Salzgras & Lavendel

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Douglas ist auf dem Damm unterwegs, der Suburbia umgibt. Innerhalb des Dammes – oder des Grenzwalles, wie Douglas ihn auch nennt – liegt das gelobte Land. Terra cognita. Alles ist bekannt, selbst die letzte dunkle Gasse im Getto. Es ist nicht alles schön, aber erforscht. Das gibt Douglas die Sicherheit, die er braucht. Außerhalb herrscht Wildnis. Da sind zwar die bewirtschafteten Felder, aber die sind letztlich nur ein Versuch der Menschen, der Natur habhaft zu werden, sie zu normieren und der Effizienz zu unterwerfen.

Douglas bremst sanft ab und lässt das Rad ausrollen. Warum nur scheut er sich so vor der Weite? Und warum zieht es ihn trotz dieser Furcht immer wieder auf den Damm? Er steigt ab, stellt das Rad ordentlich ab und bleibt am Rande des Weges stehen, die Arme in die Seiten gestemmt, den Blick auf die Ebene gerichtet, die ihm hier im Westen noch graubraun trostlos zu Füßen liegt. Er holt tief Luft. Schließt die Augen und denkt an den Traum der letzten Nacht zurück, an die Steilküste und das salzige, salzige Meer. Er sieht den kleinen Weg, der sich bis zum Kamm der Steilküste emporwindet, den Weg, auf dem das Lachen stiften gegangen ist. Vielleicht sollte er ihm folgen?

Douglas bläht seine Nasenflügel. Tief atmet er die schale Luft mit dem leichten Geruch nach Kunstdünger ein und stellt sich vor, das sei der Duft angelandeten Seegrases. Dann greift er sich ein Herz und beginnt in seiner Vorstellung den Aufstieg.

Der Weg ist anstrengend. Loses Geröll verrutscht unter seinen Schuhsohlen und klickert klackernd den Pfad hinunter. Kurz bevor er das Plateau erreicht, wird der Weg so steil, dass er sich mit seinen Händen abstützen muss. Auf allen vieren kriecht er den Hang hinauf, bis er sich endlich über die Kante schiebt und ins graue Salzgras rollt. Mit pumpendem Herzen bleibt er liegen und stiert in den von Wolken verhangenen Himmel. Mit einem Ohr lauscht er in die Ferne, ob er das Lachen hören kann, dieses impertinente Lachen. Aber er hört nichts als den Wind um sich herum, das Rauschen der Wellen unten am Strand und das Schreien der Seemöwen über ihm.

»He da, aufgepasst!« Ein schrilles Klingeln reißt Douglas aus seinem Tagtraum und lässt ihn einen Satz nach hinten machen. Ein Grüppchen Spandexradler rast lachend an ihm vorbei. Douglas ist vergrätzt. Blöde Typen, für wen halten die sich? Nur weil sie ihren Rädern Rennslicks aufgezogen haben und sich in grellbuntes Elastikgewebe stecken, gehört ihnen der Damm nicht allein.

Er schwingt sich wieder auf sein Rad. Alt ist es und gebraucht. Für zuverlässig befindet es Douglas, treu, stabil, sicher. Lowtech, die nicht kaputtgeht. Er tritt heftig in die Pedale.

So knapp war er davor gewesen, das Hinterland seines Traumes zu erkunden. Douglas würgt an seiner Wut. Schneller wird er, immer schneller. Bald fliegt er auf dem Damm dahin, so gut es der alten Mühle eben möglich ist, immer den Spandexclub vor Augen. Doch egal, wie er sich anstrengt, die Lücke zwischen ihnen und ihm wird immer größer. Nach einer Biegung verliert er sie endgültig aus den Augen.

Douglas verlangsamt das Tempo. Er keucht und schwitzt und ringt nach Atem. Als er den Kopf nach rechts wendet, sieht er das erste Grün. Douglas fährt langsam weiter, den Blick immer auf die Felder geheftet. Es ist der Sommerweizen, der dort heranreift. Noch ist es ein hellgrüner Flaum auf dunkler Krume, aber schon bald werden die Halme und Ähren hochstehen und sich im Wind biegen.

Douglas hält neben einem Stein an, stellt das Rad ab. Er zieht sich Sneakers und Socken aus und deponiert sie neben dem Stein. Danach richtet er sich auf. Ein Blick links, einer rechts, niemand zu sehen. Er ist tatsächlich ganz alleine hier. Douglas steigt den Damm hinunter, seine nackten Fußsohlen streifen zunächst über Unkraut und Wiesenblumen, dann erreicht er die Niederung, in der die Felder angelegt sind. Hier ist der Boden feucht und satt, er schmiegt sich an Douglas’ Sohlen. Es schmatzt leise, wenn er die Füße anhebt. Der junge Weizen ist noch weich und nachgiebig. Douglas geht vorsichtig durch die Reihen, konzentriert sich auf seine Füße, auf den Boden, auf die Kühle, die in ihn eindringt.

Irgendwann bleibt er stehen und schließt die Augen. Mit der rechten Hand tastet er nach dem Socket und legt den Schalter um. Das Sozial-Ich weicht. Douglas ist jetzt nur er selbst und niemand sonst. Er breitet die Arme aus und lässt den Wind an sich vorbeistreifen. Das ist es, denkt er. Das ist das Leben. So soll es immer sein. Und er steht weiter im Wind, eine lebende Vogelscheuche. Dabei wird sein Herz weit und leicht und das Glück fließt in ihn hinein. Es kriecht aus den Füßen zu seiner Wirbelsäule hoch und weiter in seine Brust. Von dort strömt es in die Arme und schließlich in den Kopf. Douglas fühlt sich dizzy und leicht entrückt. Kurz nur flackert sein innerer Alarmknopf auf – Achtung! Kontrollverlust! –, da holt er schon tief Luft und lässt den Atem langsam durch die Nase wieder entweichen. Für diesen Moment soll alles vergessen sein.

Als ein Taxi am Samstagmittag vor dem CADIAS von Professorin Paulson vorfährt, soll es keinen Bewohner abholen und in ein neues, verbessertes, weil aufgeräumtes Leben mitnehmen. Es bringt auch keinen Menschen, angefüllt mit Wünschen, Träumen oder Seelenpein. Das Taxi hält an, rollt ein Stück weit aus, als ob der Fahrer die Bremse nicht zu kräftig betätigen will. Nach ein paar Momenten öffnet sich die Beifahrertür und ein langes, schmales Bein schwingt sich auf roségoldenen High Heels hinaus. Einen Moment später folgt das zweite. Ein dunkles Lachen ertönt, dann erstirbt es in einem lang gezogenen Kuss.

Kandy schält sich nur wenig später vollends aus den Tiefen des Taxis, lässt die Tür zuklappen und klopft noch einmal auf das Dach des Wagens. Kutscher, fahre er hinfort! Und das macht der Fahrer auch. Zügig rollt der Wagen vom Hof, Kandy steht inmitten der aufspritzenden Kiessteinchen und sieht mit einem katzenhaft zufriedenen Ausdruck dem Wagen hinterher. Sie schwankt etwas.

Sanders, der das Ganze aus der Eingangshalle mit verfolgt hat, sieht seine Chance gekommen. Natürlich hat er Kandy erkannt, nur dieser Anteil von Kaynee kann auf solchen Absätzen unfallfrei durch die Welt stöckeln. Sanders liebt Kaynee schon lange, aber Kandy im Besonderen. Vor allem Stan, Sanders’ Pendant zu Kaynees Kandy, ist scharf auf die Frau, die dort in der Mittagshitze steht. Vielleicht hat er ja zur Abwechslung mal Glück. Manchmal geht es eben nicht darum, der Erste, sondern der Letzte zu sein. So bleibt man in Erinnerung.

Sanders schiebt Barbara einen Geldschein über den Tresen. »Danke für die Info, Babs.«

Diese streicht ihn unauffällig ein. Wenn Stan nur wüsste, dass sie in diesem Moment gar nicht Barbara ist. Verhalten zupft sie sich an den hochgesteckten Haaren. Am liebsten würde sie die Haarspange lösen und Sanders zeigen, dass auch sie einen Part hat, mit dem man Spaß haben kann. Am liebsten würde sie Becky von der Leine lassen. Aber ihr Organisator lässt sie nicht.

»Jederzeit wieder, Stan«, murmelt sie und wendet sich ihrem Rechner zu, als wolle sie nicht wissen, welche Rolle sie in diesem Spiel einnimmt. Verlegen legt sie den Schalter wieder um. Immer schön Distanz halten und niemals Stellung beziehen. Stattdessen mitnehmen, was gerade möglich ist.

Als Kandy langsam den Weg hinaufgeht, schlendert ihr Stan entgegen und stellt sich ihr in den Weg.

Kandy bleibt stehen und schiebt ihre Sonnenbrille in den zerzausten Haarschopf zurück. Sie kann Stan nicht leiden, der sich viel zu lässig, mit beiden Händen in den Hosentaschen, vor ihr aufgebaut hat.

»Ja, ich bin immer noch auf, Stan«, nimmt sie ihm den Wind aus den Segeln, »Und bevor du mir die Uhrzeit erklärst, nur um danach die Brösel aufzulesen, die von mir übrig sind – vergiss es einfach.« Sie lächelt ein überzuckert süßes Lächeln, das ihren Worten aber in keiner Weise die Schärfe nimmt.

Stan hebt beide Hände in gespielter Abwehr. »Gut gebrüllt, Löwin!« Er kommt einen Schritt näher. »Hast du vielleicht Lust auf einen Absacker, bevor sie dich wieder wegsperren?« Er lächelt wissend, hebt eine Braue.

Kandy überlegt kurz, gähnt kurz. Stan ist ein Arsch, aber Kaffee wäre gut. Zuckt dann mit den Schultern. »Auf einen Ristretto.«

Stan gönnt sich ein winziges Siegerlächeln, stellt sich an Kandys Seite und legt einen Arm um ihre Schultern. Seine Finger schließen sich um ihren Oberarm, spüren ihre Wärme. »Na, dann los«, murmelt er und bugsiert Kandy den Weg zur Empfangshalle hinauf.

Barbara sieht nicht zu den beiden hin, als sie eintreten. Sie ist am Rechner beschäftigt, jetzt wieder voll im Arbeitsmodus, irgendetwas gibt es immer zu ordnen. Nachträge der letzten Woche, Planungen für die nächste. Barbara ist immer anwesend, außer sonntags. Sie ist fleischgewordenes Inventar.

Als Stan und Kandy jedoch an ihr vorbeischlendern, legt sie den Kopf zur Seite. Sie mag Kandy nicht. Kaynee ja, aber dieses billige Flittchen, nach dem sich tatsächlich jeder umdreht – das nicht. Aber würde Sanders nicht sie, Barbara, fragen, in welcher Ausprägung Kaynee gerade durch das Camp läuft, gäbe es überhaupt keine Möglichkeit mit ihm zu sprechen. Babs seufzt.

Währenddessen löst sich Kandy aus Stans Griff. »Das ist nicht der Weg zur Cafeteria«, stellt sie trocken fest und will sich abwenden. »Guter Versuch, Stan.«

Stan erwischt noch ihr rechtes Handgelenk. »Nicht so schnell, kleine Lady. Du hast mir einen Espresso versprochen.« Mit einem Ruck zieht er sie an sich heran, vergräbt sein Gesicht an ihrem Hals, atmet tief ihren Duft ein. Während er sie in der Halsbeuge küsst, führt er ihre rechte Hand an seinen Schritt, der über seinen Zustand Auskunft gibt.

Kandy windet sich aus seinem Griff heraus, befreit ihre Hand. »Du willst es, nicht wahr?«, raunt sie ihm zu. »Mit jeder Faser deines Seins.«

 

Stan richtet sich auf. »Lass uns zu mir gehen. Es ist alles bereit für dich. Du musst nur zugreifen.« Er bietet ihr seinen Arm, fühlt sich jetzt als Gentleman, kurz vor seinem Ziel.

Da stutzt Kandy, mustert ihn und fängt an zu lachen. Sie taumelt ein, zwei Schritte zurück, zeigt mit dem Finger auf ihn und lacht, als sei er der Witz des Tages.

Stan hat nur zwei Möglichkeiten – entweder zieht er zurück, bevor noch irgendjemand von diesem Korb Wind bekommt, oder er setzt sich über Kandys Meinung hinweg und holt sich, was er will.

Da nimmt Kaynee ihm die Entscheidung ab. Karl hat Karen auf den Plan gerufen, nachdem er Stans Züge studiert hat. »Wag es nicht«, blafft er dem Techniker ins Gesicht. Das reicht schon, um ihn zurückweichen zu lassen.

Danach bringt Karen ihre Entität ins Bett.

Stan steht auf dem Flur und sieht Kaynee nach. Sie ist aus den Heels geschlüpft, tappt auf bloßen Sohlen den Gang entlang und schlenkert die Sandaletten mit der linken Hand herum. Seine Chance ist vorbei. Die Traumfrau hat anscheinend keinen Ausgang mehr. Stan wird per Schalter mit einem bedauernden Seufzen ins Repertoire zurückgeschoben und Sudresh erscheint auf der Bildfläche.

Nach einer kleinen Ewigkeit beginnt Douglas, zu frösteln. Er gräbt seine Zehen in den weichen Boden, lässt die Arme sinken und öffnet wieder die Augen. Es ist ihm, als würde er diesen Ort zum ersten Mal sehen. Er scannt Halm um Halm, dreht sich dabei um die eigene Achse und hält erst inne, als der Damm in das Blickfeld gerät. Er sieht sein Fahrrad links neben dem Stein. Rechts neben dem Stein steht ein Mensch.

Wie lange steht der schon da? Hat er ihn beobachtet? Hat er den Sicherheitsdienst des Agrarunternehmens benachrichtigt? Douglas greift sich unbewusst wieder hinter das Ohr und legt den Schalter um. Das Sozial-Ich lädt sich in den Vordergrund. Nur schön ruhig bleiben.

Douglas macht sich auf den Rückweg. Schritt für Schritt stapft er durch das Feld, doch diesmal ist er mit den Gedanken ausschließlich bei der Person, die noch immer neben dem Stein steht. Im Näherkommen sieht er, dass es sich um eine Frau handelt. Wieso geht sie nicht weiter? Stattdessen steht sie dort wie angewurzelt und starrt ihn an.

Douglas steht schließlich am Fuß des Dammes. Er legt den Kopf in den Nacken und schirmt seine Augen ab. Als Erstes bemerkt er, dass die Frau ihn doch nicht ansieht. Vielmehr sind ihre Augen auf das Feld gerichtet, wobei der Blick merkwürdig ziellos ist. Sie scheint tatsächlich nicht viel mehr zu sein als eine leere Hülle.

Douglas mustert sie eingehend. Lange blonde Haare fallen glatt auf schmächtige schmale Schultern, umrahmen dabei ein längliches eckiges Gesicht, das von großen Augen dominiert wird. Welche Farbe sie haben, kann Douglas von seinem Standort nicht ausmachen. Sein Blick scannt sie weiter ab. Die Oberweite ist kaum ausgeprägt, vielleicht eine Handvoll, mehr nicht. Mehr ist nicht von ihrer Figur zu sehen. Ein langes weißes Kleid mit buntem Blumendruck am Saum fällt gerade zu Boden. Nur die Füße schauen unter dem Stoff hervor. Sie stecken in einfachen Sandalen, die vom Alter schon dunkel sind. Bei näherem Hinsehen fällt ihm auf, das sie leicht vor und zurückwankt.

»Hallo?« Douglas nimmt die Hände herunter und stützt sie in den Seiten ab. »Geht es Ihnen gut?« Keine Antwort. Das Schwanken verstärkt sich.

Douglas zögert nicht. Er klettert, so schnell es geht, den Damm hinauf. Schließlich kommt er schnaufend neben der Frau zum Stehen. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Er fasst sie leicht am Ellenbogen, um sie zu stabilisieren.

»Wo kommen Sie her? Wo gehören Sie hin?« Er weiß nicht, was er sonst sagen oder fragen soll. Schon will er nach seinem Smartphone greifen und Hilfe herbeirufen, da fällt ihm etwas ein.

Es sieht alles danach aus, dass hier ein Reset ausgeführt werden muss. Vorsichtig streicht er der Frau die Haare über die Schulter und tastet hinter ihr rechtes Ohr. Nach einem Moment der Suche findet er den Schalter des Sockets.

Für einen Augenblick zögert er. Eigentlich ist er zu einem Eingriff dieser Art nicht befugt. So etwas ist nur den Mitarbeitern der MedCon gestattet. Aber es geht nur darum, einen Schalter umzulegen, nicht mehr. Danach kann er der Fremden immer noch sagen, dass sie zum Sanitätsdienst vor Ort gehen soll. Das würde beiden Zeit sparen.

Er holt tief Luft und schiebt den Schalter vor, bis er einrastet. Einen Wimpernschlag lang tut sich nichts. Dann sieht man förmlich, wie das Leben in ihre Augen schießt.

»Finger weg«, bellt sie, reißt sich los und tritt zu. Sie trifft sein Schienbein. Douglas taumelt nach hinten. Er will protestieren, doch er erhält keine Gelegenheit dazu. Der nächste Tritt trifft genau ins Schwarze. Und während Douglas sich keuchend am Boden windet, dreht sich die Fremde wortlos um und verschwindet in den Straßen Suburbias.

Als die dunkelroten Schmerzwellen nachlassen, kämpft sich Douglas langsam wieder auf die Beine. Er taumelt zum Stein hinüber, lehnt sich dagegen und zieht sich sehr langsam und hoch konzentriert die Socken und die Sneakers wieder an. Jede hastige Bewegung lässt den Schmerz wieder aufflammen, der ansonsten einem dumpfen Brandungsrauschen gleicht. Flüchtig denkt er daran, dass er den Sanitätsdienst jetzt tatsächlich in Anspruch nehmen könnte. Aber wie soll er den Vorgang erklären, ohne dabei zuzugeben, dass er sich in Sachen eingemischt hat, die ihn nichts angehen? Dass er das Persönlichkeitsrecht eines anderen auf seelische und geistige Unversehrtheit verletzt hat?

Er schüttelt den Kopf. Sie hat sich gewehrt. Besser gesagt, ihre Beschützerpersönlichkeit hat sich gewehrt. Das ist zwar ihr gutes Recht, aber ihm ist das jetzt gerade scheißegal. Soll sie doch mitsamt all ihren Facetten vor einen Bus laufen!

Douglas beißt die Zähne zusammen. Dann greift er sich sein Rad, schiebt es neben sich her und macht sich so auf den langen Heimweg. Er hat weniger gesehen als geplant und dabei mehr gefühlt als beabsichtigt, aber sei’s drum. Douglas kühlt seinen Schmerz in eisigem Sarkasmus. Der Trip hat genug Ablenkung mit sich gebracht. Douglas denkt an nichts anderes als seine schmerzenden Hoden und den nächsten Schritt. Einen Fuß vor den anderen setzen, nur das zählt jetzt. Die Stimmen in ihm schweigen. Das Lachen aus dem Salzmeertraum hat keinen Platz in seinem Hirn. Douglas verzerrt die Lippen zu einem schwachen Grinsen. Gut so.

Kaynee liegt in der Wanne und spürt den letzten Stunden nach. Kandy hat sich ausgetobt – auf der Tanzfläche in den verschiedenen Clubs. Im Letzten hat sie sich selbst an die Stange gestellt. Mit Kandy ist es immer ein Ritt auf der Achterbahn. Während die Fahrt in die Stadt die Spannung aufbaut, ist der Eintritt in den ersten Club der Anfang des Abstiegs. Mehr Musik, mehr Alkohol, mehr Männer. Und je länger Kandy unterwegs ist, desto mehr verliert sie den Halt. Das ist einer der Gründe, warum ihr Ausgang so reglementiert wird.

Kaynee schließt die Augen. Sie erinnert sich an die letzte Notiz im Übergabeprotokoll. »Stan is’n Arsch. Wovon träumt der nachts? Entwarnung: Da war nichts. K.« Also hat Kandy nicht die Beine für ihn breitgemacht.

Kaynee legt aus einem Reflex heraus die rechte Hand über ihre Scham. Rot schießt es ihr in die Wangen. Sanders? Nein! Aber wenn nichts war, dann kann sie ihm morgen ja ganz unbefangen gegenübertreten. Was für ein Glück.

Sie entspannt sich wieder und zieht die Hand zurück. Einen Moment später lässt sie sich noch tiefer in das warme Wasser gleiten.

Sanders mit den Hundeaugen. Sanders mit seiner klebrigen Freundlichkeit. Sanders ist eigentlich nur dann erträglich, wenn er als Sudresh durch die Gänge geistert oder in seinem Labor residiert. Oder, wenn er als Steward mit den Besuchern arbeitet. Sanders’ Sozial-Ich ist ihr viel, viel lieber als sein Privat-Ich.

Professorin Paulson hat recht – man muss nicht jeden mögen. Die Chemie muss nicht stimmen. Aber seit der Effizienzdiversität kommen alle viel besser miteinander klar. Denn auf der Arbeit herrscht Neutralität, Objektivität, Professionalität.

Kaynee lächelt leicht. Sie selber hat noch nicht den Einen getroffen, der sie von den Füßen haut – oder auch nur einen Teil ihrer selbst um den Verstand bringt. Wer weiß, kann es das überhaupt geben in einer derart aufgespaltenen Welt? Dass jemand wirklich jeden Aspekt des Anderen mit offenen Armen aufnimmt?

Kaynee holt tief Luft und taucht in das Badewasser ab. Hat’s doch noch nie gegeben! War doch alles immer nur ein Kompromiss gewesen, schon damals.

Nach ein paar ergebnislosen Gedankensprüngen nach rechts und nach links, taucht Kaynee wieder auf. Sie ist sich selbst genug und das ist ein schönes Gefühl. Keine Abhängigkeiten, keine unerfüllte Sehnsucht. Alles fein.

Sie steht auf, greift zur Brause und spült die letzten Schaumreste von ihrem Körper. Zum Schluss stellt sie den Wasserstrahl auf kalt, solange bis sie kreischend aus der Wanne springt.

Als sie sich in ihren Bademantel hüllen will, verschiebt sich etwas in ihrem Geist. Es ist ähnlich wie tags zuvor, nur kräftiger, entschiedener. Kaynee wird davon überrumpelt. Der Mantel fällt zu Boden, sie greift stattdessen zum Telefon. Hastig wählt sie eine Nummer. Nach ein paar Freizeichen wird am anderen Ende der Leitung abgehoben.

»Hol mir Stan ans Telefon«, herrscht Kandy den Menschen am anderen Ende der Leitung an. »Sofort, bevor ich es mir anders überlege.«

Einen Moment später raunt sie ins Mikro, gurrt beinahe schon: »Wenn du willst. Ich bin bereit. Lass mich nicht warten, Stan.« Danach legt sie auf.

Kaynee bekommt das alles mit. Allein, sie kann niemandem Bescheid geben. Kora, Karen, Karl – da ist niemand zu erreichen. Ihre Hand lässt sich nicht überreden, den Schalter zum Arbeits-Ich umzulegen. Und so bleibt Kaynee nichts anderes übrig, als in einem Winkel ihres Bewusstseins abzuwarten, bis es an ihre Tür klopft.

Kandy hat in der Zwischenzeit die Stilettos übergestreift und ein Kropfband umgelegt. Sonst ist da nichts, das ihre Blöße bedeckt und das ist auch so geplant. Denn während sich Kaynee entspannte, ist Kandy eine Idee gekommen und die schließt Sanders mit ein. Und damit er mitmacht: Nun. Mit Speck fängt man Mäuse. War schon immer so und ist heutzutage nicht anders. Give a little, take a little. Kandy lächelt süffisant.

Es klopft ein zweites Mal. Kandy wirft sich in Positur, schüttelt die Haare zurück, legt die Hand auf die Klinke.

Kaynee versucht, Kandy ein letztes Mal zurückzuhalten. »Bitte«, fleht sie. »Tu mir das nicht an!«

»Ach, Süße.« Kandys Spott ist rauchig, dunkel und ätzt sich in Kaynees Bewusstsein. »Halt’ die Klappe und lerne. Jetzt sind die Großen dran.« Dann öffnet sie schwungvoll die Tür.

Stan steht vor ihr, sein Blick ist glasig. Er fackelt nicht lange, schnappt sich Kandy und drängt sie in das kleine Apartment. Während die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, beginnt Kaynee inwendig zu schreien – allein, es kann sie niemand hören.

Als sich die Sonne in den Abend verabschiedet, findet sich Kaynee in ihrem Bett wieder. Stan ist verschwunden. Kandy hat sich zurückgezogen. Kaynee rollt sich auf die Seite und zieht die Knie zum Kinn. Ihr tut alles weh.

Das hätte nicht passieren dürfen! Kaynee weiß nicht, an wen sie sich wenden soll. Professorin Paulson? Die würde sie sofort von ihrer Position abziehen. In bester Absicht zwar und durchaus zu Recht, aber Kaynee will unter keinen Umständen ihren Job riskieren. Sie überlegt fieberhaft.

Sie wird eine Nachjustierung vornehmen. Die Anteile müssen besser voneinander getrennt, die Basisfunktionen gefestigt werden. Ihr Verstand sagt ihr, dass sie da nicht drum herumkommt. Aber wer? Wie? Ohne dass es auffällt …

Sie erstarrt. Da gibt es nur einen, der ihr helfen würde. Sanders. Er ist der Einzige, der so einen Eingriff auf eigene Kappe machen könnte. Kaynee fröstelt es.

Douglas hat den Weg nach Hause ohne größeren Zwischenfall geschafft. Hat das Fahrrad im Keller verstaut, die Schlösser bedächtig verriegelt. Das eine, das seinen Verschlag sichert. Das andere, das den gesamten Keller absperrt. Danach ist er mit dem Lift in sein Apartment hinaufgefahren. Heute muss er nicht laufen, um sich zu fordern oder abzulenken. Das Ziehen in seinen Hoden ist zurückgetreten, aber immer noch vorhanden. Da kann er sich diesmal auch den Fahrstuhl leisten.

 

Nach einem ausgiebigen Bad schlüpft er in seinen Bademantel. Er überlegt, ob er sich ein Bier nehmen soll, aber er entscheidet sich dagegen. Greift zum Wasserhahn, lässt das Glas volllaufen, trinkt es, während er abwesend aus dem Fenster starrt. Er erinnert sich an das kühle Grün unter seinen Sohlen und stellt das geleerte Glas auf den Küchentisch. Schön war es gewesen. Alles andere eher anstrengend.

Douglas wischt sich mit der Hand über das Gesicht. Wendet sich dann zum Schlafzimmer und legt sich rücklings auf das ordentlich gemachte Bett. Der Bademantel verrutscht, die kühle Luft streift seinen Körper, aber das ist gut so, denkt Douglas, und schließt die Augen. Nur ein bisschen ruhen.

Douglas rutscht in einen Dämmerschlaf, hinein in diese salzige Traumwelt, die ihm noch neu ist und in der er eben erst lernt, sich zu bewegen. Seine alten Träume scheinen vergessen. Wie lange schon? Darüber will Douglas nicht nachdenken, er blendet alles aus. Es wird dunkel in ihm, ganz dunkel, dann schaltet sich das Traumkino ein und der Film spult sich hinter seinen geschlossenen Lidern ab. Eine neue Episode.

Ich liege auf dem Rücken inmitten einer graugrünen Salzwiese, die Augen weit aufgerissen. Über den Halmen, die sich in einem steten Wind wiegen, türmen sich Wolken in Grafit und diesigem Weiß. Es regnet nicht, aber Feuchtigkeit liegt in der Luft. Salzkristalle auf den Lippen, auf den Fingerkuppen, auf den Wangen. Und doch streicht ein zarter Duft durch das Gras. Ich kenne den Geruch. Wenn ich jetzt die Augen schließen würde, sähe ich sie vor mir. Sie, mit ihren goldenen Locken und dem weichen Zug um den Mund. Mommy. Ich richte mich auf. Prinzchen, tönt es sacht in meinem Kopf, Prinzchen, alles wird gut.

Ich springe auf die bloßen Füße und sehe mich um. Hinter mir liegt die Klippe, hinten dran das Meer. Von dort bin ich gekommen, doch wo werde ich hingehen? Ich sehe einen schmalen Pfad im Salzgrasmeer. Ein Schritt vor den anderen setzend, folge ich ihm langsam. Der Duft nach Lavendel verstärkt sich, je weiter ich ins Hinterland vordringe. In der Ferne sehe ich eine überwucherte Bruchsteinmauer. Gänseblümchen und verwilderte Rosen blühen büschelweise in den Ritzen. Ich werde schneller. Was ist jenseits der Mauer?

Der Pfad endet vor einem Tor. Rostiges Gestänge, von Efeu umwuchert und mit einer schweren Kette samt Schloss gesichert, versperrt mir hüfthoch den Weg. Dahinter Lavendelbüsche in langen Reihen. Wilder Weizen ragt vereinzelt aus dem violettblauen Meer, im Hintergrund sehe ich das dunkle Grün von Baumhecken. Ich lege beide Hände auf den obersten Holm und rüttle zaghaft. Das Tor gibt nicht nach.

Je länger ich auf den Lavendel starre, desto mehr weiß ich, dass ich dort hingehöre: in die Geborgenheit dieses Feldes. Und ich weiß auch, dass ich mich von einem Tor nicht aufhalten lassen werde. Ich taste die Mauer ab, suche einen losen Stein. Bohre mit den Fingern in den Ritzen herum, bis sich ein handlicher Felsbrocken löst, mir geradezu in die Hand fällt. Doch statt ihn zu benutzen, stehe ich vor dem verrosteten Schloss wie der Ochs vorm Berg und weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Gewalt ist Gewalt und Gewalt ist verpönt. Ich kann nicht aus meiner Haut heraus.

Da springt das irrlichternde Lachen hinter einer Bodenwelle hervor. Es keckert und gackert und schrillt mir in den Ohren und springt unvermittelt in mich hinein, als sei ich ein leeres Gefäß. Ich fühle es in mir toben. Schon hebe ich den Stein, irgendetwas muss ich zertrümmern, um diese Tollheit loszuwerden, warum also nicht meinen Kopf? Irgendwer muss diesem Lachen endlich Einhalt gebieten!

Doch statt mir den Brocken an den Schädel zu schlagen, fange ich an, ihn auf das Schloss zu hämmern. Mein Arm synchronisiert sich mit dem Lachen. »Hey ho«, beginnt es jetzt auch noch in mir zu singen. »Hey ho, hey ho.« Ich füge mich dem Rhythmus, ich kann nicht anders. Jetzt bin ich wohl auch ein Wilder, genauso wie Mommy. Ein Tier, ein Untier, ein Monster. Bin ich das wirklich?

Mein Zorn treibt mich an, ein heißes Aufbegehren. Sie hatten nicht recht, Mistress Keen. Sie hatten nie recht mit Ihrer Behauptung! Sie kannten Mommy doch überhaupt nicht, wie kamen Sie dazu, meinen Verstand so zu vergiften?

Doch je länger die ganze Aktion dauert, desto mehr stumpfe ich ab, lasse mich fallen in die Monotonie der Schläge, in das herzschlagartige »Hey ho«-Gejohle und werde dabei immer ruhiger.

Als das Schloss mit einem Mal unter dem einen, dem einzig richtigen Schlag nachgibt und aufspringt, überrascht es damit das Lachen und mich gleichermaßen. Während das Lachen verwirrt schweigt, stopfe ich den Stein wieder dorthin, wo ich ihn aus der Mauer gebrochen habe. Danach richte ich mich auf und drehe mich zu der Salzwiese und dem Klippenrand herum.

»Geh spielen«, sage ich zu dem Lachen, das immer noch unschlüssig in mir herumlungert und dem es langsam dämmert, dass es zum ersten Mal von Nutzen gewesen ist. Das gefällt ihm nicht, ich spüre den Unwillen, der sich langsam in mir breitmacht. Das gefällt mir wiederum nicht, und daher brülle ich los. »Jetzt hau endlich ab, oder soll ich dir Beine machen?«

Da zieht es sich aus meinem Blut zurück, noch immer ganz verschnupftes, trotziges Schweigen, und sammelt sich schließlich in den Halmen zu meinen Füßen. Doch schon einen Moment später trollt es sich und findet seine vielen Stimmen wieder. Es lacht und keckert zur Klippe hin, danach verliert es sich im Dröhnen der Brandung, die weit unten auf den Strand schlägt.

»Danke!«, sage ich ins Nichts hinein und verbiete mir dabei den Sarkasmus. Erst dann wende ich mich wieder dem Tor zu, löse die Kette und hebe es vorsichtig an. Ein, zwei mühsame Schritte später ist es tatsächlich so weit: Ich stehe im Lavendelfeld. Willkommen daheim.