Die Pilzner

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Pilze sammeln oder suchen?

(Friedo gibt Strategie und Taktik des Pilzners preis)

Weder noch. Der Pilzner geht in die Pilze. In anderen europäischen Breitengraden jagt er Pilze. Hunting mushrooms, wie der Engländer sagt. Oder er fängt Pilze ein, wie es im isländischen Gletscherdialekt heißt. Was, wie allgemein in den nordischen Sprachen, die Anerkennung der Tatsache bedeutet, dass unsere Wald-, Wiesen- und Kellerpilze keinesfalls als rein pflanzliche Lebewesen angesehen werden. Das hat zur Konsequenz, dass der norwegische oder finnische Vegetarier im Prinzip keine Pilze essen soll. Der Volksglaube im Norden stellt den Großpilz in eine Reihe neben den schabernäckigen Troll und die schnell vorüberwehende Elfe. Im übrigen, unsere Altvorderen gingen ebenfalls auf die Pilzjagd, weil sie, so die Überlieferung, an der Jagd auf Wild nicht teilnehmen durften. Auch werden Pilze von Manchen geerntet. Wo bleibt aber da das Abenteuer? Oder gar gepflückt. Hocken wir uns denn wie die Kindlein in die Blumenwiese? Oder aufgestöbert wie die Trüffeln im französischen Périgord – was wir besser den Trüffelschweinen überlassen sollten. Zumal wir schon genug zu tun haben, uns über das Borstenvieh in unseren Kiefernwäldern zu ärgern.

Entschieden wichtiger als diese Frage sind doch die Antworten auf das Wo und Wann und auf das Warum und Warum-nicht, was wohl jeder Leser und auch der Beschauer der Bilderbücher über Pilze bestätigen wird. Zuvor aber muss für den Pilzfreund Klarheit herrschen, welcher Pilz genießbar und welcher giftig ist, versteht sich.

Beginnen wir mit dem Wo.

Am besten immer rechts versetzt hinter Hellmut! Und zwar je nach Geländeart zwei Schritte – Waldweg – bis zu zwölf Schritten – ausgedünnter älterer Baumbestand. Denn Hellmut hat von uns allen das beste Gespür, wo essbare Pilze stehen könnten. Dafür hat er ein beneidenswertes Bauchgefühl. Er hat aber auch eine ausgeprägte Blickfeldeinengung am rechten Auge, die nach außen gerichtet ist. Also rechts von ihm gehen, nicht links. Er übersieht die Pilze auf dieser Seite, auf die du mit größerer Wahrscheinlichkeit triffst als wenn du allein durch den Tann stolperst. Oder besser: Er sieht sie gar nicht erst. Und das nimmt er hin wie der Glatzkopf die fehlenden Haare, es beunruhigt ihn nicht. So wechseln wir uns rechterhand hinter ihm jeweils zu Beginn der Aktion und nach Rastpausen ab, was er wohlwollend akzeptiert. Steht er einmal nicht zur Verfügung, sind unsere Körbe regelmäßig weniger gut gefüllt.

Wer keinen Hellmut kennt oder selber kein Hellmut ist, wenn es in die Pilze geht, dem seien sämtliche Vorkommensmöglichkeiten als Standorte empfohlen, vorausgesetzt, es ist ein gutes Pilzjahr. Dann spannen sich die fruchttragenden Bodenhabitate vom durchnässten Quellwasserufer im Erzgebirge bis zum prasseltrockenen Sandweg in der Uckermark. Im Wald und auf der Heide. Auf Wiesen, Weiden, im Straßengraben und selbst auf asphaltierten Bürgersteigen.

Wir hatten es in den letzten Jahren aber mit miesen Pilzjahren zu tun. Da ist guter Rat teuer, und um den geht es ja hier. Also, geben wir uns bescheiden und halten uns mal ein solches Jahr mit geringem Pilzaufkommen vor Augen. Dann helfen uns diese Regeln. Erst der Weg und dann der Wald! Waldränder an Wegen, Lichtungen und Schneisen sind trächtiger als die Zwischenräume von Baum zu Baum. Dies deshalb, weil Regen und Tau vom Nadelwerk der Bäume kaum zurückgehalten werden und schnell auf und in den Boden gelangen. Und weil die wärmenden Strahlen der Sonne vor allem auf Südhängen = Nordrändern ungehindert in die obersten Bodenschichten eindringen können. Dass die helleren Lichtverhältnisse das Pilzwachstum fördern, ist ein Ammenmärchen (mit Ausnahmen, was sonst). Der Pilz sehnt sich eher nach Mond als nach Sonne, wie manche meinen. Nordhänge = Südränder abzusuchen ist hingegen nicht zu raten, wenn wir es mit einer Hitze- und Trockenperiode zu tun haben.

Ein weiterer Grund ist, dass man einen größeren, unverstellten Bodensektor absuchen kann. Geht es dann in den Wald hinein, heißt unsere goldene Regel: Große Leute unter hohe Bäume, kleine Leute ins Dickicht. Sie hat nichts damit zu tun, dass die kleinste Person bei uns eine Frau ist. Gerda kommt regelmäßig mit zerkratztem Handrücken und einer Schramme an der Stirn nach Hause.

Auch Hellmut, obgleich größer und massiger von Wuchs, ist für die Schonung geeignet. Trotz seines Beinleidens bewegt er sich im Wald ohnehin wie ein Wiesel, sobald er Pilze riecht. Das mit dem Riechen ist bei ihm möglicherweise wörtlich zu nehmen und nicht nur auf die Stinkmorchel zu beschränken. Jedenfalls hat er nicht den Blickwinkel eines Hünen, und das ist die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Unterholzpirsch.

A propos Blickwinkel: Beim Längsten von uns, meiner Person, ist der Winkel so ausgelegt, dass er ständig als Erster einen ziemlich entfernt stehenden Steinpilz entdeckt. Dafür tritt er die Marone zu seinen Füßen nieder, er übersieht sie einfach. Bei Hellmut verhält es sich genau umgekehrt. Wir haben Pilzgänge erlebt, an deren Ende, also nach drei Stunden des Suchens, Hellmut und ich viele unserer Beutepilze getauscht haben. Steinpilze gegen Maronen im Verhältnis 1:1. Diese Abschweifung möge jedenfalls beweisen, dass die angesprochene Regel realistisch ist.

Und dann gibt es für den Hausgebrauch viele weitere Taktiken, an welcher Stelle ich meinen Pilzkorb füllen kann oder ihn mit größeren Erfolgsaussichten zumindest dorthin tragen sollte.

Wiesenchampignons wachsen auf Wiesen und Weiden, Waldegerlinge im Wald. Das sagt schon der Name. So auch Birkenpilze, die unter Birken und Lärchenröhrlinge, die unter Lärchen wachsen. Doch Achtung: Der Dachpilz wächst nicht unter einem Dach und der Hexenpilz nicht unter einer Hexe. Diese Wahrheit soll aber öfter von Ausnahmen begleitet sein. Uns allen ist der Fall von Theo Müller bekannt, einem befreundeten Pilzner aus Bitterfeld, der einmal seine Frau mitgenommen hatte. Als er tags darauf ohne sie an die Stelle kam, wo sie sich zur Brötchenzeit ins Moos gelagert hatte, fand er einen zweieinhalbpfündigen Hexenpilz.

Um irgendwelche Rufbeschädigungen zu vermeiden, verlegte er, wenn er auf diese Geschichte zu sprechen kam, das Ganze in den Nordharz, wo die Hexen ohne Ehemänner frei herumtanzen. Übrigens, Gerda fand an der nämlichen Stelle, es war nicht weit von der denkmalgeschützten Ureiche im Tornauer Forst, einen riesigen Satanspilz. Und zwar, nachdem sie sich die Woche davor mit ihrem damaligen Verehrer an den Glückspilzen im Moos erfreut hatte. Danach ging sie wieder mit uns in die Pilze.

Manche Pilze findet man garantiert bei anderen Pilzarten. Diese Regel erfasst all das, was der Fachmann vergesellschaftetes Pilzmyzel nennt. So wäre der Fliegenpilz als Flaggpilz zu nennen: Steht der Fliegenpilz bereit, ist der Steinpilz nicht mehr weit. Nur im Fliegenpilzjahr 2006 winkten die roten Männlein dorthin, wo kein Steinpilz zu sichten war. Oder ein anderes Beispiel. Erstaunlicherweise ist in unseren Breiten der giftige Rote Klassentrichterling mit dem edlen, im Süden ergiebigen Kaiserling vergesellschaftet. Die Ochsenzunge gehört aber nicht zum Kuhpilz und die Hirschtrüffel nicht zum Rehpilz.

Ein weiteres Standortkriterium, von der Pilzaufklärung oft übergangen, ist die pH-Wertigkeit des Waldbodens. Unsere Erfahrung, auf welchem Boden welcher Pilz lebt, bezieht sich so gut wie nicht auf alkalische Böden, weil die in unseren östlichen Forsten kaum vorkommen. Am ehesten noch dann, wenn der Kalkflieger versehentlich die doppelte Menge ausgestreut hat.

Dann wächst schon mal der kalkliebende Netzstielige Hexenpilz neben seinem säureliebenden Flockenstieligen Namensvetter. Unser Wissen kommt von Biotopen, die neutral wie die Falschen Pfifferlinge bis sauer wie die eingelegten Zitronentäublinge sind. Um ein Beispiel aus unserem Lieblingsrevier zu nennen: Auf säuerlichem Boden herrscht dort der Steinpilz vor, begleitet von vereinzelten Maronen und Sandpilzen.

Drei Kilometer Luftlinie nordwestlich davon ist der Boden ganz sauer. Dort stehen selbst in Dürrezeiten haufenweise die Maronen, selten von Steinpilzen durchmischt. So ist es seit sieben Jahren. Die Jahre davor war alles genau umgekehrt. Letztlich ist das dem Röhrenpilzfan aber egal. Hier ist vom Herzberger Land die Rede. Es ist eine ebene brandenburgische Sandbodengegend, deren Alleen, Baumgruppen und Getreidefelder eine bedächtige, wohltuende Ruhe aussenden. Gesäumt von stillen Kiefernwäldern, fließt mittendurch die Schwarze Elster.

Einige der wertvollsten Pilze kommen nur auf ganz speziellen Böden vor. Viele Tintlinge auf Müllhaufen zwischen Straßenrand und Straßengraben, dort also, wo sich der Modder ansammelt und die Zigarettenkippen und Papiertaschentücher der Autoinsassen landen. Ein Tintling ist übrigens derjenige Pilz unserer Wälder gewesen, der zu DDR-Zeiten am stärksten angepasst war: Der Schopftintling.

Hier seine damals gültige Visitenkarte:

Es steht ein grauer Tintling

gleich einem seltnen Findling

im Schutt am Straßenrand.

Da roch es nach Trabant.

Der Trabi fuhr vorbei –

aus Tinte wurde Blei.

Der Tintling wurde giftig.

Und gibt sich jetzt bleistiftig.

Er ist ein Pilz für’s Schreiben.

Das möchte er auch bleiben!

Der Butterpilz sprießt stets im Gras vor oder zwischen dichten Jungkiefern, niemals im Waldesinneren. Den selteneren ringlosen Butterpilz gibt es nur bei Kiefern mit fünf Nadeln am Spross, weil diese gegenüber den zweinadligen ebenso selten sind. Der Riesenbovist bevorzugt flache Wiesenmulden, damit er nicht wegrollen kann. Der Hallimasch kommt gar nicht oder überall vor. Wenn er vorkommt, dann vor allem auf alten Baumstümpfen und -stämmen.

 

Schließlich zur entscheidenden Frage nach dem strategischen Wo. Wo also, anhand welcher Merkmale, finde ich einen idealen Pilzfleck, der „mein Fleck“, „meine Stelle“ werden könnte? Was macht den Fleck mit seiner Haupteigenschaft aus, dass nämlich dort zuverlässig bestimmte Pilze vorkommen und wachsen? Dass er geheim ist.

Wolli hatte über zehn, zwölf Jahre einen Privatfleck, den er selbst uns zunächst nicht verriet. Jedes Mal, nachdem er für ein halbes Stündchen in das Waldstück verschwunden war, kam er mit vollem Korb heraus, selbst in pilzarmen Monaten. Bis er eines Tages mit nur drei mickrigen Perlpilzen zurückkam; ohne ersichtlichen Grund blieb sein Korb leer: Kein Chemiegigant wurde dort in Betrieb genommen, kein Baum wurde zu Bruchholz verwandelt, kein Brand vernichtete den Jagen, ja nicht einmal Försters Wildschweine zogen zum Preispflügen los – plötzlich blieb das Pilzwachstum aus. Und andere Pilzgänger waren keine Konkurrenten für ihn, zumal es sich um einen Schießplatz in der Annaburger Heide handelte. Nicht, dass die Maronen zu Zielscheiben für Scharfschützen geworden wären. Nein, das Biotop hatte sich verändert, die Wachstumsbedingungen für das Pilzmyzel waren umgeschlagen. Und bis auf den heutigen Tag, also neunzehn Jahre hindurch, ist es unfruchtbar geblieben. Heut muss sich Wolli mit unseren gemeinsamen, oftmals weniger trächtigen Flecken begnügen, die sich im Laufe der Jahre natürlich veränderten: in der Höhe und Standdichte der Bäume, in ihrem Alter, im Mikroklima, im Säureeintrag in den Boden, im Wildschwein- und Haarwildbesatz usw. Da helfen auch ein noch so gutes Geländeorientierungs- und Pilzeinfühlungsvermögen nicht, geschweige denn sein Pilzblick. Futsch ist futsch – das gilt leider allzu oft für gute Flecken auch in traditionell pilzreichen Großbiotopen.

Das lehrte uns zuletzt der „Bunker“, ein buchenes Steinpilzparadies rechts und links der Stelle, an der zwei Schienenstränge über die Straße von Söllichau nach Korgau verlaufen. Siebzehnmal haben Pilznerschaften von uns in den letzten drei Jahren dort vorbeigeschaut, null mal haben sie etwas gefunden. Stille Rache des ehemals gesperrten, geheimen, verwahrlosten, verminten Vorgeländes einer militärischen Führungsanlage? Wehmut beschleicht uns, wenn wir dort vorbei kommen. Wie standen sie nicht dort, die gesündesten Steinpilze, zuverlässig selbst bei widrigen Großwetterlagen und starkem Pilzgängeraufkommen an Wochenenden!

Verklärung ist für den Durchschnittspilzner eine größere Triebfeder als Naturerlebnis, Abenteuerlust, Entdeckerfreude oder Genusserwartung! Kein Waldstück verklärt sich für ihn aber jemals, wenn es von Brombeersträuchern, Brennesselruten und manchen Farnwedeln umsäumt oder gar durchsetzt ist. Denn dort hält sich kein Myzel. Die ideale Verklärung eines fruchtbaren Biotopbodens hingegen lässt vor dem inneren Auge ein Stück Nadelwaldboden entstehen, das moosbewachsen und ganz leicht grasdurchsetzt ist, von Erika- und auch Heidelbeerkraut umstanden wird, das pralle süße, kirschgroße Früchte trägt ... Da wären wir wieder bei der Verklärung, genauer bei der Verklärung der Verklärung. Und bevor noch ein kartoffelsackgroßer Steinpilz ins Bild kommt, wollen wir lieber die Pausenklingel in der Jägerlateinschule schellen lassen.

Ein Männlein steht im Walde ...

(Friedos neue Erkenntnisse zur Kulturgeschichte des Fliegenpilzes)

Zur Einführung lasse ich Wolli zu Wort kommen, der diese Geschichte anfangs der 1980er Jahre in der Dübener Heide erlebt hat:

„Wenn du einmal hier bist, dann solltest du auch einen Blick hineinwerfen. Natürlich befolgte ich die Aufforderung dieses Moduls meiner Selbstgespräche, das sich aktiviert, sobald ich im Wald bin. Also, dreihundert Meter nördlich vom Bertagrab rechts ran an die Einmündung eines Waldweges auf die F2. Taschen nach Leinenbeutel und Messer abgeklopft, Auto abgeschlossen und rein in den Wald. Nach zwei Minuten war ich an der Stelle: Etwa achtzig Jahre alte Kiefern grenzten an ein Waldstück mit jüngeren Bäumen, schütteres kniehohes Gras, einige dünne Birken. Ein paar Meter von dort, wo unlängst mitten auf dem Weg ein verglaster Hochstand stand. Möglicherweise mit Hochstandheizung und Zielwasserbar.

Doch wo waren die Fliegenpilze? Fliegenpilze standen ein paar herum zwischen den Bäumen, nicht aber an dem bewussten Fleck. Maronen waren einige da, genauer lagen herum, frisch geschlüpfte, ohne Fehl und Tadel, bis auf die, die am Stiel oder Hut eingedrückt waren. Wer bloß hat sie so würdelos behandelt? Ich sammelte ein, was brauchbar war. Wildschweine können das nicht gewesen sein. Die hätten auch die Fliegenpilze umgeworfen. Also, warum sah ich keine? Ich bin auf die würzigen Maronenröhrlinge aus, habe mich hier aber all die Jahre von den benachbarten Fliegenpilzen heranwinken lassen. Ich umkreiste die Stelle, ging in die Knie, um einen anderen Blickhorizont zu gewinnen - und fand ein Russenkäppi. Darunter ein hühnereigroßer, in seinem gelben Rot leuchtender Fliegenpilz mit Hüllresten am Hutrand, die seinen Stielansatz wie ein weißer Schal umschlossen. Ein Pilzchen wie gemalt! Vom Regenwasser frisch gewaschen, geradewegs zum Reinbeißen.

Zum Reinbeißen? Da dämmert es bei mir. Waren das vor zwanzig Minuten nicht zwei voll besetzte Mannschaftswagen, die im Militärkonvoi die Straße Richtung Wittenberg dahinzuckelten? Dann müssten auch die frischen Reifenspuren am Straßengraben von den Fahrzeugen der Soldaten stammen. Ist doch klar! Wenn sich eine Kompanie ruhmreicher Sowjetsoldaten auf Fliegenpilze stürzt, bleibt kein Pilz stehen. Weil sie nämlich bei ihnen hoch im Kurs stehen, ganz besonders bei den Sibirjaken, um sie als Rauschmittel zu konsumieren. Seien sie ihnen gegönnt.

Ich hatte damals keine Ahnung, was das ist: Rauschmittel. Wir wussten vom Hörensagen nur, dass man in westlichen Gefilden Drogen als Pulver, Pillen oder Spritzen für teures Geld kauft oder klaut und schluckt, durch die Nase zieht oder spritzt. Und dass man die Welt dann rosarot sieht, allen Ärger vergisst, sich stark wie der gleichfarbige Panther fühlt und dergleichen Halbwissen mehr.

Und wie ich so nachdachte, was mir mein Vater vom Fliegenpilz alles erzählt hat, hörte ich, wie es von der Straße her quietscht und rumpelt. Ein Auffahrunfall?

Auf dem Rückweg zum Auto schossen mir seine Worte in den Sinn, dass der Fliegenpilz Fliegenpilz heißt, weil er, in Milch gebrockt und aufs Fensterbrett gestellt, das sicherste Mittel ist, lästige Fliegen loszuwerden. Das kannte er nicht nur aus dem elterlichen Hause, sondern hatte es auch bei Leuten in der Sowjetunion gesehen. Aber gieriger noch als die Fliegen, meinte er, waren 1949 die Wachsoldaten im sibirischen Gefangenenlager nach Fliegenpilzen gewesen. Ein paar Bissen davon geschluckt, und bald darauf hätten sie angefangen, mit den Gliedern zu zappeln, die Augen zu verdrehen und sich selber zu malträtieren.

Plötzlich stürzten drei braune Uniformen auf mich zu, zwei mit Glatze, ihr Schiffchen in der Hand, und eine Schirmmütze. Also wieder ein Mannschaftstransport. Der Offizier zu mir: Woher ich das Käppi hätte, was in dem Säckchen drin wäre. Ein Soldat tastete mich ab. Das Pilzmesser! Ich müsste mitkommen, auf der Kommandantur würde alles geklärt werden.

Sie geleiteten mich zum Mannschaftswagen, setzten mich ins Führerhaus. Die beiden Soldaten blickten mürrisch ihren Kameraden hinterher, die in den Wald ausgeschwärmt waren. Die ersten kehrten zurück, zwei, drei Fliegenpilze im Schiffchen, ihrem Käppi.

In einem Raum mit vergitterten Fenstern, er gehörte zur sowjetischen Kommandantur in Leipzig, hatte ich dann bis zum Morgen Muße, über meine dumme Pilzneugier nachzudenken. Unterbrochen von zwei kurzen Verhören in der Nacht. Gegen neun Uhr durfte ich die Kommandantur verlassen.

Ich meldete mich telefonisch krank bei meinem Chef und suchte nach einer Fahrgelegenheit in die Dübener Heide. Gegen Mittag war ich bei meinem Trabi. Es fehlten die beiden Vorderräder, der Rückspiegel sowieso, der Hauptschalldämpfer und das Auspuffrohr mit dem Nachschalldämpfer. Das waren aber nicht die Russen.“

Die Geschichte sollte hier etwas vertieft werden, weil es zwei Umstände geradezu herausfordern: Einmal wird behauptet, dass der Name des Fliegenpilzes nichts mit der für Fliegen todbringenden Wirkung zu tun habe. Zum anderen glauben Manche, das Männlein, das einsam und purpur gewandet im Walde steht, könnte auch ein Fliegenpilz sein.

Zuvor aber noch der Hinweis darauf, dass man in den ländlichen Haushalten von der mit Fliegengift angereicherten Kuhmilch abgelassen hat, seit die Stubenkatzen eines Tages fast alle auszusterben drohten. So jedenfalls erzählte es Wollis Vater. Er kannte auch den Fliegenfänger noch, der vor rund hundert Jahren erfunden wurde: Ein mit klebriger Masse getränktes Band von 50 oder mehr Zentimetern Länge wurde aus seiner Hüllkapsel herausgezogen und an die Zimmerdecke gehängt. Im Herbst musste der Fliegenfänger nach drei Tagen erneuert werden. Oder er riss infolge beträchtlicher Gewichtszunahme. Bei der Oma landete einmal das mit toten und halbtoten Fliegen übersäte Klebeband auf dem angerichteten Kirmeskuchen. Die Fliegenklatsche, ein vielgestaltiges, doch einfaches Gerät zur Selbstverteidigung, gibt es hingegen schon so lange, wie es die Gemeine Stubenfliege gibt. Die Klatsche ist aber wenig effektiv und neigt zu schmerzhaften und verlustreichen Fehlschlägen. Den Katzen sollten diese instrumentalen Variationen zur Fliegenbekämpfung eher recht gewesen sein.

Was nun den Namen des Pilzes betrifft, herrscht im europäischen Sprachraum Einhelligkeit, natürlich mit den obligatorischen Ausnahmen: Überall kommt die „Fliege“ oder zumindest etwas Gefahrdrohendes für Fliege oder auch Mensch in der Bezeichnung vor! So im Niederländischen (vliegenzwam), Schwedischen (flugsvamp), Dänischen (fluesvamp) und Norwegischen (fluesopp); im Italienischen (ovolo malefier, frei übersetzt „Unheil bringender Kaiserling“) und im Französischen (amanite tue-mouches – so viel wie „Fliegentöterwulstling“); im Polnischen, Russischen und Tschechischen (,wo er muchomor u.ä. lautet, was soviel wie „Fliegenmassensterbling“ heißt), ja selbst in der nicht indoeuropäischen Sprache der Ungarn; hier heißt er légyölö galóca, „Fliegenknollenpilz“. Natürlich hat auch sein lateinischer – wissenschaftlicher – Name den Fliegenbezug: Amanita muscaria. Nur die Spanier und, wie könnte es anders sein, die Engländer tanzen aus der Reihe, halten sich nicht an die Lautung in ihren romanischen und germanischen Schwestersprachen. Hier heißt er neutral oronja falsa, „Falscher Kaiserling“ und dort skurril toadstool, „Krötenschemel“.

Die Namensübereinstimmung spricht nicht nur sprachlich dafür, dass in einem großen gemeinsamen Kulturraum etwas einhellig bezeichnet wurde, was den gleichen Haupteffekt liefert. Hier sollten sich mal vergleichende Mythologie, Geschichte religiöser Riten und Volksetymologie zusammentun und ein glaubhaftes Resümee abliefern für die nächste Generation der bunten Pilzbücher, damit endlich die Widersprüche in den betreffenden Aussagen der Vergangenheit angehören. Und die Chemiker sollten erst mal alle Gifte im Fliegenpilz isolieren und bestimmen, das ist nämlich noch nicht vollständig geschehen. Dann werden sicher die Stimmen zum Schweigen gebracht, die mit ihren Antifliegentot-Thesen laut geworden sind: Die Fliegen seien nach ihrer Pilzmahlzeit nicht verendet, sondern bloß in Ohnmacht gefallen. Um danach wieder quicklebendig zur nächsten Pilzmilchschale zu fliegen? Und der Name rühre daher, dass im Mittelalter, als er geprägt wurde, Fliegen mancherorts als Symbole des Wahnsinns galten. Oder auch: Fliegen und Mücken würde die Macht innewohnen, Menschen zum Fliegen zu bringen. So was Irres! Können sich ganze Völker und Nationen so geirrt haben, als sie den Namen für den Pilz prägten und allgemein akzeptierten? Oder aber wir haben uns gründlich geirrt, und zwar dann, wenn in grauer Vorzeit andere Dinge Realität gewesen sind. Beispielsweise hätte vor tausend Jahren der Fliegenpilz gut und gerne einen blauen Hut haben können und nach Coca-Cola geschmeckt haben. Wie auch immer.

Die namentliche Übereinstimmung beim Fliegenpilz gewinnt, sehen wir einmal von den wenigen Ausnahmen ab, an Gewicht, wenn wir die Namen anderer Pilzarten hernehmen. Nicht eine weist diese Übereinstimmung auf! Nehmen wir als Beispiele von den bekannteren Pilzen den Steinpilz und den Pfifferling, um ihre offiziellen Namen in den gewählten Sprachen zu sondieren.

Wir stoßen auf ganz unerwartete Bezeichnungen: Im Englischen heißt er „Gelbling“, im Niederländischen „Eichhörnchenbrot“, im Schwedischen „Karljohanspilz“; im Französischen nennt er sich cèpe, was nicht zu übersetzen ist, im Italienischen „Schweinepilz“ und im Spanischen „Speiseticketling“. Polnisch und Russisch ist es der „Waldling“, Tschechisch der „Pilz“ schlechthin, Ungarisch der „Herrschaftliche Röhrling“. Es ist Boletus edulis, unser geliebter Steinpilz. Keine Spur mehr von einheitlicher Namensgebung.

 

Das ist auch beim Pfifferling der Fall, der in seinen verschiedenen, allein offiziellen Namen in Europa etwas zu tun hat mit Eiern, Gesängen, Hähnen, Hennen und Füchsen, einen unübersetzbaren Namen trägt oder, da unbekannt, im einheimischen Allgemeinwortschatz nicht aufzufinden ist.

Hinter gleichen Namen stehen gleiche Erfahrungen und Erkenntnisse, oft auch gegenseitiger Austausch. Unter den Pilzen ist es eben der Fliegenpilz, der in unseren Breiten zu den bekanntesten zählt. Und weiter östlich auch zu den beliebtesten.

Der Feldweg steigt sanft an. Rechts und links Maisfelder, Weiden, Kartoffeläcker. Am Wegrain wetteifert roter Klatschmohn mit blauen Kornblumen um die Gunst des Wanderers. Die Natur ist ein Malkasten, der Strahl der Sonne zaubert die Farben hinein. Daran wollen auch die Schmetterlinge teilhaben, die in der Spätsommerluft hin und her schwanken. Hell und eingefärbt von Lebenslust sind Gesang und Geschwätz der Vögel, die zenithoch stehen oder auf den knorrigen Ästen der wenigen Apfelbäume hocken.

Vorn dann fesselt den Blick ein dunkleres, weites Grün, das bald den nahen Horizont ausfüllt. Nach unten zu setzt es sich erdfarben auf den strauchbestandenen Saum ab, der Feld und Wald miteinander verflicht. Am Waldesrand gräbt sich der Weg in den Boden, als wolle er ein Hohlweg werden. Und mutig stößt er nach einem leichten Bogen in das Dunkel des Waldes hinein, aus der hellen Heiterkeit der Felder in das vornehm gedämpfte Licht zwischen den Bäumen. Einzelne Föhren verstecken sich zwischen den Fichtenstämmen. Einige Birken, sie haben auf das glatte Weiß ihrer Haut gern verzichtet, stehen am Wegrand. Die Luft unter den Nadelbäumen ist angenehm kühl. Es herrscht eine andere wunderbare Ruhe. Sie umschmeichelt den Wanderer, der noch die Ruhe der Weite in sich trägt. Sie ist auch hier mit Vogelstimmen angefüllt, weniger bunt in den Tönen jedoch, gedeckt in den Farben.

Ein kaum merkliches Rauschen erfüllt die Luft. Das Schattenspiel der Wipfel auf dem Weg macht fröhlich.

So weicht der Wanderer vom Weg ab, setzt seinen Fuß in den federnden Nadelboden. Und läuft, der Weg hat es ihn zuvor gelehrt, geradewegs hinein in den schütteren Schatten der weit stehenden Bäume. Dort sind es keine hohen Fichten mehr; es wurden gedrungene, knorrige Bäume, weit auslandend, dicht an dicht.

Da ward er mit einemmal eines kleinen Männleins gewahr, das zwischen den Fichten erschien und mutterseelenallein dastand. Es hatte von lauter Purpur ein Mäntlein um ...

Und das soll ein Fliegenpilz sein? Noch dazu purpurfarben, was überhaupt nicht geht? Oder gar eine Hagebutte, wie es Kinderliederexperten behaupten? Nie und nimmer! Den Fliegenpilz jedenfalls hätte unser Wanderer schon am Waldrand antreffen müssen, spätestens zwischen den Birken und Randfichten. Und zwar in Gesellschaft weiterer Artgenossen, so gut wie niemals allein. Gleiches gilt auch für die Hagenbutte, die noch weniger einsam vorkommt und noch mehr Sonnenwärme braucht. Da gibt es ohnehin seit hundertfünfzig Jahre die Ungereimtheit, dass das Liedchen vom allein stehenden Männlein in den meisten Liederbüchern zwei Strophen, in wenigen anderen drei Strophen hat. In der zweiten trägt es ein „schwarz Käpplein“, und in der dritten, falls vorhanden, heißt es „Das Männlein dort auf einem Bein ... kann nur die Hagebutte sein“. Was hat sich der Herr Heinrich Hoffmann von Fallersleben da bloß ausgedacht? Ihm zur Ehrenrettung sei angemerkt, dass die dritte Strophe überhaupt nicht eines Meisters Werk sein dürfte. Weil sie weder in Versfuß, Versmaß, Silben- und Zeilenzahl noch im Reimmuster mit den ersten beiden Strophen übereinstimmt – und so mit der vorgegebenen Melodie nicht sangbar ist. Denkbar ist aber auch, dass Hoffmann von Fallersleben mit diesem „Rätsel“ seine Zeitgenossen verkohlen wollte.

So möge unser Pilzfreund weiter wandern und sich weiter wundern, was er denn da gesehen hat. Vielleicht wird ihm ein prominenter Ammenmärchenforscher Auskunft geben. Auf die Idee, es könnte sich in Wirklichkeit um einen entführten und laufen gelassenen Gartenzwerg handeln, der sich verirrt hat, ist leider noch niemand gekommen.

Wir aber wollen unser Landschaftsbild von der Heide nicht weiter mit mysteriösen Pinselstrichen überschmieren lassen und die Welt der Pilze mal aus einem anderen Blickwinkel einsehen.

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