Die wichtigsten Naturwissenschaftler im Porträt

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Galenos

(* 129 [oder 130] Pergamon, † ca. 216 Rom [?])

Der griechische Arzt Galenos aus Pergamon, der sich als Sohn eines Mathematikers und Architekten seit früher Jugend für Mathematik und (Natur-)Philosophie interessierte und ab dem Jahre 145 in Alexandria, Smyrna und Korinth Medizin studierte, begann seine Karriere mit etwa 25 Jahren als Gladiatorenarzt, anfangs in seiner Geburtsstadt Pergamon, ab etwa 162 in Rom, das er allerdings im Jahre 166 nach dem Ausbruch einer Pest­epidemie fluchtartig verließ. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt wurde er jedoch von Kaiser Mark Aurel erneut, dieses Mal als kaiserlicher Leibarzt, nach Rom berufen. Hauptsächlich in die folgenden Jahre in der Metropole der antiken Welt fällt seine ungewöhnlich reiche schriftstellerische Tätigkeit vor allem zu philosophischen und medizinischen Themen, wobei er sich ausschließlich des Griechischen, der damaligen Sprache der Gebildeten und der Wissenschaften im Römischen Reich, bediente. Im Hinblick auf diese fruchtbare Zeit in Rom wurde ihm in der Renaissance fälschlich der römische Gentilname Claudius (griechisch Klaudios) zugelegt. Im Jahre 192 kehrte Galenos schließlich endgültig nach Pergamon zurück.

Galenos ging es offenbar von Anfang an um die naturphilosophischen Grundlagen der Medizin, so dass er neben den Schriften des Begründers wissenschaftlicher Medizin Hippokrates von Kos und der medizinischen Schulen des Hellenismus die Philosophie von Platon, Aristoteles und den Stoikern studierte. Als eklektischer Dogmatiker vereinigte er dann naturphilosophische Ansätze der verschiedenen Schulen mit dem Wissen der gesamten antiken Heilkunde zum einheitlichen medizinischen System der ›Humoralpathologie‹, das über das gesamte arabische und lateinische Mittelalter hinweg noch bis tief in die Neuzeit höchste Autorität genoss und mit der Grundidee selbst das 19. Jahrhundert noch beeindruckte (und in jüngster Zeit sogar innerhalb populistischer Medizinrichtungen wieder aufersteht). Als Arzt war er in erster Linie Hippokratiker, dem der individuelle Befund wichtiger war als alle Theorie und der sich gegen eine starre Anwendung jeglicher Theorie aussprach; in der Anatomie und Physiologie war er dagegen Aristoteliker und ordnete seine zahlreichen durch eigene Beobachtungen und sogar Experimente (am Tier) gewonnenen Erkenntnisse strikt dem aristotelisch-stoischen Prinzip der Teleologie unter, so dass seine Darlegungen trotz empirischer Basis oft spekulativen Charakter erhielten. Dennoch hat er auf vielen Gebieten der Medizin auch große Fortschritte erzielt. Hierzu zählen unter anderem seine Myologie, in der erstmals die einzelnen Muskeln genauestens beschrieben werden, und seine Beiträge zur Zeugungslehre, darunter die Erkenntnis, dass die Hoden die Bildungsstätte des Samens sind. Auch unterschied er bei der Eunuchiebestimmung erstmals zwischen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen und konstatierte einen Kausalzusammenhanges zwischen Samen und Geschlechtsentwicklung. Seine anatomischen Kenntnisse des Menschen blieben dagegen eigentlich auf das Skelett beschränkt, weil er seine Beobachtungen über Organe und Körper durch Tiersektionen, besonders von Affen, gewann und einfach auf den Menschen übertrug – was man allerdings erst in der Renaissance bei Sektionen bemerkte, zu deren Erklärungen die Angaben von Galenos herangezogen wurden. Galenos verfasste neben Abhandlungen über Diagnostik, Therapeutik und Hygiene, über medizinisch-pharmakologische und diätische Spezialprobleme auch einige Kommentare zu Schriften des Hippokrates.

Galenos verband seine auf der Basis der hippokratischen Viersäfte- und Qualitätenlehre entwickelte Humoralpathologie mit einer besonderen Pneumalehre. Er unterschied dazu drei Arten von ›Pneumata‹, die in den wichtigsten Organen säßen: 1. in der Leber das natürliche Pneuma (pneuma physikon), das die Funktion der Ernährung, des Wachstums und der Fortpflanzung steuere; 2. im Herzen das Lebenspneuma (pneuma zōtikon), das die Lebensfunktionen reguliere, indem es Wärme und Leben durch die Arterien verteile; 3. im Gehirn das psychische Pneuma (pneuma psychikon), das Herz, Nerven und somit Gefühle steuere. Auf diesen drei ›Pneumata‹ basierte das physiologische System des Menschen letztlich bis hin zu William Harvey. Für Galenos müssen dann auch die drei Hauptorgane eines jeden Lebewesens, und zwar in dieser nach ihrer Lebenswichtigkeit geordneten Reihenfolge, als erstes gebildet werden: zuerst die Leber mit den Venen, dann das Herz mit den Arterien und endlich das Gehirn. Galenos stellte fest, dass auch die linke Herzkammer und die Arterien Blut enthalten, und nahm daraufhin an (von der Erkenntnis eines Blutkreislaufes war man noch weit entfernt), dass das Blut durch das ›Septum‹, die Herztrennwand, hindurch sickere; denn es sollte in der Leber ständig neu gebildet und im Körper verbraucht werden.

Am nachhaltigsten wirkte Galenos jedoch durch seine wissenschaftlich fundierte Krankheitslehre, in der die Ursachen der Krankheiten und die Fülle der Symptome sowie die Zustände der Leiden sorgfältig untersucht werden, und seine ebenso systematisch humoralpathologisch ausgerichtete Arzneimittellehre. Hiernach werden die in einer Mischung latent erhalten bleibenden Primärqualitäten der Elemente in den aus ihnen zusammengesetzten Pharmaka zu wahrnehmbaren Sekundärqualitäten vereint, aus denen man auf das Verhältnis unter jenen Primärqualitäten rückschließen kann. Die Primärqualitäten würden aber erst wieder im gesamten Körper oder in einem bestimmten Organ, zu dem das Arzneimittel als Vehikel sie trage, wirksam – etwa als hochgradig ›warmer‹ und damit wärmender Pfeffer. Da jegliche Krankheit auf einer für das entsprechende Individuum oder eines seiner Organe ›nicht naturgemäßen‹ (das ist: nicht gesunden) Mischung der Säfte und ihren Qualitäten (›Dyskrasis‹) beruhen soll, werden die Mittel mit ihren erwärmenden oder erkaltenden, erweichenden und verflüssigenden oder trocknend-festigenden Wirkungen vom Arzt ausgleichend eingesetzt (in der Regel als ›reinigende‹, zum Ausscheiden anregende Mittel, sogenannte ›Purgantien‹), bis im Organ oder Körper wieder der ›naturgemäße‹ Mischungszustand (›Eukrasis‹), das richtige ›temperamentum‹ erreicht wird (Theophrastos hatte ja nach dem Übermaß eines der vier Säfte – Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle – im ›Temperament‹ vier verschiedene Charaktere des Menschen unterschieden: Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker). Galenos hat dazu die Wirkeigenschaften der einfachen Mittel (Simplicia) und der aus ihnen zusammengesetzten Mittel (Composita) für jede der vier Primäreigenschaften in vier Grade mit (später) bis zu drei Zwischengraden unterteilt, um sie bei den ebenso in Grade unterteilten Eigenschaften der krankhaften Dyskrasien entsprechend einsetzen zu können. Aufgabe des Arztes oder seines Arzneibereiters (der erst im Mittelalter ein vom Arzt unabhängiger ›Apotheker‹ wurde) war es, durch entsprechende Verfahren (die spätere ›Apothekerkunst‹) die höchstgradigen oder falschgradigen Simplicia im Compositum entsprechend dem Bedarf zu ›korrigieren‹, »lege artis« zu bearbeiten. – Die Medizin und Pharmazie des Galenos wurde im Mittelalter vor allem in der schematisierten Form tradiert, die ihr der Iraner Avicenna (eigentlich Abu Ali al-Husalin Ibn Abd Allah Ibn Sina) in seinem enzyklopädischen ›Canon medicinae‹ gegeben hatte, der bis ins 20. Jahrhundert die arabische und bis ins 17. als maßgebliches Lehr- und Handbuch auch die europäi­sche Medizin beherrschte, bis hier der echte, griechische Galenos an die Stelle des ›arabischen Galen‹ gesetzt wurde.

Alhazen

(eigentlich Abu ‚Ali al-Hasan Ibn al-Hasan

Ibn al-Haitham)

(* um 965 Basra, † 1039 oder später Kairo)

Ibn al-Haitham, im lateinischen Mittelalter kurz Alhazen genannt, war in bereits reiferem Alter nach Ägypten übergesiedelt, wo er einige Jahre im Dienste des Fatimiden-Kalifen al-Hakim stand. Nach dessen Tod oder vielmehr Verschwinden im Jahre 1021 sah Alhazen sich dann gezwungen, seinen Lebensunterhalt in Kairo als Abschreiber mathematischer und anderer Bücher zu erwerben. Er selbst verfasste insgesamt fast 200 Werke mathematischen, physikalischen, naturphilosophischen und medizinischen Inhalts.

Alhazens mathematisches und naturwissenschaftliches Wissen basierte wie das seiner Zeitgenossen im arabisch-muslimischen Kulturkreis auf dem der Griechen, deren Schriften über die syrischen Christen in den Osten vermittelt und schließlich ins Arabische, die Kultur- und Religionssprache des gesamten Islam, übersetzt worden waren. Einer der wirksamsten Vermittler des griechischen mathematischen Schrifttums war der syrische Arzt, Mathematiker und Philosoph Abul Hasan Thabit Ibn Kurra gewesen, der, als Angehöriger der Christentum und Islam trotzenden Sekte der Sabier im seit dem Hellenismus stark von griechischem Denken und griechischer Kultur geprägten Harran, dem griechischen Hellenopolis, durch verschiedene Kulturen geprägt, sich nach einem gründlichen mathematisch-philosophischen Studium in Bagdad mit seinen griechischen, syrischen und arabischen Sprachkenntnissen den sogenannten ›Drei Brüdern‹, den Söhnen des Musa Ibn Schakir, zur Verfügung stellte, die in Bagdad eine Übersetzerschule unterhielten. Thabit ibn Kurra übersetzte hier die Werke griechischer Mathematiker, verfasste aber auch eigene Werke zu Medizin, Mathematik und Astronomie auf der Grundlage der selbst übersetzten und noch nicht übersetzter griechischer Schriften.

Alhazen ging dann in seinen Schriften erstmals verstärkt kritisch mit diesem Wissen um und gab den physikalischen Wissenschaften damit neue Impulse. In starkem Maße führte er auch das (qualitative) Experiment in seine Physik ein und bewies mittels genial erdachter und durchgeführter Versuche, dass die Erklärungen des Aristoteles nicht immer mit den Naturerscheinungen selbst übereinstimmten. Sein Hauptinteresse galt der Optik: Er hatte eine bessere Kenntnis vom Bau des Auges und vom Sehvorgang als seine Vorgänger, kannte die vergrößernde Wirkung von Linsen, untersuchte die sphärische Aberration und versuchte erstmals, aus der Dauer der Dämmerung, also aus dem Stand der Sonne unter dem Horizont während der letzten Dämmerungserscheinung, die Höhe der lichtbrechenden Lufthülle, später von Willebrord Snellius ›Atmosphäre‹ genannt, zu berechnen. Seine ›Große Optik‹, in der seine neuen Erkenntnisse mit dem antiken Wissen zu einem Handbuch vereint waren, wurde zusammen mit dem Werk über die Dämmerungsdauer, dem ›Liber de crepusculis et nubium ascensionibus‹, gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Spanien, wahrscheinlich von Gerhard von Cremona an der Übersetzerschule von Toledo, ins Lateinische übersetzt und 1572 unter dem Titel ›Opticae thesaurus Alhazeni‹ von Friedrich Risner auch gedruckt herausgegeben. Besonders in der Bearbeitung von Roger Bacon und dem schlesischen Optiker Witelo beeinflusste sie stark die abendländische Optik bis hin zu Johannes Kepler.

 

Einen ähnlich nachhaltigen Einfluss übten die kosmologischen Ansichten Alhazens aus, denen zufolge die Planetenbewegungen durch das Zusammenwirken mehrerer fester, undurchdringlicher Äthersphären entstehen, wozu er Vorstellungen, die Ptolemaios abweichend von dem System homozentrischer Äthersphären des Aristoteles für ein mechanisches ›Planetarium‹ entwickelt und Thabit Ibn Kurra ausgearbeitet hatte, zu physischen umformte. Diese nicht, wie bei Aristoteles, konzentrisch, sondern entsprechend den mathematischen Modellen unterschiedlich begrenzten Äthersphären gingen dann als ›physikalische‹ Erklärung der Elemente der mathematischen Astronomie in die ›Theoricae planetarum‹ des lateinischen Mittelalters ein, die, parallel zur mathematischen Astronomie der Sphärik tradiert, die astronomischen Vorstellungen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts mit prägten. Verständlich wird daraufhin, dass Alhazen die ptolemaiische ›Ausgleichsbewegung‹ als unphysikalisch ablehnte und darin eine ungebrochene, aber kaum konsequent bedachte Tradition begründete, die letztlich zwar auf die Kritik von Ptolemaios’ Zeitgenossen Sosigenes zurückgriff, aber bis hin zu Nicolaus Copernicus fortlebte, dessen Ziel ja eine Astronomie ohne dieses Manko ptolemaiischer Astronomie war.

Averroës

(eigentlich Abu-l Walid Muhammad Ibn Ahmad Ibn ­Muhammad Ibn Roschd)

(* 1126 Córdoba, † 10. 12. 1198 Marrakesch [Marokko])

Ibn Roschd, im lateinischen Mittelalter lateinisiert zu Averroës, studierte Rechtswissenschaft und Medizin in seiner Vaterstadt Córdoba auf der Iberischen Halbinsel, deren südliche Hälfte seinerzeit zum Maurenreich gehörte. 1153 hielt er sich in Marrakesch, der Residenz des Kalifen Abu Jakub Jusuf, auf; 1169 wurde er selbst Kadi in Sevilla und zwei Jahre später in Córdoba, wo auch sein Vater und Großvater Kadi gewesen waren. 1182 ­berief Jusuf Averroës als Leibarzt nach Marrakesch, doch entließ er ihn – vermutlich bereits auf Drängen orthodoxer Theologen – rasch wieder. Auch bei Jusufs Nachfolger Jakub al-Mansur stand Averroës anfangs in hoher Gunst; beide Almohadenherrscher waren Förderer von Philosophie und Wissenschaft. Um so mehr verwundert es, dass der Philosoph schon bald in Ungnade fiel und um 1195 nach Lucena, einen kleinen Ort bei Córdoba, verbannt wurde; dies war jedoch offensichtlich ein Zugeständnis al-Mansurs gegenüber den spanischen Theologen, die orthodoxer als die afrikanischen Muslime und in hohem Maße intolerant waren und Averroës wegen angeblicher Koranfeindlichkeit seiner Philosophie mehrfach angeklagt und verhört hatten. Der Kalif hatte nämlich gleichzeitig die Verbrennung der Bücher des Philosophen mit Ausnahme seiner Schriften zur Heilkunde, Arithmetik und elementaren Astronomie befohlen und einen Glaubenskrieg gegen die Christen in Spanien geführt. Nach Marrakesch zurückgekehrt, hob der Kalif auch den Verbannungsbefehl auf und rief Averroës an seinen Hof zurück. Die wiedererlangte Gunst konnte dieser jedoch nur kurze Zeit genießen.

Trotz der Arbeitsbelastung verfasste Averroës während seiner Richtertätigkeit seine bedeutendsten Werke, unter anderen ausführliche Kommentare zu sämtlichen Schriften des Aristoteles, die er zum Teil in drei verschieden ausführlichen Fassungen vorlegte (im Mittelalter, dem diese Schriften um 1250 bereits alle in lateinischen Übersetzungen vorlagen, hieß er deshalb schlechthin ›der Kommentator‹) und die von einer fast religiösen Verehrung für Aristoteles getragen sind. Angeregt hatte dieses Kommentarwerk Abu Bakr Ibn Tufail, der vor ihm Leibarzt in Marrakesch gewesen war und auf dessen Einfluss wesentlich die Erneuerung der ›echten‹, unverfälschten aristotelischen Lehren im 12. Jahrhundert zurückgeht. Zur Gruppe um Ibn Tufail zählte auch der Astronom Nur ad-Din al-Bitrudschi (lateinisiert: Alpetragius), der im Zuge dieser Rückbesinnung die aristotelische Himmelsphysik erneuerte und gegen Ptolemaios und seine Anhänger die zur Erde konzentrischen Bewegungen der Planetensphären verteidigte. Seine Schrift ›Über die Bewegungen der Himmel‹, die um das Jahr 1185 entstand, wurde bereits 1217 von Michael Scotus, dem Hofastronomen Friedrichs II. und wohl erfolgreichsten Übersetzer wissenschaftlicher Werke aus dem Arabischen, ins Lateinische übertragen und konnte starken Einfluss auf die Himmelsphysik der Scholastik in Westeuropa bis hin zur Erneuerung der Astronomie ausüben.

Neben seinem ›Corpus Aristotelicum‹ verfasste Averroës eine Reihe von philosophischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und medizinischen Werken und verteidigte Wissenschaft und Philosophie gegen die Angriffe, die ihnen von den muslimischen Theologen entgegengebracht worden waren. Mit Averroës starb der letzte Repräsentant der Philosophie und Wissenschaft des Maurenreiches. – Es waren dann besonders seine Lehren von dem anfanglosen Bestehen der Welt und dem Weltgeist oder der Weltvernunft, die sich nicht in der Seele des einzelnen Menschen vervielfältige, vielmehr allen Menschen gemeinsam sei und sich nur vorübergehend mit der Einzelseele verbinde, welche seine Anhänger, die sogenannten Averroisten, und seine Gegner, unter denen vor allem Albertus Magnus und Thomas von Aquino, die den Christlichen Aristotelismus schufen, zu nennen sind, heiße Kämpfe austragen ließen. Eine Folge dieser Lehren war nämlich beispielsweise das Leugnen der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Averroës suchte diese und andere Lehren dadurch mit dem ›Koran‹ zu harmonisieren, dass er dessen Aussagen einen mehrfachen Sinn unterlegte, während einzelne christliche Averroisten dem Konflikt mit dem Wortlaut der Bibel und der herrschenden Theologie dadurch zu entgehen suchten, dass sie davon ausgingen, etwas könne durchaus philosophisch wahr, aber theologisch falsch sein – womit ihnen einerseits die Möglichkeit gegeben war, zur Aussage der Bibel Widersprüchliches oder widersprüchlich Erscheinendes wenig­stens spekulativ zu durchdenken, und andererseits langsam der Boden vorbereitet wurde für die spätere strenge Scheidung der Theologie von Philosophie und Naturwissenschaft. Wegen dieser ›doppelten Wahrheit‹ wurden die averroistischen Lehren und die Averroisten 1270 an der Universität Paris und in der Folgezeit überall nördlich der Alpen verboten; in Italien konnte daraufhin insbesondere Padua zu einer Hochburg des Averroismus werden, der dann noch die methodischen Überlegungen eines Galileo Galilei beeinflussen sollte.

Robert Grosseteste (Greathead)

(* ca. 1168 Stradbrook [Suffolk],

† 9. 10. 1253 Buckden [Buckinghamshire])

Um die Heiligen Schriften besser verstehen zu können, wuchs in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts im christlichen Abendland das Bedürfnis, über die relativ bescheidenen Sachkenntnisse, die in den lateinischen Enzyklopädien der römischen Antike über die Natur tradiert und aus den seit der Karolingischen Renaissance des ausgehenden 8. Jahrhunderts zugänglichen Kompendien des Boethius über die Disziplinen der mathematischen Künste des Quadriviums entnommen worden waren, hinausgehendes Wissen zu erlangen. Das war angeregt durch die Universalienfrage, ob Allgemeinbegriffe (Ideen) tatsächlich existieren (Realismus) oder bloße vom Menschen erfundene Begriffe und ›Namen‹ sind, dem allein existierenden Einzelding nur beigegeben (Nominalismus), woraufhin sich das Interesse wieder mehr den individuellen materiellen Dingen zuwandte. Adelard von Bath reiste daraufhin an die Orte der Quellen, Salerno (Medizinschule), Sizilien und Syrien, und wurde durch seine lateinischen Übersetzungen und die Kenntnisse der Muslime verarbeitenden Schriften zum ersten gezielten Vermittler griechisch-arabischer Wissenschaft an das christliche Abendland, was dann insbesondere auf Sizilien und in Spanien, wo die beiden Kulturen aufeinander trafen, eine rege Übersetzertätigkeit auslöste. Daraufhin wurden im Laufe des 12. Jahrhunderts die meisten der arabisch sprechenden Gelehrtenwelt bekannten griechischen und die wichtigsten arabischen Werke in lateinischen Übersetzungen zugänglich, bis um 1250 dann sogar die arabische Kommentarliteratur zu Aristoteles und anderen wichtigen Autoren. So wurde in kurzer Zeit dem am von Boethius allein ins Lateinische übersetzten ›Organon‹ des Aristoteles logisch-wissenschaftstheoretisch geschulten christlich-lateinischen Abendland eine gewaltige Fülle mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissens, das sich über anderthalb Jahrtausende angesammelt hatte, mit einem Schlage bekannt – das jetzt natürlich in die christlichen Glaubensvorstellungen zu integrieren war; und das machte ähnliche Schwierigkeiten, wie sie den muslimischen Gelehrten von den Wächtern der Theologie entgegengebracht worden war. – Weniger Schwierigkeiten, Vernunft und Glauben zu vereinen, hatten dagegen die mehr augus­tinisch-neuplatonisch ausgerichteten Gelehrten, deren ›Physik‹ noch an dem seit der Antike lateinisch zugänglichen ›Timaios‹ Platons ausgerichtet war und die somit einerseits Mathematik in die erklärende Physik einbeziehen, andererseits aber auch im Sinne des Aristoteles zwischen den Aussagefähigkeiten der ›Physik‹ und ›Mathematik‹ unterscheiden konnten. Prädestiniert für eine Vernunft (Naturwissen) und Glauben verbindende Sehweise erwies sich daraufhin die Optik als Ausdruck neuplatonischer Lichtmetaphysik, galt doch seit Augustinus und anderen Neuplatonikern das Licht als Analogon einerseits der göttlichen Gnade und andererseits der Erleuchtung des menschlichen Gei­stes durch die göttliche Wahrheit. Einer der einflussreichsten Vertreter einer solchen Lichtmetaphysik war Robert Grosseteste.

Grosseteste wurde wahrscheinlich in Lincoln unterrichtet, studierte dann Philosophie, Mathematik und Medizin in Oxford, wo er 1198 im Hause des Bischofs von Hereford wohnte. Spätestens seit 1209 lehrte er auch an der Universität Oxford, deren ›Kanzler‹ er 1215–1221 war, nachdem er die theologische Magi­sterprüfung (wahrscheinlich in Paris) abgelegt hatte. Ihm wurden zwar in der Folgezeit mehrere kirchliche Ämter übertragen, doch blieb er seiner Universität als Lehrer treu und wurde 1229/30 zusätzlich ›lector‹ der Theologie für die Franziskaner, die 1224 in Oxford eine der Universität angeschlossene Ordensschule gegründet hatten. Der Einfluss, den Grossetestes auf die Ausbildung der englischen Franziskaner, die er auf gründliche Studien der Mathematik und Naturwissenschaften ausdehnte, ausübte, hielt auch an, als er 1235 Bischof von Lincoln wurde und deshalb Oxford verließ; denn dieses unterstand wie die Universität seinem Bischofsstuhl. Zu einem großen Teil verdankte die Universität ihr Emporkommen und den guten Ruf im Mittelalter der umsichtigen Tätigkeit Grossetestes als Kanzler und Bischof.

Die Erneuerung naturwissenschaftlicher Studien im lateinischen Mittelalter ging im wesentlichen von England aus, und Grosseteste, der Lehrer von Roger Bacon, war einer ihrer Prot­a­gonisten. Er wirkte nicht nur als Übersetzer von Schriften des Aristoteles und anderer griechischer Autoren unter Umgehung, wenn auch nicht in Unkenntnis der arabischen Tradition – 1230 hatte er eigens dazu mit dem Studium der griechischen Sprache begonnen – und als Kommentator theologischer und naturwissenschaftlicher Werke der Antike, sondern auch durch eine Reihe selbständiger naturwissenschaftlich-philosophischer Werke. Hierin stellte er seine kosmologisch-physikalischen Theorien dar und erprobte seine wissenschaftliche Methode hauptsächlich an optischen und astronomischen Problemen. Die Methode hatte er im Anschluss an Aristoteles innerhalb eines Kommentares zu dessen Wissenschaftstheorie, den ›Analytica posteriora‹, ent­wickelt. Sie stellt die erste systematische Theorie einer Experimentalwissenschaft (im Sinne von Erfahrungswissenschaft) dar und wurde von Roger Bacon weiter ausgebaut. Zugrunde liegt ihr die aristotelische Unterscheidung zwischen der Erkenntnis einer Sache (›demonstratio quia‹, ›demonstratio a posteriori‹) und der Erkenntnis der Gründe für eine Sache (›demonstratio propter quid‹, ›demonstratio a priori‹). Drei wesentliche Aspekte kommen dabei zum Tragen, der induktive (im weiteren Sinne wie bei Aristoteles), der experimentelle (ohne dass diesem bereits das Vertrauen des 17. Jahrhunderts entgegengebracht würde, häufig dagegen ›experimentum‹ noch bloße Erfahrung meinte) und der mathematische (Einfluss Platons). Aufgabe der Induktion sei es, aus der bestimmten, sinnlich wahrnehmbaren Wirkung durch einen aufsteigenden Abstraktionsprozess die Ursachen zu entdecken, um dann deduktiv aus diesen Ursachen wieder die Wirkungen abzuleiten. Er nannte die beiden Abschnitte ›resolutio‹ (griechisch ›analysis‹) und ›compositio‹ (›synthesis‹). In der ›resolutio‹ werden die aufbauenden Prinzipien oder Elemente, die ein Phänomen zu bestimmen scheinen, nach Ähnlichkeit und Verschiedenheit aussortiert und klassifiziert. Daraus ergibt sich eine erste, ›nominelle‹ Definition. Aus einer Sammlung von Beispielen für das untersuchte Phänomen werden allen gemeinsame Eigenschaften ausgesondert; was die Beobachtung empirisch als Beziehung erfasst hatte, wird so als ›gemeinsame Formel‹ bestätigt, und zwischen häufig zusammen auftretenden Eigenschaften werden Kausalbeziehungen vermutet. Die ›compositio‹ ordnet dann das gewonnene Material so um, dass die Beziehung vom Allgemeinen zum Besonderen die der Ursache zur Wirkung wird. Wie für Aristoteles bleibt so auch für Grosseteste die Möglichkeit bestehen, durch Intuition ein Grundprinzip wiederholt beobachteter Erfahrungen zu erkennen. Zwischen falschen und richtigen Theorien entscheiden dann speziell angeordnete Experimente oder – wo dies nicht möglich ist – eine ›reductio ad absurdum‹ beziehungsweise analoge Beobachtungen (Experimente) und eine Ableitung der Phänomene aus den intuitiv gewonnenen Prinzipien. Als Voraussetzung für die Erkennbarkeit des auszusondernden Falschen gilt für Grosseteste die als Prinzip der göttlichen Schöpfung postulierte Uniformität der Natur und ein Ökonomieprinzip. – Trotz aller Methode sei aber die Strenge eines mathematischen Beweises in der Naturwissenschaft nicht erreichbar, ihre Aussagen blieben stets von minderer Sicherheit – selbst wenn sie sich mathematischer Begriffe bediene. Aus deren Anwendbarkeit – allerdings nur auf die Beschreibung der Wirkungen – ergebe sich somit zwar der Grad der Sicherheit, doch seien mathematische und physikalische Voraussetzungen für die Theorie gleich wichtig.

 

Es handelt sich also um eine Methode, die ausgehend von Aristoteles als Theorie gerade wieder das 17. Jahrhundert be­herrschen sollte (scheinbar neu entwickelt von Francis Bacon und Galileo Galilei). Alle Diskussionen über die Methode setzen jedoch eine Naturphilosophie, eine Vorstellung von dem, was Ursachen und Prinzipien sind, und von deren Wirkungen

voraus; und diese war bei Grosseteste noch die des Aristoteles. Folglich unterscheiden sich auch die ›experimentellen‹ Ergebnisse der Theoretiker des 13. Jahrhunderts von denen der des 17. Jahrhunderts grundlegend. Aber die ›Physik‹ des Grosse­teste wird so notwendig zum Versuch einer Synthese jener des Aristoteles und jener Platons (des Neuplatonismus), und es ist verständlich, dass in diesem Rahmen die geometrische Optik eine große Rolle spielt und Grosseteste versucht, im Anschluss an neuplatonische Ideen in dem Objekt dieser mathematischen Wissenschaft, im korpuskular aufgefassten Licht, das materielle und dynamische Grundprinzip der sinnlichen und übersinnlichen Welt zu sehen.

Das Licht, ›lux‹ als ›prima materia‹ und ›prima forma‹ im ari­stotelischen Sinne, selbsterzeugend und selbstvermehrend mit instantaner kugelförmiger Ausbreitung, sei die erste körperliche Form (›corporeitas‹), und auch der Raum sei erst eine Funktion des Lichtes und seiner Wirkungsgesetze. (Ähnliches sollte sehr viel später Albert Einstein von der Gravitation annehmen.) So entstünden aus dem Urlicht nicht nur die wahrnehmbaren Arten des Lichtes (›lumen‹, Farben und anderes), sondern auch die Trägerkörper, und somit der ganze Kosmos. Auch mit dieser, bis ins Detail ausgeführten, grandiosen lichtmetaphysischen Deutung der Welt und des physikalischen Geschehens hat Grosseteste besonders in neuplatonischen Kreisen bis ins 17. Jahrhundert gewirkt.