Salzgras & Lavendel

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»Schreib es ihr doch. Das wird sie freuen.« Kassy schiebt Barbara wieder das E-Pad zu und hält ihr den Stift hin. »Aber bitte mit Unterschrift, sonst verwirrst du uns.«

Kassy grinst frech, dreht sich dann schwungvoll herum und sieht sich in der Halle um. Ihr Blick fällt auf einen kleinen Flachbildfernseher, der stumm in der Besucherlounge an der Wand hängt. Es läuft ein Nachrichtenkanal. Normalerweise notiert er auf dem Laufband Aktienkurse, doch heute scheint es nicht um trockene Wirtschaftsdaten zu gehen. Kassy löst sich vom Tresen und geht näher ran.

Auf einmal füllt ein großer Smiley das Bild aus. Es ist ein Plakat, wie man es hundertfach an öffentlichen Plätzen vorfindet, überall dort, wo sich viele Menschen wenig Platz teilen müssen. Das Bild wechselt. Jetzt sind es die Aufnahmen einer Überwachungskamera, die auf irgendeinem chromblitzenden U-Bahnhof installiert ist. Sie zeigen einen Mann, der einen anderen zusammenschlägt. Der Angriff kommt aus dem Nichts. Eben noch stehen sie friedlich hintereinander, eingepasst in die privaten Distanzen. Dann, völlig unmotiviert, tritt der eine dem anderen in die Kniekehlen. Der lässt seine Tasche fallen und sackt in sich zusammen. Der Angreifer lässt ihn nicht in Ruhe, attackiert ihn mit Handkantenschlägen in den Nacken, tritt ihm in Rippen und Nieren. Schließlich zerrt er sein Opfer an den Haaren in eine aufrechte Position, nimmt es in den Schwitzkasten und schlägt mit der rechten Faust auf den Kopf ein.

Kassy hat so einen Ausbruch von Gewalt noch nicht mit angesehen. Sie hebt verschreckt die Hände vor das Gesicht, verfolgt das Geschehen durch das Geflecht ihrer Finger. Als sie es nicht mehr aushalten kann, verändert sich das stumme Ballett des Grauens. Zwei Mitglieder der Medical Control bahnen sich einen Weg durch die Menge, die sich, so weit es geht, von dem Schläger und seinem Opfer entfernt haben, dorthin, wo sie sich in Sicherheit wähnen. Die MedCons setzen den Angreifer mit ein paar gezielten Handgriffen außer Gefecht. Die Hände hinter dem Rücken zusammengezurrt, wird er aus dem Bild geführt. Zwei weitere MedCons kommen mit einer Bahre und transportieren das Opfer ab. Die Menschenmenge fließt danach wieder auf den Bahnsteig, als ob nichts geschehen wäre.

Keiner von ihnen hat eingegriffen, denkt Kassy, sie schützen sich, ja – aber es fröstelt sie trotzdem.

»Ein Wilder«, hört sie da hinter sich.

»Sanders!« Kassy löst sich von dem Monitor und dreht sich herum. Ihr Pferdeschwanz hüpft dabei auf und ab.

Sanders sieht es und grinst. »Hi, Kaynee. Vertritt Kassy heute die Meute?«

»Ja. Katy braucht Ruhe. Ich habe genug getan in den letzten Wochen. Da steht mir ein gestohlener freier Tag wohl zu.«

Kaynee kraust die Nase und lächelt. Bei jedem anderen hätten diese Worte den Eindruck eines zänkischen Wesens hinterlassen, ihr jedoch hört man weder Stress noch Ungemach an. Das ist Kaynees große Kunst: Sie scheint das Leben mit einer beispiellosen Leichtigkeit zu meistern, in dem sie es einfach nicht persönlich nimmt. Sie hat diese Art, Hindernisse mit einem Lachen auszuräumen. Und sollte sie einmal die Hürde nicht nehmen können, dann sucht sie den Weg darum herum.

Sanders grinst dämlich, bis er sich selbst dabei ertappt. Schon schreitet sein Fürsorger ein und stellt die Gesichtszüge auf die gewünschte Coolness ein. Er sieht wieder zu dem stummen Bildschirm hinüber.

»Ein Wilder«, wiederholt er. »Dass es immer noch welche von ihnen gibt …« Er schüttelt den Kopf.

»Was meinst du damit?« Kaynee sieht wieder zum Fernseher.

Die Bilder laufen in einer Endlosschleife. In diesem Augenblick geht der Angegriffene erneut in die Knie. Kaynee schließt die Augen und wendet sich lieber Sanders zu. Sie stößt ihn leicht am linken Oberarm an. »Nun sag schon. Ich möchte nicht dumm …«

Sie bricht ab. Irgendwie erscheinen ihr die Worte in der Gegenwart der Geschehnisse hinter ihr auf einmal unpassend. Wer weiß schon, ob das Opfer den Angriff überleben würde? Kaynee nicht, so viel steht fest.

Sanders bemerkt ihr Unbehagen. »Lass uns in die Kantine gehen. Ich brauche einen Kaffee. Und dabei kann ich dir etwas von fehlgeschlagenen Aufspaltungen erzählen. Wenn du das an deinem freien Tag überhaupt hören möchtest.« Er zieht spielerisch an ihrem Pferdeschwanz.

»Lass das!«, ertönte es prompt, dann hakt sich Kaynee bei ihm ein und lacht ihn an. »Erzähl mir alles, was du weißt. Solange ich meinen Chilishake dabei trinken kann, ist mir alles recht.«

Ein paar Augenblicke später sitzen beide im Außenbereich der Kantine. Kaynee rutscht in ihrem Stuhl ein Stück hinunter, bis der Kopf auf der Rückenlehne Halt findet. Die Beine werden kurzerhand in die Höhe gestreckt und auf der Brüstung abgelegt, die die freischwebende Terrassenkonstruktion umgibt. Sie faltet die Hände über der Magengrube, schließt die Augen und wendet ihr Gesicht der Sonne zu.

Sanders beobachtet sie dabei. Wieder schleicht sich ein Lächeln auf seine unscheinbaren Züge. »Fertig?«, fragt er schließlich.

Kaynee hebt einen Daumen. »Ich höre.«

Sanders hebt die Hand zum Ohr und switcht sich in den Arbeitsmodus. Einen Moment später tritt Dozent Sudresh in den Vordergrund.

»Die Wilden also.« Sudresh starrt auf den sanft abfallenden Hang und denkt nach. Dann lehnt er sich zurück, streckt die Beine von sich und fängt an. »Du weißt ja, dass die Entität im postnatalen CADIAS in das Privat-Ich und das Arbeits-Ich aufgespalten wird. Dort werden die Grundlagen für das spätere Persönlichkeitsset gelegt. Die beiden neuronalen Hauptcluster, die dann später weiter gesplittet werden können, ganz nach Wunsch. Bevor die Kiddies in die Krippe kommen, bekommen sie ihr erstes Implantat und werden darauf geschult, den Schalter umzulegen und damit vom Sozialmodus in den Freizeitbereich zu wechseln und umgekehrt. Das war bei dir so, bei mir auch. Bei allen, die du kennst.«

Kaynee nickt leicht. Das ist Grundlagenwissen. Dass Sudresh immer denkt, dass alle anderen nur Idioten seien. Sudresh scheint ebenfalls davon auszugehen, dass all die Minderbemittelten um ihn herum schwerhörig sind. Er spricht stets lauter als nötig und immer in einfachen Sätzen. Kaynee hebt eine Braue und spürt, wie sich Widerstand in ihr breitmachen will. Da greift Kora sanft ein und erstickt Kassys Aufbegehren im Keim.

Sudresh bekommt derweil von den widersprüchlichen Gefühlen seines Einpersonenpublikums nichts mit – wie üblich. Er ist eine emphatische Niete, ein kleiner Asperger, nichts, was ihn selber aus dem Tritt bringt. Also fährt er ungerührt fort: »Normalerweise ist dies die Grundversorgung, die der Staat übernimmt. Aber es gibt immer wieder Eltern, die meinen, dass sie alles besser können. Oder, die ihre Kinder vor den postnatalen CADIAS’ schützen wollen. Individuen, die am Rande der Gesellschaft leben, versuchen immer wieder, sich dem System zu entziehen. Was sie dabei vergessen, ist Folgendes: Wird eine Aufspaltung nicht oder fehlerhaft durchgeführt, dann wird das Kind, oder besser gesagt, der Heranwachsende allein von den sozialen Umständen geprägt. Das kann gut gehen – tut’s aber oft nicht. Irgendwann kommt es zu Gewaltausbrüchen. Dabei ist es unerheblich, ob sich die Gewalt gegen andere oder den eigenen Körper richtet. Eines ist ihnen gemeinsam – sie sind Zeichen einer ungezügelten Seele, die sich in ihrer Hilflosigkeit nicht anders zu helfen weiß.«

»Und darum geben wir ihnen einen Rückzugsort? Aber ist das nicht eigentlich ein Einsperren, was wir hier machen?« Kaynee öffnet die Augen und sieht zu Sudresh hinüber. »Die Seelen. Warum lassen wir ihnen nicht allen Raum, den sie brauchen, und geben ihnen eine andere Art von Hilfe an die Hand? Etwas Langfristiges, etwas Begleitendes?«

»Weil der Raum für Individuen knapp geworden ist.« Sudresh bleibt nüchtern. »Die demografischen Fakten sprechen für sich. Wir sind zu viele geworden. Damit jeder so gut wie möglich leben kann, sind wir auf feste soziale Regeln angewiesen. Wo aber der Kompromiss regiert, kann es keine persönliche Freiheit geben.«

»Aber warum geht es uns denn dann trotzdem so gut? Warum kann ich dann glücklich sein?« Kaynee richtet sich in ihrem Stuhl wieder auf und schwingt die Füße von der Brüstung.

»Das liegt eben daran, dass du nicht nur mehr nur eine bist, sondern viele. Und jede deiner Persönlichkeiten verarbeitet die Realität anders, geht mit Enttäuschungen und anderen Erlebnissen verschieden um. Du nutzt dich auf so viele unterschiedliche Arten, dass man schon sagen kann, deine Freiheit liegt in dir selbst. In deiner Entität.«

Kaynee sieht Sudresh aus großen Augen an. Sie hat ihre Meute immer als selbstverständlich angesehen, aber niemals als Schlüssel zur Freiheit. »Ich glaube, ich bin nicht ganz mitgekommen.« Sie nimmt einen Schluck des Chilishakes. Die Schärfe in ihrer Kehle tut gut.

Sudresh setzt zu einer Erklärung an. Weiß aber nicht, wie er weiter machen soll. Bei so viel Begriffsstutzigkeit fehlen ihm einfach die Worte. Saul schaltet sich ein, Sanders’ Fürsorger. Er sorgt dafür, dass Sanders sich wieder in den Privatmodus stellt. Sanders’ Twen sitzt zwei Sekunden später Kaynee gegenüber, geschlagen mit aller Zuneigung, die er für die junge Frau hegt. »Wo sind wir stehen geblieben?« Er klingt etwas verwirrt, Saul hat so schnell eingegriffen, dass Sudresh keine mentale Notiz vornehmen konnte.

»Die Freiheit liegt in der Entität«, souffliert Kaynee. »Willkommen, Steve.«

»Ah, gut.« Steve zwinkert Kaynee zu. Dann räusperte er sich: »Nimm doch einmal den Abschied heute Morgen.«

Kaynee nickt leicht.

»Hättest du nicht deine fest umrissenen Persönlichkeiten, dann hätte Katys Trauer Keiras Professionalität beeinträchtigt. Du hättest Santana vielleicht die falschen Worte mit auf den Weg gegeben. Du hättest sie aus deiner eigenen Befindlichkeit heraus mit deiner Trauer belastet. So konntest du erst das eine machen – nämlich deinen Job. Und das andere kam danach. Ich hab dich doch gesehen, als du zurückgekommen bist. Katy hat geheult wie ein Schlosshund – was gut ist! Was so sein muss!« Sanders schiebt den Kaffeebecher beiseite und streckt Kaynee seine Rechte hin. »Wenn Katy noch jemanden zum Reden braucht. Sag ihr, ich bin da.«

 

Kaynee sieht auf seine Hand, streicht dann leicht mit den Fingerspitzen über seinen Handteller. »Danke für das Angebot. Aber ich glaube, sie will alleine mit sich sein.« Sie zieht ihre Hand zurück und sieht Sanders offen an. »Ist das die Freiheit, die du meinst? Nicht getrieben zu sein?«

Er nickt.

»Dann liebe ich meine Freiheit.« Kaynee sieht den Abhang hinunter, auf dem ihr Arbeitsplatz ruht. »Es wird ein heißer Tag werden. Ich werde mich lieber zurückziehen.« Sie erhebt sich. »Danke für deine Zeit, Sanders. Wir sehen uns spätestens, wenn ich mein nächstes Patenkind bekomme.«

Als Kaynee fort ist, greift Sanders sich hinter das Ohr und switcht Sudresh wieder in den Vordergrund. Denn Sudresh kann nicht nur gut erklären, er kann auch am besten alleine arbeiten. Und da Sanders noch Datenpflege betreiben muss, eine einsame und an sich verhasste Arbeit, gibt es niemand besseren dafür als eben Sudresh.

Außerdem hält es sein Fürsorger für notwendig, ihn von Kaynee abzulenken. Die ungeklärte Situation zwischen ihnen beiden macht Sanders schon seit einiger Zeit zu schaffen. Während ihm immer klarer wird, dass es mehr als Freundschaft auf seiner Seite ist, auf Steves Seite, weiß er nicht, was sie in Bezug auf ihn denkt oder fühlt. Er hat sich sogar schon dabei ertappt, eine flüchtige Abspaltung herbeiführen zu wollen, eine Persönlichkeit zu formen, die nichts anderes machen soll, als Kaynee endlich zu fragen, was Sache sei. Ein Nein könnte er auf diese Weise schneller verarbeiten. Und dann, wenn man die neuronale Clusterverschiebung nicht weiter verfolgte, könnte das verlorene Ich in die Cloud eingehen und niemals wieder reaktiviert werden. So eine saubere Lösung, denkt Sanders.

Nur machbar ist sie nicht. Niemand wird ihm die Energie genehmigen, die die Maschinen verbrauchen würden. Zudem wäre das Ganze ohne Überwachung eine ungesicherte Abspaltung und die Gefahr ist zu groß, dass etwas schiefläuft. Er will nicht als Wilder enden. Als Lost Soul, eingesperrt in einer Forschungseinheit, oder, was noch schlimmer wäre, in einer öffentlichen Verwahrstelle.

Sanders steht auf, bringt das Tablett mit seinem Becher und Kaynees Glas zurück zur Theke, bedankt sich förmlich und macht sich auf den Weg zu seinem Labor. Dabei muss er das Entree erneut durchqueren.

Als er am Panoramafenster vorbeikommt, sieht er kurz nach draußen. Er stockt. Vor dem Tor fährt gerade ein Wagen des MedCon weg. Das dunkelblaue Gefährt mit dem weißen Dach verschwindet in einer Staubwolke, wie das Taxi zuvor, das Santana in eine neue, friedlichere Welt gebracht hatte. Kaynee hat recht, es würde in der Tat ein heißer Tag werden.

Als Sanders im linken Flur verschwindet, der zu den Laborräumen und Traumakapseln führt, denkt er nüchtern über den Fall Santana nach.

Das schwarzhaarige, dünne Mädchen hatte ein defektes Implantat gehabt. Der Schalter hatte einen Wackelkontakt, was dazu führte, dass sich die Hauptcluster nicht mehr voneinander lösen ließen. Ihre Persönlichkeiten waren immer mehr miteinander verschmolzen, letztlich hatten nur noch Fürsorger, Organisator und der allgegenwärtige Wachhund ihren Dienst getan. Allerdings hatten sie sich gegenseitig blockiert, sodass sich das Mädchen zum Schluss in seinem Kleinraumapartment verschanzt hatte, voll Angst, ohne Vertrauen zu sich oder der auf einmal bedrohlich wirkenden Umwelt, ohne Lebensmittel. Nachbarn hatten die Medical Control gerufen, nachdem sie das Mädchen über Stunden schreien hörten. Man hatte sie vorgefunden, mit blutigen Händen, wie sie versuchte, sich das nutzlos gewordene Implantat aus dem Schädel zu graben.

Man hatte sie hierher gebracht, nach Zenith, zu Professorin Paulson. Und damit zu Kaynee und auch zu ihm. Das Team ist perfekt aufeinander eingespielt und genießt bei MedCon eine hohe Wertschätzung, Professorin Paulsons wegen. Daher bekommen sie von den Notfalldiensten nur noch die interessanten Fälle. Keine herkömmlichen Aufspaltungen zur Vollendung des Persönlichkeitssets oder Notfall-Cloud-Absicherungen.

Dazwischen aber nimmt Professorin Paulson immer wieder Patienten an, die mit sehr viel Geld versehen sind und die unbedingt noch eine weitere Persönlichkeit haben wollen. Diese schlummert dann in der Meute – schlummert, bis sie auf Knopfdruck zum Einsatz kommt. Die Männer wollen zumeist einen juvenilen Anteil ihres Sexual-Ichs generieren. Das kommt immer besser als irgendein potenzsteigerndes Mittelchen und hat keine Nebenwirkungen. Die Frauen scheinen in der Masse zufriedener mit dem, was sie haben.

Sanders überlegt kurz. Nein, er hatte noch keine reiche Lady auf dem Stuhl. Seltsam, dass ihm das nie aufgefallen ist. Sanders geht weiter. Die Professorin finanziert mit den Reichen die Pro-bono-Fälle wie Santana.

Pro bono. Sanders schnaubt. Tue Gutes und schweige darüber. Schweige laut und medial, damit es alle mitbekommen. Es funktioniert. Zenith hat lange Wartelisten.

Sanders verdrängt die Listen und konzentriert sich wieder auf Santana. Er muss ihre runderneuerten Daten sichern, verkapseln und Maggie Finch übergeben. Er mag Maggie nicht. Oder gilt seine Abneigung der Institution, die sie verkörpert?

Dabei gibt es an dem Amt für Identitätsschutz, der IPA, nichts auszusetzen. Es ist notwendig geworden, nachdem anfänglich reichlich Schindluder mit Identitätsdiebstahl und Persönlichkeitsschmuggel getrieben worden war. Auf dem Schwarzmarkt hatte es bald nach Erfindung der Persönlichkeitsspaltung einen florierenden Handel mit Sexualsplits gegeben. Dabei waren das meist Hinterhofproduktionen, die, schlecht und stümperhaft gemacht, nur Schaden anrichteten. Die Ursprungsmenschen, denen das gewünschte Muster für den unbekümmerten Playboy, das nymphomanische Weib oder das, was man sich unter einer leidenschaftlichen Hure vorstellte, aus dem Kopf geraubt wurde, waren hinterher kaum lebensfähig. Als »Lost Souls« wussten sie nicht mehr, wer sie waren oder wohin sie gehörten. Diejenigen, die sich die fremden Muster aufspielen ließen, wurden die Geister nicht mehr los, die sie sich aufgeladen hatten. Die Technik war damals noch nicht so raffiniert wie heute. Man konnte anfänglich noch nicht kopieren. Man konnte zunächst nur stehlen. Und nicht wieder zurückgeben. Damals war die Identity Protection Agency aus einer Sondereinheit der Polizei heraus entstanden. In kürzester Zeit wuchsen die über das ganze Land verteilten Einheiten zu einem übermächtigen Wesen heran.

Neben den mobilen Einsatzkräften, die immer noch tagtäglich die Bezirke überwachen, teilt die IPA auch jedem CADIAS wenigstens einen stationären Beobachter zu. Denn in den heutigen, komplett vernetzten Zeiten, ist ein Neuronalmuster der Schlüssel zu jeder Art von Konto, zu Informationen. Zu Computerprofilen. Das Verbrechen hat sich verlagert. Daher wird nach jedem neuen Splitting, Refurbishing oder Back-up das neuronale Muster abgespeichert, eingekapselt und zur Verwahrung an die Datenkrake übergeben. Es dient dem Schutz der Privatsphäre, so sagt man. Man. Man. So sagt man.

Sanders bleibt vor der Tür zu seinem Labor stehen und zückt die ID-Card.

Eine nüchterne Stimme ertönt da in seinem Rücken. Ein Hauch von Tadel schwingt darin mit, aber nicht so offensiv, dass Sanders’ Wachhund anschlägt. »Da sind Sie ja, Sanders. Ich warte schon seit heute Morgen auf die Daten.«

»Miss Finch. Ich habe eben an Sie gedacht.« Er dreht sich zu ihr herum. »Sie bekommen, was Sie wollen. Geben Sie mir zwei Stunden.«

»Nicht eine Minute mehr. Sie wissen, dass ich jede Verzögerung begründen muss. Und ich würde Ihrem Ruf nur ungern … schaden.« Maggie hebt die rechte Braue ein Stück und schürzt die kirschroten Lippen. Dann tritt sie einen Schritt auf Sanders zu und legt dabei ihren Körper in eine dezente S-Kurve. »Ich bekomme also, was ich will, ja? Halten Sie Ihr Wort, Sanders?«

Sanders runzelt die Stirn. Sudresh weiß nicht, wie er auf Maggie reagieren soll. Seine Hilflosigkeit aktiviert Sanders’ Wachhund. »Ich glaube, Sie sollten wieder in Ihren Arbeitsmodus wechseln«, sagt der kühl. »Bevor Ihr guter Ruf Schaden nimmt.« Damit hat der Wachhund genug Laut gegeben, er zieht sich in den Hintergrund zurück, während sich Sudresh wieder zur Tür dreht, die ID-Card vor den Sensor hält und in seinem Labor verschwindet. Die Tür schließt sich mit dem gleichen leisen hydraulischen Seufzen, wie es beinahe allen Türen in dem Gebäude gemein ist.

Maggie Finch wechselt das Standbein, tut so, als ob sie sich den kurzen blonden Bob richten würde, und legt dabei dezent den Schalter hinter ihrem Ohr herum. Dann dreht sie sich abrupt um und geht den Flur hinunter, zu ihrem eigenen Büro. Die Ablehnung ist drei Meter weiter schon vergessen, jetzt hat sie sich um Zeitpläne, Berichte und Sicherheitsstufen zu kümmern.

Als Douglas am Abend wieder in die U-Bahn einsteigt, hat er den guten Vorsatz, sein Socket überprüfen zu lassen, wieder vergessen. Sue hatte ihn aus seinen Überlegungen gerissen, hatte ihm ein Extraprojekt zusätzlich zum Reporting aufgehalst.

Jetzt ist er müde und erschöpft. Die Augen schmerzen von der Bildschirmarbeit, der Kopf ist leer. Womit wird er sich die Zeit vertreiben, wenn er zu Hause ankommt? Er weiß es nicht. Vielleicht etwas lesen, vielleicht etwas zocken. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass er mit einem Bier vor der Videowall einschlafen wird, nur um mitten in der Nacht aufzuwachen und ins Bett zu gehen.

Douglas hat keine Freunde. Im Höchstfall sind es Bekannte, im Regelfall Typen, die er auf seinen eingefahrenen Wegen immer wieder sieht. Sei es der Besitzer des Imbissstandes, der Wachmann seines Blocks oder die Putzfrau in der Firma. Man grüßt sich, wünscht sich einen guten Tag, das war es aber auch schon. Die Sozialpersönlichkeiten sind allesamt mit einer Grundfreundlichkeit ausgestattet, ansonsten aber auch mit einer gehörigen Portion Distanz zum Gegenüber.

Jetzt ist allerdings Feierabend. Die Distanz schwindet, die Menschen drängen sich in der Bahn, die Stimmung ist heiter oder gereizt. Douglas hat seine Hand in eine der Halteschlaufen gehängt und die Augen geschlossen. Er will sie nicht sehen, die anderen. Da wird er angerempelt.

»Hey, Mann, mach Platz. Die Lady muss zur Tür durch.«

Douglas macht einen Schritt zur Seite, die Augen sind noch immer geschlossen. Er will gar nicht wissen, wer da was von ihm fordert. Das ist seine Form des Protestes.

Ein Mensch presst sich an ihm vorbei, und nein, was Douglas da fühlt, ist nicht weiblich. Für einen Moment kotzt ihn die Welt an, in der er lebt. »Lady!« Er schnaubt verächtlich.

Douglas hat Glück, der Wachhund des fetten Typs hat es nicht gehört. Beschwingt verlässt der die Bahn und wendet sich dem Ausgang zu. Mit einem verruchten Lächeln auf den wulstigen Lippen fährt der Fremde auf dem Rollband der Oberfläche entgegen. Die Lady ist ein Vamp.

Douglas steigt eine Station später aus. Die Mauern des Gettos kann man von hier aus nicht mehr sehen, aber sie sind dennoch nahe und manchmal, wenn der Wind von Süden kommt, kann man es riechen. Es ist Douglas immer eine Mahnung, noch härter zu arbeiten, damit er niemals wieder dort landen wird. Denn es ist wahr – er wurde dort geboren.

Douglas wischt sich über die Augen. Er will nicht an das Getto denken. Er will vor allem nicht an seine Eltern denken. Ohne ihren Tod wäre er vielleicht niemals in Suburbia gelandet. Müsste jeden Morgen um den streng reglementierten Einlass in die City kämpfen, um irgendeinen Job zu machen. Douglas sperrt diese Gedanken endgültig aus.

Er schließt die Tür auf, tritt in das Halbdunkel seiner halbwegs komfortablen Einraumvierzonenwohnung. Es geht eine Stufe hinunter, schon steht er im Wohnzimmer, eine Couch, ein Sessel, ein Tisch auf einem verschlissenen Läufer. Sechs Schritte geradeaus ist er am Arbeitsplatz vorbei in der Küche angelangt. Diese besteht aus einer Spüle, einem halbhohen Schrank, auf dem zwei Induktionskochplatten und ein kleiner Ofen stehen, sowie einigen Regalen, mit Lebensmitteln gefüllt. Rechter Hand liegt die Schlafnische mit Bett und Kleiderschrank, mit einem halbhohen Bücherregal vom Rest der Wohnung abgetrennt. Von dort aus geht es ins angrenzende, schlauchförmige Badezimmer.

 

Douglas hat seine Tasche auf dem Schreibtischstuhl abgelegt, seine Jacke auf das Bett gepfeffert und wäscht sich nun im Badezimmer das Gesicht mit kaltem Wasser ab.

Wie soll es weitergehen? Er würde gerne reden. Aber mit wem? Wer wird zuhören wollen, wenn er von Programmen erzählt, die Zahlen und Informationen verwalten?

Er trocknet sich ab, geht zum Arbeitsplatz. Er nimmt sein Smartphone aus dem Office-Bag und steckt es in die Dockingstation. Mit einem Brummen erwacht es zum Leben. Der gläserne tischbreite Monitor schnurrt in die Höhe, bis er mit einem leisen Klacken in der Endposition einrastet. Einen Moment später erscheint die Benutzeroberfläche auf der Scheibe. Douglas greift hinter sich und öffnet den Kühlschrank. Tastet im Türregal herum, erwischt einen kalten Flaschenhals, zieht das Bier heraus und tritt mit dem linken Fuß hinter sich. Die Kühlschranktür ist wieder geschlossen.

Auf dem Bildschirm tummeln sich Werbung und eine KI-generierte Übersicht über Themen, die Douglas interessieren könnten. Heute jedoch will er nicht einem einzigen Link folgen. Mechanisch öffnet er sein Bier und nimmt den ersten Schluck. Setzt die Flasche ab und lauscht in sich hinein. Noch ist alles still. Zu still.