Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht

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2 Gesamtkonzeption der Studie

In diesem Kapitel wird die Gesamtkonzeption der Studie präsentiert und die Komplexität des Forschungsvorhabens erläutert. Informationen über die Ausgangssituation und deren Konsequenzen für das Forschungsprojekt (Kap. 2.1.1) eröffnen das Kapitel. Es folgt die Darlegung des Themas, der Zielsetzungen der Studie und der Forschungsdesiderata (Kap. 2.1.2). Anschließend werden die Forschungsfragen entwickelt und aufgelistet (Kap. 2.1.3). Kapitel 2.2 stellt die forschungstheoretische und -methodologische Rahmung der Studie vor. Die Forschungsentscheidungen (Kap. 2.2.2) werden begründet, die Grundlagen der theoretischen und empirischen Forschungsarbeit (Kap. 2.2.3) und die angewandten Forschungsverfahren (Kap. 2.3) werden vorgestellt. Kapitel 2.4 legt Überlegungen zu Chancen und Herausforderungen der Komplexität des Forschungsvorhabens dar. Es folgt die Präsentation von empirischen Studien aus dem Gebiet der Spracherwerbsforschung und der Fremdsprachendidaktik, die wichtige Impulse zur Konzeption der Studie geben konnten (Kap. 2.5). Abschließend werden der Verlauf der Studie und der Gesamtaufbau des Dissertationstextes (Kap. 2.6) dargestellt.

2.1 Forschungsgegenstand und Forschungsziele

Die in der Einleitung (Kap. 1) skizzierten Entscheidungen für ein Forschungsvorhaben zum mündlichen Erzählen werden im Folgenden präzisiert und in den Planungs- und Forschungszusammenhang gestellt.

2.1.1 Die Ausgangssituation und ihre Folgen für das Forschungsprojekt

Am Anfang des Forschungsprojekts standen, wie bereits ausgeführt, zum einen die Begegnung mit der Erzählerin Marie-Célie Agnant, zum anderen meine Tätigkeit als Leiterin und Dozentin von zwei aufeinander folgenden berufsbegleitenden Weiterbildungsstudiengängen Französisch für Lehrkräfte der Berliner Schule von 2004-2007 und 2005- 2008. Diese Situation bot die Chance eines direkten Zugangs zum Forschungsfeld Schule, denn die Weiterbildungsstudie­renden waren während ihres Studiums weiterhin als Lehrkräfte tätig. Der Französischunterricht ihrer Lerngruppen bot sich den Weiterbildungsstudie­renden als Experimentierfeld für Erzählprojekte an, für mich als Beobachterin der Erzählprojekte konnte er zum Forschungsfeld meiner Studie werden.

Die Weiterbildungssituation bot weitere Vorteile. Sie eröffnete Möglichkeiten, Forschung und Lehrkräftebildung sowie Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen. Diese Verbindung konnte über das Erzählen als Gegenstand fachwissenschaftlicher Forschung und als Gegenstand und Kompetenzziel des Fremdsprachenunterrichts hergestellt werden – ganz im Sinne einer Transformation fachwissenschaftlicher Inhalte in fachdidaktische und unterrichtspraktische Fragestellungen, wie sie Steinbrügge als Aufgabe universitärer fachdidaktischer Lehre einfordert: als einen „Versuch, die Wissensbestände der Disziplin für die Schule nicht didaktisch zu reduzieren, sondern zu transformieren“ (Steinbrügge 2008: 17). Dies kann realisiert werden anhand von „Inhalten, die sich an schulische Lernziele und zu vermittelnde Kompetenzen anbinden lassen“ (Steinbrügge 2008: 18). Auf diesem Wege konnten die Studierenden einerseits am Forschungsprozess der Forscherin partizipieren und andererseits forschendes Lernen praktisch erproben.

Diese für beide Seiten profitable Situation birgt jedoch auch Gefahren für den Forschungskontext in sich. In actu kann sich eine Vermischung der Arbeitsgebiete, der Verantwortlichkeiten und der Interessen der am Forschungsprozess Beteiligten ergeben. Diese Situation zu meistern wird sich mir als forschungsethische und -methodische Aufgabe stellen. Die von mir zur Lösung des Problems eingesetzten Strategien werde ich im Zusammenhang mit den Erläuterungen zum Weiterbildungs- und Forschungskontext (Kap. 2.2 und Kap. 8.1) vorstellen.

Die Weiterbildungssituation trug einen weiteren problematischen Aspekt in sich. Ich musste mich sofort entscheiden und mit der Projektplanung beginnen, denn die Weiterbildungsstudiengänge waren zeitlich begrenzt. Ich entschloss mich, den ersten Weiterbildungskurs (2004-2007) für ein Pilotprojekt zu nutzen. Die Rahmenbedingungen dieses ersten Studiengangs erwiesen sich jedoch nicht als durchweg projektförderlich. Das Fehlen eines unterrichtspraktischen und fachdidaktischen Lernbereichs in der Studienordnung und die hohe Arbeitsbelastung der studierenden Lehrkräfte brachten es mit sich, dass ein kontinuierliches, verlässliches und motiviertes Arbeiten nur teilweise zu realisieren war. Diese und andere Voraussetzungen, u.a. meine zum damaligen Zeitpunkt noch nicht weit entwickelten Vorstellungen von einem systematischen Umgang mit empirischen Daten, waren verantwortlich dafür, dass ich aus dem Pilotprojekt zwar Ideen zur Ausarbeitung einer Studie entwickeln und die ‚Stolpersteine‘ des partizipatorischen Ansatzes absehen konnte, aber nicht genügend Möglichkeiten zur Erprobung der Datenerhebung und -auswertung hatte. Die Lehrkräfte setzten sich intensiv mit dem narrativen Ansatz der Fachdidaktik und der Erzählpädagogik, insbesondere mit den Videoaufnahmen der von Marie-Célie Agnant gehaltenen Erzählstunden und der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie auseinander. Sie waren jedoch lediglich bereit, Unterrichtsstunden zu entwerfen und zu diskutieren, nicht aber sie durchzuführen. Auch wollten sie keine Videoaufnahmen ihres eigenen Erzählens zulassen. Aus dem Pilotprojekt ergab sich als erste Konsequenz eine Veränderung des Studienplans (Kap. 8.1.1) und des von mir verantworteten Lernbereichs, was ein höheres Maß an Verbindlichkeit erbrachte. Als zweite Konsequenz für den Forschungskontext wurden bereits im Vorfeld Verantwortlichkeiten geklärt und Verabredungen getroffen (Kap. 8.1.2).

Die Entscheidung für das Projekt war getroffen. Einen weiteren, wesentlichen Faktor hatte ich jedoch übersehen. Ich hatte keinen Einfluss auf den Zeitpunkt der Datenerhebung. Die Erzählprojekte waren zu Beginn des Studiengangs im Kontext der vorgesehenen Lehrveranstaltungen durchzuführen. Es blieb keine Zeit für meine eigene intensive Auseinandersetzung mit den neueren, von mir zur Lektüre vorgesehenen wissenschaftlichen Ansätzen. Bei Durchsicht des Materials wurde mir klar, dass ich den performativen Aspekt der in den Erzählprojekten vorgeführten narrativen Aktivitäten nicht ohne eingehendes Studium des Performativen, seiner Theorie und seiner Analyseinstrumente analysieren konnte. Weitere Theoriearbeit war notwendig. Aus den genannten Gründen ergibt sich als dritte Konsequenz der Ausgangslage ein spiralförmiger Verlauf des Forschungsprozesses, in dem Phasen der Feldbeobachtung, der Datenerhebung, der Theoriebildung und der Datenauswertung aufeinander folgen und sich auseinander ergeben. Auf dieselbe Weise veränderten sich Zielsetzungen und Gesamtkonzeption der Studie. Deren endgültige Fassung wird im Folgenden dargestellt.

2.1.2 Thema, Zielsetzungen und Desiderata

Das Thema meiner Arbeit umfasst

1 die Erkundung einer spezifischen Form des Erzählens – des mündlichen Erzählens als Performance,

2 die Verwendung dieser sprachlich-ästhetischen Ausdrucksform im Fremdsprachenunterricht,

3 die Weiterbildungssituation als Arbeits- und Forschungskontext der Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer und der Forscherin.

Ziel der Arbeit ist es, die Potenziale des mündlichen Erzählens als Performance für die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht zu erforschen und damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Fremdsprachenunterrichts und der Lehrerbildung zu leisten. Als Arbeitshypothese dieses Vorhabens diente mir von Beginn an die Mehrdimensionalität der Diskursform Erzählen (Kap. 1).

Als ich nach erster Durchsicht meines empirischen Materials feststellte, dass die mir zur Verfügung stehenden Analyseinstrumente keinesfalls ausreichten (Kap. 2.1.1), suchte ich zunächst in der fachdidaktischen und literaturwissenschaftlichen Fachliteratur nach Modellen, Konzepten und Instrumenten, mit denen die Mehrdimensionalität mündlichen Erzählens zu fassen sein könnte. Die entscheidenden Anregungen fand ich nicht in der Fachdidaktik, sondern in der interdisziplinären Erzählforschung (Nünning / Nünning 2002c), der intermedialen Erzähltheorie (Wolf 2002a) und der Performancetheorie (Fischer-Lichte 2004). Diese Ansätze trugen dazu bei, dass ich mehrere Dimensionen des Forschungsgegenstandes entdecken und aufeinander beziehen konnte. Dazu gehörten in erster Linie die Dimension des in Mündlichkeit sich realisie­renden Narrativen und die Dimension des performativ-ästhetischen Handelns.

Da die genannten Ansätze jeweils auf eine mehrdimensionale Konzeptualisierung ihres Forschungsgegenstandes ausgerichtet sind, konnte ich mit ihrer Hilfe drei weitere Dimensionen des Erzählens erfassen:

 die Dimension der werkinternen Komponenten und charakteristischen Merkmale des Narrativen und des Performativen,

 die Dimension ihrer Realisierung in unterschiedlichen Vermittlungsformen, z.B. als mündliches oder schriftliches verbales Erzählen und als Performance sowie

 ihre funktionale Dimension, z.B. Sinn und Bedeutung zu schaffen, zu unterhalten, zu bilden – Funktionen, die in unterschiedlichen Anwendungsfeldern auf unterschiedliche Weise realisiert werden.

Damit eröffneten sie meiner Forschung die Möglichkeit, den Forschungsgegenstand in zwei große, übergreifende Dimensionen zu gliedern: in eine werkseitige Dimension, die das Narrative und das Performative mit den werkinternen Komponenten und Vermittlungsformen erfasst, und in eine werkexterne Dimension, die unterschiedliche Anwendungsmodi in unterschiedlichen Praxisfeldern erfasst.

 

Die Aufgliederung der werkexternen Dimension habe ich unter Zuhilfenahme der die Praxis des Erzählens erforschenden Fachliteratur (Kap. 2.2.2) vorgenommen. Daraus ergeben sich zwei für das mündliche Erzählen als Performance im Fremdsprachenunterricht relevante werkexterne Dimensionen: die Dimension der gesellschaftlich-kulturellen, erzähldidaktischen und ästhetischen Praxis und die Dimension einer fremdsprachendidaktischen Perspektive auf das mündliche Erzählen.

Meine Recherche nach Möglichkeiten der mehrdimensionalen Modellierung mündlichen Erzählens als Performance führte demzufolge zu vier Dimensionen, die sich den zwei großen Dimensionen – der werkseitigen und der werkexternen Dimension ‒ zuordnen lassen. Dies illustriert die folgende Grafik:

Abb. 1:

Die Dimensionen mündlichen Erzählens als Performance

Diese Dimensionen werde ich auf ihre Potenziale für den Fremdsprachenunterricht befragen, auf dieser Grundlage Strukturierungs- und Analysemodelle entwickeln und diese auf die unterrichtliche Praxis anwenden. Aus den Ergebnissen der theoretischen Arbeit und der empirischen Analyse werde ich praxisrelevante Konzepte zur Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht erarbeiten.

Für den Fremdsprachenunterricht sind Zielsetzungen und Ergebnisse des Forschungsvorhabens insofern relevant, als mit ihrer Hilfe Desiderata fremdsprachendidaktischer Forschung aufgearbeitet werden können. Dies aus folgenden Gründen:

1 Die Diskursform mündliches Erzählen wird in der Fremdsprachenforschung vornehmlich als eine Form monologischen oder interaktiven Sprechens erforscht und erfüllt somit überwiegend dienende Funktion im Hinblick auf die Kompetenz Sprechen (s. Sambanis 2007: 218-227, Diehr / Frisch 2008: 136-115, Grum 2010: 326-354). Ihren Eigenwert darzustellen ist insofern eine lohnende Aufgabe, als damit Impulse für die fachdidaktische Diskussion um den Einsatz der Diskursform Erzählen als Kompetenzziel (Bredella 2007, 2012b, Nünning / Nünning 2007, 2010, Hallet 2007) und als Unterrichtsprinzip (Bleyhl 2002b, Muller 2004, Bergfelder-Boos 2007, Mertens 2007, Bredella 2012a, 2012b) – nicht nur für die Grundschule1 – gegeben werden können.

2 Bisher wurde noch nicht der Versuch unternommen, mithilfe eines interdisziplinären Ansatzes das Potenzial der narrativen Diskursform und des performativen Gestaltens einerseits und die werkexternen Anwendungspotenziale andererseits für den Fremdsprachenunterricht auszuloten und diese Zusammenhänge anhand konkreter unterrichtlicher Aktivitäten zu beobachten. Gleichwohl ist ein solches Vorhaben für die fremdsprachendidaktische Diskussion um den Einsatz der Diskursform von Interesse, denn es erweitert Ziele und Unterrichtsprinzipien um bisher nicht erforschte Dimensionen und stellt Instrumente zu deren Analyse bereit.

3 Die Verknüpfung des Erzählens mit dem Performativen ist darüber hinaus interessant für die fremdsprachendidaktische Diskussion um den Stellenwert literarischen Lernens im Fremdsprachenunterricht (Burwitz-Melzer 2005, Bergfelder 2007, Bredella 2007, 2012b, Küster 2014, Steinbrügge 2015, 2016), denn damit wird die Diskussion um eine bisher weniger beachtete Dimension literarischen Lernens – die ästhetische Kommunikation im Medium der Mündlichkeit – erweitert. Diesem Desidarat werde ich im Kontext der vor allem von Hallet und Schewe eröffneten Debatte um den performativen Fremdsprachenunterricht nachgehen (Hallet 2010c, Surkamp / Hallet 2015, Schewe 2011, 2015, Kap. 11.3.1 der Studie).

4 Die Ergebnisse der Studie können einen Beitrag zur Theoriebildung für den o. g. performativen Fremdsprachenunterricht leisten, denn der Ansatz verfügt noch nicht über ein konsistentes erzähl- und performancetheoretisches Modell. Auch kann sie einen ersten Beitrag zum Auffüllen eines von Bonnet und Küppers (2011: 41-45) im Hinblick auf die Dramenpädagogik erwähntes, auf das performative Erzählen übertragbares Desiderat leisten:

Aufgrund der Komplexität des Forschungsgegenstandes liegen bisher kaum Studien vor, die die Wirkungsweise der DP [Dramenpädagogik, Einfügung durch Verf.] im Hinblick auf den Lernzuwachs im Fremdsprachenunterricht systematisch ergründen und damit vorliegende Konzepte empirisch fundieren. (Bonnet / Küppers 2011: 43)

Darüber hinaus können die in meiner Studie entwickelten Erzähl- und Analysekonzepte einen Beitrag für eine theoriebasierte Erzählpraxis, die Becker / Wieler (2013b: 7f. und Kap. 2.5, Kap. 13 der Studie) für den Erstspracherwerb einfordern, für den Fremdsprachenunterricht leisten. Dies gilt insbesondere für den Zusammenhang von Rezeption und Produktion performativer Genres.

2.1.3 Forschungsfragen

Die fremdsprachendidaktische Perspektive gibt den Anstoß für die Richtung (Schumann / Steinbrügge 2008b: 8), in die die Forschungsfragen gehen. Deshalb habe ich aus den ersten beiden Aspekten des Themas und den Zielsetzungen des Forschungsprojekts folgende leitende Forschungsfrage entwickelt:

Worin besteht das Potenzial des mündlichen Erzählens als Performance und wie kann es zur Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht genutzt werden?

Die übergeordnete Forschungsfrage wird in folgende Leitfragen aufgefächert:

1 Welche Potenziale bietet die Diskursform des mündlichen Erzählens für ihren Einsatz im Fremdsprachenunterricht?

2 Welche Potenziale bietet das mündliche Erzählen als Performance?

3 Welche Potenziale bietet das mündliche Erzählen aus kultureller, entwicklungspsychologischer, erzähldidaktischer und ästhetischer Praxis und aus fachdidaktischer Perspektive?

4 Wie werden die Potenziale des mündlichen Erzählens als Performance in den Erzählstunden sichtbar? Mit welchen Mitteln werden sie realisiert?

5 Welche Erfahrungen konnten Lehrende und Lernende in den Erzählstunden machen und wie beurteilen sie sie? Welche Erkenntnisse konnten sie aus den Erzählstunden gewinnen?

6 Welche Potenziale mündlichen Erzählens als Performance entdecken Lehrende und Lernende in den Erzählstunden?

7 Unter welchen Bedingungen konnten die Potenziale mündlichen Erzählens als Performance für die Entwicklung narrativer Diskurse in den Erzählstunden genutzt werden? Welche Rolle spielt die Weiterbildungssituation?

8 Welchen Beitrag kann das mündliche Erzählen als Performance für die Weiterentwicklung narrativer und performativer Kompetenzziele und Prinzipien des kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts leisten?

Unter den Leitfragen 1-3 werden die charakteristischen Merkmale des mündlichen Erzählens und der performativen Gestaltung aus werkseitiger und werkexterner Perspektive herausgearbeitet, unter den Leitfragen 4-6 wird das empirische Material der Studie untersucht. Unter Fragestellung 4 werden die Erzählstunden analysiert, unter Fragestellung 5 und 6 die Stellungnahmen der Lehrenden und Lernenden zu den gemeinsam gestalteten und erlebten Erzählstunden. Unter Fragestellung 7 werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung ausgewertet und auf die Weiterbildungssituation bezogen. Fragestellung 8 gibt einen Ausblick auf Nutzungs- und Erweiterungsmöglichkeiten der Studie.

2.2 Forschungstheoretische und -methodologische Rahmung

Im folgenden Kapitel werden die zur Erarbeitung des Forschungsgegenstandes und zur Realisierung seiner Ziele getroffenen forschungsmethodologischen und -methodischen Entscheidungen dargelegt und vor dem Hintergrund der Mehrdimensionalität des Forschungsgegenstandes und der mehrperspektivischen Forschungsfragen diskutiert.

2.2.1 Verortung des Vorhabens im fremdsprachendidaktischen Forschungsfeld

Folgt man der von Grünewald / Küster vorgeschlagenen, auf dem Didaktischen Dreieck (Decke-Cornill / Küster 2010: 3, Klippel 2016a: 26) beruhenden Dreigliederung1 der Forschungsfelder (Grünewald / Küster 2009: 76), so ist das Thema der Studie im Feld der Lerngegenstände und im Feld der Prozesse und Ergebnisse des Lehrens und Lernens vertreten. In der von Caspari 2016a vorgenommenen Einteilung2 in Forschungsfelder ist die Studie in vier Feldern anzusiedeln, und zwar

1 im Feld der Lernforschung, denn sie „untersucht die komplexen Voraussetzungen, Prozesse und Ergebnisse individuellen und kooperativen Sprachenlernens unter […] gesteuerten Bedingungen.“ (Caspari 2016a: 15),

2 im Feld der Konzeptforschung, denn sie zielt auf die „Entwicklung und systematische Analyse umfassender Konzepte und tragender Konstrukte der Fremdsprachendidaktik“ (a.a.O.),

3 in Teilen im Feld der Kompetenzforschung, denn die Studie leistet mit der Entwicklung eines mehrdimensionalen Modells zur Analyse von Narrativierungsleistungen einen Beitrag zur Modellierung von Erzählfähigkeit,

4 in Teilen auch der Lehr- und Professionsforschung, denn sie geht auch Fragen der Weiterbildung nach.

2.2.2 Forschungsentscheidungen der Gesamtstudie

Eine wichtige, die weiteren Forschungsentscheidungen leitende Frage betrifft das Verhältnis von Theorie und Praxis im Forschungsdesign (Caspari 2011, 2016d). Die Frage bezieht sich auf den Ausgangspunkt der Forschung, die Ziele, die Forschungsverfahren und die Rolle der Praxis in der Theoriebildung:

Geht man von bereits vorliegenden Theorien, d.h. von elaborierten Theorien, Modellen oder Konzepten (zur Unterscheidung vgl. Kron 1999: 77-78), auch aus anderen Disziplinen, aus oder ist die beobachtbare bzw. erlebte Praxis der Ausgangspunkt? Danach ist zu entscheiden, welches Ziel mit der Forschungsarbeit verfolgt wird: Möchte man primär einen Beitrag zur Theoriebildung oder primär einen Beitrag für die Praxis leisten? In Abhängigkeit von Ausgangspunkt und Zielsetzung der Forschungsarbeit sind unterschiedliche Forschungszugänge und -designs geeignet. (Caspari 2016d: 366)

Was den Ausgangspunkt der Forschung betrifft, so besteht das primäre Ziel meiner Studie in der Weiterentwicklung unterrichtlicher Praxis und der fremdsprachlichen Lehrkräftebildung (Kap. 2.1). Mein Interesse richtet sich vor allem auf die Einbeziehung ästhetischer Praxis in den Fremdsprachenunterricht. Für diese Zielsetzung möchte ich für das mündliche Erzählen als Performance Modelle und Konzepte für die Unterrichtspraxis erarbeiten. In den von Caspari (2016d: 364-369) entwickelten fünf Grundtypen des Theorie-Praxis-Bezugs ordnet sich das Projekt damit in Typ 3 ein. Berücksichtigt man bei der Klärung des Theorie-Praxis-Bezugs meines Forschungsprojekts auch die Rolle der Weiterbildung und die Anteile von Aktionsforschung (Kap. 2.2.3), so ergibt sich eine Mischung von Typ 3 und Typ 5:

Besteht das Ziel der Forschung in der systematischen und überprüfbaren Veränderung konkreter Praxissituationen, so eignet sich Typ 5. Ausgehend von der Analyse dieser Praxis werden theoriegeleitete Handlungsmöglichkeiten erarbeitet und systematisch erprobt. (Caspari 2016d: 368)

Der Theorie-Praxis-Bezug der Studie und ihre auf die Erkundung des Potenzials einer Diskursform und die Entwicklung von Modellen und Konzepten ausgerichteten Forschungsziele führen zu einer Verortung des Vorhabens in der theo­retischen Forschungstradition:

Theoretische Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie bemüht ist, den Gegenstandsbereich Lehren und Lernen von Fremdsprachen und seine verschiedenen Teilbereiche zu bestimmen, zu systematisieren, Konzepte zu entwickeln bzw. diese einer kritischen Reflexion zu unterziehen und / oder angesichts […] neuerer Forschungsergebnisse weiter zu entwickeln. Theoretische Forschung ordnet empirische Befunde, systematisiert Phänomene des Gegenstandsbereichs, entwirft handlungsleitende Modelle und erörtert deren Grenzen und Reichweite. (Legutke 2016a: 39)

Die zu ordnenden und zu systematisierenden Befunde empirischer Forschung werden allerdings nicht nur aus vorhandenen empirischen Ergebnissen, sondern auch aus eigens für den Zweck der Potenzialrecherche erhobenen Daten gewonnen und in einer empirischen Studie dargestellt und ausgewertet. Die Empirie dient in dieser Konzeption des Forschungsvorhabens

1 der Überprüfung der Ergebnisse der Potenzialrecherche und der erarbeiteten Modelle und ggf. ihrer Überarbeitung (Kap. 9.4),

 

2 der Konkretisierung und Erweiterung der Potenzialrecherche, denn erst die Analyse der Unterrichtspraxis wird den spezifischen Gebrauch der Potenziale zeigen (Kap. 9.4, 10.5),

3 der Entwicklung eines Erzählkonzepts für den Fremdsprachenunterricht (Kap. 11.3).

Als ‚Auslöser‘ und Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens ist die Empirie der theoretischen Forschung zeitlich vorgelagert. Sie ist außerdem ständiger Begleiter und Fundament der theoretischen Arbeit, denn diese greift bei der Arbeit an den Modellen laufend auf das empirische Material zurück und das empirische Material löst bei erneuter Lektüre weitere Fragen aus, die auf theoretischer Ebene geklärt werden. Da die Ergebnisse der Praxis in Verbindung mit den Erkenntnissen der theoretischen Forschung zu einem theoriebasierten Unterrichtskonzept führen, ist die Praxis auch an der Theoriebildung beteiligt (Caspari 2016b: 70).

Beide Teile der Studie sind verbunden durch ein gemeinsames Sprach- und Kommunikationskonzept.

Das Sprach- und Kommunikationskonzept

Die mehrdimensionale Potenzialrecherche verlangt nach einem komplexen Sprach- und Kommunikationskonzept, das die kommunikativen Aktivitäten von Lehrenden und Lernenden nicht nur unter kognitiven, sondern auch emotionalen und körperlichen Aspekten erfasst (Hu 2001: 21ff.) und sowohl verbale als auch non-verbale Zeichen als Bestandteil der narrativen Interaktion begreift. Dazu gehören u.a. der Ausdruck von Gefühlen, das Aufnehmen, Verweigern und Beenden von Kontakten, dazu gehören die Mittel der Kommunikation wie z.B. Prosodie, Gestik, Mimik, Bewegung, Rhythmus. Auf der Basis eines solchen Sprach- und Kommunikationskonzepts kann ich die beim mündlichen Erzählen als Performance eingesetzten Kommunikationsmittel in ihrer semiotischen Vielfalt in den Blick nehmen und nicht nur die referenzielle Funktion von Sprache, sondern auch ihre expressive, phatische und poetische Funktion berücksichtigen.

Die Grundlagen der theoretischen Forschungsarbeit

Die Zusammenstellung der Texte und Dokumente (Legutke 2016b: 61-66) für die theoretische Forschungsarbeit erfolgt unter mehrperspektivischen und interdisziplinären Gesichtspunkten. Es werden unterschiedliche Arten von Texten und Dokumenten aus unterschiedlichen Wissensbereichen so ausgewählt, dass die Potenzialrecherche der Komplexität des o. g. Sprach- und Kommunika­tions­konzepts gerecht werden kann.

Zur Exploration der Perspektive der Erzählpraktikerinnen und -praktiker werden zwei populärwissenschaftliche Texte (Jean 1990, Rodari 1979) und zwei Dokumente herangezogen – ein Filmdokument, das die Erzählerin Marie-Célie Agnant beim Erzählen mit Berliner Schülerinnen und Schülern (Agnant 2006a, 2006b) zeigt, und ein Interview mit der Erzählerin (Agnant / Bergfelder-Boos 2006). Die Texte und Dokumente liefern Anschauungsmaterial für den kreativen, ‚handwerklichen‘ Aspekt professionellen Erzählens und für die Realisierung der phatischen, expressiven und poetischen Funktion der Sprache.

Zur Exploration der Potenziale des Forschungsgegenstandes werden wissenschaftliche Texte unterschiedlicher Disziplinen herangezogen:

 zur Erkundung der werkinternen Potenziale Texte der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung (Fludernik 2010, Martínez 2011b, Nünning 2004d, Reuter 1991, Wolf 2002a, 2004), der sprachwissenschaftlichen Erzählforschung (Ehlich 2007), der Theaterwissenschaft (Fischer-Lichte 2005a-e, 2007, 2009) und der Theaterpädagogik (Schewe 2011, 2015, Wardetzky 2007),

 zur Erkundung der werkexternen Potenziale Texte der Kulturwissenschaft (Bruner 1997, Straub 1998), der Erzählerwerbsforschung und der Erzähldidaktik (Boueke et al. 1995, Becker / Wieler 2013a, Ohlhus 2013, Stude 2013) und der Fremdsprachendidaktik (Bleyhl 2002b, Nünning / Nünning 2007, 2010, Bredella 2012b).

Unterschiedlich sind auch die Forschungsschwerpunkte1. Mit ihrer Hilfe können verschiedene Komponenten des Forschungsgegenstandes erkundet werden:

 die Medialität des Narrativen mithilfe intermedialer Forschungsansätze (Wolf 2002a, 2004, Rajewsky 2002),

 das Mündlichkeitsprinzip mithilfe der Oralitätsforschung (Koch-Oesterreicher 1985, Ong 1987, Nänny 1988, Raible 1988a, 1988b, Müller-Oberhäuser 2004a, 2004b),

 das Performative mithilfe der Performancetheorie (Fischer-Lichte 2004),

 der interaktive Aspekt mithilfe gesprächstheoretischer Ansätze (Hausendorf /Quasthoff 1996, Gühlich / Hausendorf 2000; Quasthoff 2001, 2012),

 die prosodische Gestaltung mithilfe der Phonologie (Pompino-Marschall 2003, 2010a, Sokoll 2001, Bußmann 2008, Glück 2010, Hall 2011),

 das Literarische mithilfe der Fiktionalitätsforschung (Hempfer 2002a, 2002b, Kablitz 2008), der Märchenforschung (Lüthi 2005, Lange 2007b, Perrot 2004) und der kinderliterarischen Forschung (Lypp 1984, Ewers 1990, 1991a, 1991b, 2000a, 2000b, O’Sullivan 2000).

Die interdisziplinäre und mehrperspektivische Textauswahl verhindert eine Fokussierung auf den referenziellen Aspekt von Sprache. Der gesprächstheoretische Ansatz erschließt die phatische, der theatersemiotische die expressive und poetische Funktion von Sprache.

So unterschiedlich wie die Forschungsschwerpunkte sind auch die Forschungsparadigmen der ausgewählten Texte, denn es werden auch empirische Studien herangezogen, die Impulse für die Erkundung des Potenzials der narrativen Diskursform und ihrer Entwicklung im Sprachunterricht geben (Kap. 2.5).

Die Textsammlung wird durch den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001, im Folgenden GeR) ergänzt. Dessen Kompetenzbeschreibungen dienen mir zur Situierung der narrativen Diskursform in den Bereichen rezeptiver und produktiver sprachlicher Aktivitäten und pragmatischer Kompetenzen.

Die Gelenkstelle zur empirischen Forschung übernimmt ein Erzähltext (Gougaud 1999b), der von den Projektteilnehmerinnen und -teilnehmern zur Gestaltung ihrer Erzählperformances genutzt wird. Er wird als prototypischer Erzähltext mithilfe der erarbeiteten Analyseinstrumente zu Beginn des empirischen Teils der Studie vorgestellt (Kap. 9.1) und dient mir im Laufe der theoretischen Arbeit als Instrument der Veranschaulichung und der Orientierung.

Die Grundlagen der empirischen Forschungsarbeit

Die Grundlagen der empirischen Forschung bilden halboffizielle Dokumente, die im Rahmen der Projektarbeit und der Weiterbildung entstanden sind, und Daten, die in diesem Rahmen erhoben wurden (s. die Datengewinnung in Kap. 2.3.1). Dazu gehören:

 halboffizielle Dokumente wie die Arbeitsdossiers der Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer sowie unterrichtsbezogene Produkte,

 qualitative, diskursive Daten wie die in Projektarbeit entstandenen Erzählstunden und die Stellungnahmen der Akteure der Erzählstunden.

Diese Dokumente liefern mir Anschauungsmaterial für den werkexternen Gebrauch der narrativen Diskursform im anvisierten Zielfeld.