiktionale und schwerpunktmäßig um Märchentexte handelt, wird im Folgenden das Spezifische des fiktionalen Erzählens in Mündlichkeit herausgestellt und vom konversationellen Erzählen abgegrenzt1. Die in der Literaturwissenschaft bis in die 90er Jahre kontrovers diskutierte Frage, ob Fiktionalität als eine Eigenschaft von Texten oder als eine Zuschreibung von Seiten der Rezipierenden zu verstehen ist (Hempfer 2002a: 117), ist auch für meine Studie relevant. Inzwischen besteht Konsens darüber, dass sowohl die Ebene des Textes als auch die der Rezeption zur Definition des Begriffes hinzugezogen werden müssen. Konsens besteht außerdem darin, Fiktionalität als ein ‚Spiel‘ bzw. als ein ‚Als-Ob-Handeln‘ (s. auch Barsch 2004: 181, Klinkert 2004: 30, Hempfer 2002a: 121), als ‚inszenierten Diskurs‘ zu begreifen, der die Wirklichkeit der Existenz der entworfenen Welten vortäuscht, die Rezipierenden aber auffordert, an diesem Spiel mitzuwirken. Das fiktionale Spiel realisiert sich dann, wenn beide Seiten mitspielen – wenn von Seiten des Textes eine „Einladung zum Eintritt ins fiktionale Universum“ (Genette: 1992: 49) und von Seiten der Rezipierenden „das mehr oder weniger stillschweigende Einverständnis“ (a.a.O.: 51) zum Eintritt in die Welt der Fiktion vorliegt. Eine solche Übereinkunft werde ich – in Anlehnung an den pacte auto­biographique und den Romanpakt von Lejeune – als einen pacte de fiction bezeichnen2. Damit der Fiktionalitätspakt funktioniert, braucht es einen Rahmen (z.B. den der öffentlichen Aufführung in der Institution Theater) und es braucht Rezipientinnen und Rezipienten, die sich auf den Pakt einlassen bzw. die Signale der Fiktionalen wahrnehmen können und wollen.

Einen wichtigen Impuls zur Zusammenführung der textuellen und der pragmatischen Ebene geben Hempfers fiktionstheoretische Überlegungen, die sowohl textinterne als auch textexterne Aspekte der Fiktionalität in den Blick nehmen, so dass Fiktionalität als textstrukturelles und als interaktives Phänomen zwischen Rezipierenden und Text begriffen werden kann. Genau dieser Zusammenhang wird bei der empirischen Untersuchung eine Rolle spielen. Hempfers Ansatz liefert dazu passende Instrumente, indem er zwischen Fiktionsmerkmalen und Fiktionssignalen unterscheidet:

Fiktionssignale sind kommunikativ relevant und damit notwendig variabel, sie garantieren, daß ein Text von den Rezipienten bei adäquater Kenntnis der zeitgenössisch jeweils gültigen Diskurskonventionen als ein fiktionaler verstanden wird – Fiktionsmerkmale sind demgegenüber Komponenten einer Theorie, die ein solches Verständnis zu rekonstruieren versucht, indem sie explizit die Bedingungen formuliert, die vorliegen müssen, um einen Text als – mehr oder weniger – fiktional einzustufen. (Hempfer 2002a: 119)

Zentrale Fiktionsmerkmale sind die Doppelung der Sprechsituation in narrativen Texten (durch textexterne und textinterne Sprecherinnen und Sprecher bzw. reale Autorinnen und Autoren und implizite Erzählerinnen und Erzähler), ferner die bereits erwähnte ‚Als-Ob-Struktur‘ (Hempfer 2002a: 120) und eine „auffällige Ausgestaltung der textinternen Sprechsituation“ (a.a.O.). Letztere besteht in der fast unbeschränkten „Verfügungsgewalt über [die erzählte] Welt“ (a.a.O.), wie sie in nicht-fiktionalen Diskursen nicht möglich ist. Die Verfügungsgewalt des textintern Sprechenden äußert sich z.B. in den diversen Möglichkeiten der Perspektivierung und des Ausspielens erzählerischer Allwissenheit. Diese drei Merkmale lassen sich zur Modellierung der mündlich-fiktionalen Kommunikation und zur Abgrenzung des fiktionalen narrativen Diskurses gegenüber dem konversationellen Alltagserzählen nutzen.

Was das erste Merkmal, die Sprechsituation, betrifft, so sind beim konversationellen Erzählen die mündlich Erzählenden im Augenblick des Erzählens gleichzeitig Autorinnen und Autoren3 und diskursinterne Erzählende ihrer Geschichte. Eine Verdoppelung der Sprechsituation liegt nicht vor. Beim mündlich-fiktionalen Erzählen bleibt der Unterschied zwischen Autorinnen und Autoren und diskursinternen Erzählenden erhalten. Die fiktionale Erzählsituation reguliert sich über den pacte de fiction. Die mündlichen Erzählerinnen und Erzähler können den Pakt explizit machen, indem sie ihrem Publikum erklären, dass sie eine ihnen zur Verfügung gestellte, gehörte oder gelesene Geschichte erzählen werden. Selbst wenn sie die Geschichte selbst erfunden haben, sind sie doch nicht mit dem diskursinternen Erzähler ihrer Geschichte identisch. Aber sie übernehmen dessen Rolle, denn sie werden in der mündlichen Situation zu Darstellerinnen und Darstellern des diskursinternen Erzählers. Sie eröffnen als ‚präsente‘ Erzählende ihrem Publikum die Möglichkeit, sich mit ihnen gemeinsam auf das ‚Als-Ob-Spiel‘ der Fiktion einzulassen.

 

Das zweite Merkmal des Fiktionalen, das ‚Als-Ob-Spiel‘, liegt zum einen der erzählten Geschichte zugrunde und unterscheidet die fiktionale Erzählung von der auf Vermittlung tatsächlich erlebter Geschichten abzielenden konversationellen Erzählung. Es ist zum anderen auch als Rezeptionsprinzip präsent. Das Spielerische der Rezeption können die Erzählenden performativ verstärken durch den Einsatz entsprechender Mittel (Kap. 4.3).

Auch über das dritte Merkmal von Fiktionalität, der Verfügungsmächtigkeit über die erzählte Welt, grenzt sich das mündlich-fiktionale vom konversatio­nellen Erzählen ab. Mündlich Erzählende können das in der Erzählung angelegte Mächtigkeitsprinzip performativ nutzen, indem sie mit dem Text und den performativen Gestaltungsmitteln flexibel umgehen. Sie können z.B. eine Passage der Erzählung kürzen, die andere ausgestalten oder das Verhalten der Figuren wie ein allwissender Erzähler verbal und non-verbal kommentieren und so mit der Perspektivierung der Narration spielen.

Die Fiktionsmerkmale mündlich-fiktionaler Erzählungen manifestieren sich demzufolge in textuellen und pragmatischen Fiktionssignalen. Eine wichtige Rolle beim mündlich-fiktionalen Erzählen im Klassenzimmer spielen

 als pragmatische Fiktionssignale die Gestaltung der Kommunikationssituation und des Kommunikationsraumes, wozu die Übernahme der narrativen Jobs, die Haltung und inszenierte Aufmerksamkeitslenkung der Erzählenden sowie evtl. besondere räumliche Arrangements gehören,

 als paratextuelle Fiktionssignale Genrebezeichnungen und weitere textexterne Ankündigungen, besonders in der Phase der Darstellung von Inhaltsrelevanz (Kap. 3.2.2),

 als textuelle Fiktionssignale prototypische Oberflächensignale wie Eröffnungs- und Schlussformeln, genretypische Angaben zu Ort, Zeit und Personen (Nünning 2004c: 182) sowie narrationstypische Diskursmarker.

Auf der Ebene der konkreten unterrichtlichen Kommunikation interessieren im Rahmen meiner Studie die Bedingungen, unter denen der pacte de fiction zustande kommen kann. Für die Realisierung des mündlich-fiktionalen Erzählens genügt nicht allein die Übernahme der narrativen Jobs (Kap. 3.2.2) durch die Kommunikationspartnerinnen und -partner. Auf Seiten der Rezipierenden bedarf es der Disposition, die fiktionale Inszenierung wahrzunehmen und sich damit auf eine Interaktionsform mit der Erzählung einzulassen, die Klinkert als „ästhetische Einstellung“ (Klinkert 2004: 33) bezeichnet. Auf Seiten der Erzählenden bedarf es der Bereitschaft, das mündliche Erzählen als Inszenierung (Kap. 4.1) mit performativen Mitteln auszugestalten und damit eine Interaktionsform anzubieten, die ich in Anlehnung an die Disposition der Rezipierenden als ästhetische Angebotshaltung bezeichnen möchte. Das Zustandekommen des pacte de fiction auf der Grundlage textueller Signale und ästhetisch-interaktioneller Übereinkünfte der Kommunikationspartner macht es möglich, dass das mündliche Erzählen im Klassenzimmer zu einem ästhetischen Erlebnis der Fremdsprache werden kann. Damit ist auch je nach Lernstand, Lernalter und Fremdsprachenprofil der Rezipierenden die Möglichkeit gegeben, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Handlung der Erzählung, sondern auch auf ihre „Gemachtheit“ (Klinkert 2004: 33) zu richten und diese sprachpraktisch zu nutzen. Die Verwandlung der narrativen Diskurseinheit in eine Aufführung wird in der Untersuchung der performativen Dimension (Kap. 4.1), die Überführung des fiktionalen in einen performativen Pakt wird in der Auswertung der empirischen Ergebnisse (Kap. 11.2.7) thematisiert.

3.4 Mündlich-verbales Erzählen (3): Erzählen von Märchen- und Album-Adaptionen

Da es sich bei den von den Lehrkräften ausgewählten Erzählungen in erster Linie um Märchentexte, in zweiter um Albums pour enfants handelt, wird die Recherche des Potenzials mündlich-fiktionalen Erzählens im Hinblick auf diese literarischen Genres, schwerpunktmäßig auf das Genre Märchen, fortgesetzt. Dies geschieht unter drei Gesichtspunkten: dem prototypischen Charakter des Märchens, seiner Markierung durch das Mündlichkeitsprinzip (Kap. 3.5.3) und der Frage seiner Zugehörigkeit zum System der Literatur.

Als Prototyp des Narrativen1 wird das Märchen wegen seiner „noch relativen Nähe zur Urform des mündlichen Erzählens“ (Wolf 2002a: 36, Lange 2007b: 23-25) und wegen seines Bekanntheitsgrades, seiner Kürze und seiner Überschaubarkeit (Wolf 2002a: 44) gesetzt. Die Nähe zur ‚Urform‘, d.h. der primären Mündlichkeit, ist an den noch in der schriftlichen Verfasstheit identifizierbaren strukturbildenden Elementen (Kap. 3.5.3) erkennbar. Dazu gehören das Erzählen in Mustern bzw. Handlungsstereotypen wie Auszug, Entfernung, Vertreibung, Bewährung, Rückkehr des Helden2, ferner die Dominanz der Handlung, die additive Gestaltung des Erzählflusses, die Dialogisierung, das Formelhafte des Diskurses sowie das Prinzip der Wiederholung (Koch / Oesterreicher 1985: 30, Ong 1987: 30ff., 42ff. ). Diese strukturellen Merkmale bilden das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolff 2002a: 46). Weitere märchenspezifische Struktur- und Stilelemente tragen zur Einheitsbildung des Genres bei und charakterisieren wesentlich den vom Märchen angebotenen pacte de fiction. Dazu gehören u.a. das Wunderbare, das in der eindimensional gehaltenen Märchenwelt „nicht fragwürdiger [ist] als das Alltägliche“ (Lüthi 2005: 11), die flächenhafte, auf binären Oppositionen beruhende Figurengestaltung, die märchenspezifische Topografie, die märchenspezifischen Requisiten und Symbolzahlen (Lüthi 2005: 8-12, 13-24).

Die Nähe zur Mündlichkeit wird in der kinderliterarischen Forschung als ein wesentliches Merkmal der Kinder- und Jugendliteratur bezeichnet.

[Die Kinderliteratur] hat sich bemüht, eine gewisse Nähe zur Mündlichkeit zu wahren; ja, sie erscheint streckenweise als eine schriftliterarische Imitation mündlicher Rede […]. Mit Blick auf die neueren Epochen darf man in dieser Nähe zur Mündlichkeit wohl das auffälligste stilistische Merkmal kinderliterarischer Texte sehen. (Ewers 2000b: 263)

Die starke Markierung durch das Mündlichkeitsprinzip teilen die Genres des Märchens und des Album mit der Kinder- und Jugendliteratur. Während sich das Album eindeutig der Kinder- und Jugendliteratur zuweisen lässt, ist die Zugehörigkeit des Märchens zur Kinder- und Jugendliteratur umstritten.

Je nach kulturellen Traditionen, denen das Märchen entstammt, je nach literarhistorischen Gegebenheiten, nach literarischen Moden oder Einflüssen des Marktes, je nach medialen oder anderen Bearbeitungen des Märchens (Ewers 1990: 20, Neuhaus 2005: 3ff.) ist ein Erwachsenen- oder ein Kinder- / Jugendpublikum anvisiert bzw. wird es von der jeweiligen Gruppe als Märchen für Erwachsene oder als Märchen für Kinder / Jugendliche wahrgenommen. Weiterführend im Kontext meiner Studie sind die Kriterien zur Bestimmung der Kinder- und Jugendliteratur, die O’Sullivans kinderliterarische Komparatistik auf systemischer Ebene liefert. O‘Sullivan weist die Kinder- und Jugendliteratur als ein relativ selbstständiges Subsystem des literarischen Systems aus, „das über ein eigenes literarisches Handlungssystem von Hervorbringung, Vertrieb und Rezeption verfügt, welches sich von der Allgemeinliteratur abgrenzt […].“ (O’Sullivan 2000: 110). Drei Leitcharakteristika arbeitet O’Sullivan zur Abgrenzung der Systeme heraus: die Zuweisung kinderliterarischer Texte zum Subsystem durch institutionelle Vermittlungsinstanzen, die Doppelzugehörigkeit der Texte zu zwei Systemen, dem pädagogischen und dem literarischen, und die Asymmetrie der Kommunikation zwischen erwachsenem Autor und jugendlichem Leser (a.a.O.: 111). Die Zugehörigkeit der Kinderliteratur zu beiden Systemen macht diese Literatur für den Einsatz im Unterricht besonders geeignet, weil die Wirkungsabsichten beider Systeme, die pädagogische und die ästhetische, gemeinsam zur Realisierung unterrichtlicher Zielsetzungen genutzt werden können. Die institutionelle Zuteilung durch außenstehende Vermittler spielt im Kontext des mündlichen Erzählens eine untergeordnete Rolle. Von großer Relevanz ist die asymmetrische Kommunikation. O’Sullivan und andere Forscher der Kinder- und Jugendliteratur setzen an diesem Phänomen an, um zu zeigen, wie das Asymmetrieverhältnis der systemischen Ebene auf textin­ter­ner Ebene ästhetisch gelöst wird3. Im ‚Schreiben auf Augenhöhe‘ wird versucht, die kommunikative Distanz zwischen den ungleichen Partnern zu überwinden. Mittel der Überwindung sind die innertextuelle Adressierung4 und der Einsatz poetischer Mittel, mit denen der (jugendliche) implizite Leser auf Augenhöhe angesprochen wird. Eine andere Variante der Ansprache der Adressatinnen und Adressaten ist die der Doppeladressierung, bei der Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen als Adressatinnen und Adressaten in den Text eingeschrieben sind5. Dazu werden Vertextungsmittel eingesetzt, die unterschiedliche Lesarten erlauben, z.B. eine Lesart auf der Handlungsebene (für die kindliche Leserschaft) und eine auf der tieferen Bedeutungsebene (für die Erwachsenen). Auf diese Weise werden für alle Adressatinnen und Adressaten ästhetische Angebote bereitgehalten, die die realen Leserinnen und Leser je nach Interesse und literarischer Kompetenz wahrnehmen.

Die meisten, einem breiten Publikum bekannten europäischen Volksmärchen in der Fassung ihrer Sammlerinnen und Sammler des 19. Jahrhunderts werden heute als Texte der Kinder- und Jugendliteratur gelesen, wenn sie nicht in einer besonderen textuellen oder medialen Bearbeitung, z.B. als Comic oder Musical, vorliegen. Dasselbe gilt für das Genre Album. Deshalb kann das Erzählen von Märchen oder von Zaubergeschichten ein kommunikatives Problem zwischen Erzählenden und einem – zumindest im Unterricht der Sekundarstufe I – nicht mehr kinderliterarischen Publikum darstellen. Die empirische Untersuchung der Erzählstunden wird herausarbeiten, ob und mit welchen Mitteln eine Kommunikation auf Augenhöhe zustande kommt.