Der Weg zur Energiewende

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A. SMITH war der erste, der das Individuum in den Vordergrund stellte und die Rolle des Staates nur noch in der Herstellung und Sicherung eines Ordnungsrahmens sah. Mit seiner Theorie von Angebot und Nachfrage, letztlich vom Markt, wurde er zum Vater künftiger Generationen von Volkswirtschaftlern. Er erklärte auch die Mechanismen des wirtschaftlichen Wachstums, vor allem in Buch 2 seines Hauptwerks „Wohlstand der Nationen“14(1776). Stadt- und Landwirtschaft sah er aufeinander bezogen an, eine grundsätzliche Betrachtung der Ressourcen, auch ihre Begrenzung, fehlt jedoch noch bei ihm. Für ihn ersetzte die Kohle das Holz ad infinitum.15 So gilt er heute (auch) als Vordenker des „fossilen Kapitalismus“.

Das änderte sich erst mit A. ST. JEVONS und dessen Hauptwerken „The Coal Question“ mit dem Untertitel „An Inquiry Concerning the Progress of the Nation, and the Probable Exhaustion of our Coal-mines“ von 1865 und „Theory of Political Economy“ (1871). Während letzteres stark beachtet und rezipiert wurde, blieb die Resonanz für The Coal Question begrenzt, was wir heute wohl anders sehen würden.

Für JEVONS, der auch Geologe war, war klar, dass sich die Kohlevorräte erschöpfen würden: „[…] a vague notion that some day our coal seams will be found emptied to the bottom, and swept clean like a coal-cellar.“16

JEVONS’ numerische Analyse ging von zwei Annahmen aus: einer jährlichen Verbrauchssteigerung von 3,5 % und einer deutlichen Preissteigerung für immer tiefere, bis 4000 Fuß reichende Gruben. Im Ergebnis kam er auf 100 Jahre (oder auf nur zwei Generationen) bis zum Fördermaximum mit anschließendem Abstieg.17 Wie recht er im Grundsatz hatte, zeigt Abb. 2‑2. The Coal Question wurde zeitgenössisch attackiert, jedoch kam es zu mehreren Royal Commissions, die zu prüfen hatten, ob ein Erreichen des Fördermaximums Englands führende wirtschaftliche Position gefährden könnte.18

Abb. 2‑2:

British Coal Production 1830 – 1980; Source of Data: Mitchell (1988)

Bekannter als diese Aussagen wurde ein Detail aus seiner ökomischen Theorie, das sogenannte JEVONSSCHE Paradoxon. Es bestand im Beispiel darin, dass Englands Kohlenverbrauch nach der Einführung der WATTSCHEN Dampfmaschine anstieg, obwohl sie sehr viel effizienter war als die von NEWCOMEN. Die Erklärung lag und liegt auf der Hand: der erreichte sparsame Energieverbrauch hatte eine steigende Verbreitung der Dampfmaschine und eine Ausdehnung der Anwendung in andere Bereiche zur Folge und führte damit zu dem insgesamt erhöhten Kohlenverbrauch. Übersetzt ins Allgemeine: Die effizientere Nutzung eines Rohstoffes ermöglicht Preissenkungen, die einen Anstieg der Nachfrage und neue Marktsegmente ermöglichen und damit die ursprüngliche Effizienzsteigerung aufheben – was heute in der ökonomischen Theorie unter Reboundeffekt bekannt ist.

Ressourcenschonung und ökologische Aspekte wurden in der Technik erst vergleichsweise spät wahrgenommen. Um 1850 stand fast ausschließlich die Produktgenerierung bis zur Fertigung im Mittelpunkt. Speziell der Fertigungsprozess und alle späteren Phasen des Produktlebenszyklus waren noch kein Gegenstand der Reflexion. Das Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge und für die Endlichkeit von Energie- und Materialressourcen war nur schwach ausgebildet.

Die industrielle Entwicklung hatte die Begrenztheit der agrarwirtschaftlichen bzw. vorindustriellen Ressourcenbasis überwunden, oder man glaubte dies zumindest. In der Ökonomie fand das seine Spiegelung im Bild eines säkularen Wirtschaftswachstums, das aus immer wiederkehrenden, sich selbst regulierenden Umläufen von Güter- und Geldströmen entsteht. Auf der Seite der Technik entsprach diesem ökonomischen „perpetuum mobile“ die Idee eines ständigen Fortschritts, der aufgrund kontinuierlich verbesserter Methoden auch die für das Wachstum erforderliche fossile Energie und die notwendigen Rohstoffe beschaffte.

Es war eine Art von Kreislaufmodell19, das auch von den Naturwissenschaften gestützt schien. Die notwendige Korrektur kam 1824 von S. CARNOT mit dem Verständnis des thermodynamischen Wirkungsgrades und der Folgerung, dass alle realen Vorgänge irreversible Komponenten enthalten und die Rückkehr in den Urzustand immer nur über die Zufuhr von Energie läuft.20

Die beiden sogenannten Hauptsätze der Thermodynamik21 verallgemeinerten um 1850 diese Einsichten, sodass H. VON HELMHOLTZ 1862 von einem konstanten „Kraftvorrat des Weltganzen“ sprechen konnte, der aus zwei Teilen bestünde, nämlich einem ständig kleiner werdenden „Vorrat, der die Änderungen unterhält“, und einen dauernd zunehmenden „Vorrat, der keine Änderungen mehr möglich macht“.22

Bei den Technikern wurde vor allem der „Erhaltungssatz“ rezipiert und als Bestätigung des Kreislaufmodells verstanden. Es war R. CLAUSIUS, der hier deutlicher wurde und verständlicher formulierte, „daß ein Naturgesetz aufgefunden ist, welches mit Sicherheit schließen läßt, daß in der Welt nicht alles Kreislauf ist, sondern daß sie ihren Zustand fort und fort in einem gewissen Sinne ändert und so einem Grenzzustande zustrebt“.23 Und später, in einer gesonderten Veröffentlichung von 1885 ganz konkret hinsichtlich der sorglosen Verwendung der Kohle: „Diese verbrauchen wir nun, und verhalten uns dabei ganz wie lachende Erben, welche eine reiche Hinterlassenschaft verzehren. Es wird aus der Erde heraufgeschafft, so viel sich durch Menschenkraft und technische Hilfsmittel nur irgend heraufschaffen lässt, und das wird verbraucht, als ob es unerschöpflich wäre.“ Er forderte in der gleichen Schrift, den Bedarf künftig so weit wie möglich mit heute so genannten regenerativen Energiequellen zu decken, insbesondere mit elektrisch übertragener Wasserkraft. Während das vergangene Jahrhundert der Menschheit die Naturkräfte dienstbar gemacht habe, „werden die folgenden Jahrhunderte die Aufgabe haben, in dem Verbrauch dessen, was uns an Kraftquellen in der Natur geboten ist, eine weise Ökonomie einzuführen, und besonders dasjenige, was wir als Hinterlassenschaft früherer Zeitepochen im Erdboden vorfinden, und was durch nichts wieder ersetzt werden kann, nicht verschwenderisch zu verschleudern.“24

Auch der langjährige VDI-Direktor F. GRASHOF rügte 1877 den verschwenderischen Kohlenraubbau und forderte einen schonenden Umgang mit den Energieressourcen, vor allem durch „Gleichgewichts- und Kreislauftechniken, die die auf der Welt insgesamt konstante Arbeitsmenge nur immer wieder nutzbringend umschichten“ sollten.25 Das lief auf eine Notwendigkeit des Haushaltens mit den endlichen Naturvorräten hinaus.

Die Mahnungen blieben jedoch ohne Folgen. Die Erschließung immer neuer Rohstoffvorkommen und Kraftquellen im Inland und vor allem in den Kolonien ließ die Vorräte als nahezu unendlich erscheinen, wie Veröffentlichungen von z.B. 1888 zeigen: „Hiernach würde Deutschland bei einer gleichen Gewinnung wie die gegenwärtige von rund 60 Millionen Tonnen für 1 Jahr noch für etwa 6.000 Jahre Kohle besitzen oder den gegenwärtigen Verbrauch Europas auf etwa 1.500 Jahre decken.“26

Dann kam es Ende des 19. Jahrhunderts jedoch mit der „energetischen Bewegung“ des Physikochemikers A. W. OSTWALD zu einem neuen Impuls. Sein übergreifender metaphysischer Ansatz verband Physik, Technik und Staat durch sein Grundprinzip von der Verbesserung des Nutzens: „Der ökonomische Koeffizient der Energietransformation ist so wirklich der allgemeine Maßstab menschlicher Angelegenheiten.“27 1912 formulierte er seinen Energetischen Imperativ: „Vergeude keine Energie, sondern nutze sie!“28

OSTWALDS Verdienst ist es damit, ein normatives Leitbild einer „dauerhaften Wirtschaft“ geschaffen zu haben, letztlich ein Vorläufer der „sustainable economy“. Er hatte damit auch Resonanz, allerdings mehr zufällig aufgrund des „Kohlennot-Alarms“ von 1900, einer hochkonjunkturbedingten massiven Kohlenknappheit.29

Das Denken in Wirkungsgraden verbreitete sich schnell in der Technik und führte vor dem Ersten Weltkrieg zu einer „progressiv-technokratischen Ingenieurbewegung, die sich z. T. auch kritisch gegen die Kaufleute in den Unternehmungsleitungen richtete und latent antikapitalistisch war. Ziel dieser Bewegung war der Kampf gegen jegliche Vergeudung von Energie-, Material- und Arbeitsressourcen in der Gesamtwirtschaft.“30

Der erste Weltkrieg verschärfte unter dem Eindruck der Knappheit die Bemühungen um rationelleren Umgang mit den Ressourcen. Namentlich sind hier W. RATHENAU und W. VON MÖLLENDORF zu nennen, die sich für eine generelle Verbrauchssenkung von Energie und Rohstoffen einsetzten, bei RATHENAU 1917 dazu noch verbunden mit allgemeinen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen: „Heute ist jeder Verlust, jede Verschwendung Sache der Gemeinschaft.“31 Ähnliche Reformansätze gab es in den USA, auch hier von den Ingenieuren ausgehend. Sie reichten dort über das Kriegsende hinaus und manifestierten sich in einer „Revolt of Engineers“.

Mit der Rückkehr zu „normalen“ Verhältnissen nach dem Krieg mit gutem Angebot von Energie und Rohstoffen in den 1920er Jahren verflachte in den USA wie in Deutschland die energetische Bewegung zu einer Rationalisierungsstrategie nach TAYLOR und FORD. Der „Energetische Imperativ“ war etwas für Notzeiten gewesen, den man bei einem reichen Angebot an Rohstoffen und Energieträgern schnell wieder vergaß. Fast typisch wiederholte sich dieser Prozess im und nach dem zweiten Weltkrieg. Erst die Debatte über die Grenzen des Wachstums der 1970er Jahre und vor allem die beiden Ölpreiskrisen 1973–1975 und 1979–1982 beendeten diese Phase des sorglosen Umgangs mit Rohstoffen und Energie.

Die Mahnungen aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten zwar keine unmittelbaren praktischen Folgen für den Umgang mit Energie gehabt, wie oben erläutert. Aber sie hatten doch die Reichweitendiskussion angestoßen, die auch nach dem Aufkommen des Erdöls die Szene bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts beherrschte, als sich mit der Kernenergie eine scheinbar unerschöpfliche Energiequelle auftat. Ihre Ergebnisse wurden zwar jeweils zur Kenntnis genommen, gaben jedoch keinen Anlass zum grundlegenden wirtschaftlichen oder technischen Wandel, zumal sich immer Korrektive auftaten. So bewahrheitete sich die Prognose einer schnellen Kohlenkrise nicht – mit dem Beginn der Erdölnutzung ab 1859 gab es für die Kohle Konkurrenz und zumindest partiellen Ersatz.

 

Die Problematik der Reichweite der Vorräte stellte sich allerdings auch hier. Sie wurde sogar offensichtlicher und führte zu etlichen Kassandra-Rufen: die mühsam erschlossenen Ölfelder erschöpften sich oft binnen weniger Jahre. Das zeigte sich früh in den USA, die den Erdölboom 1859 mit der Bohrung von DRAKE in Pennsylvania angestoßen hatten. DRAKES Bohrung war zwar nicht der erste erfolgreiche Fund – 1844 hatte schon der russische Ingenieur F. N. SEMYENOV mit einem Schlagbohrsystem eine erste Ölquelle im auch heute noch genutzten Ölfeld von Bibi-Eibat erschlossen – jedoch verfügten die Amerikaner über das Patent des kanadischen Arztes und Geologen A. P. GESNER auf die Herstellung von Petroleum aus Kohle oder Erdöl. Das gab dann den Ausschlag für ihre künftig führende Rolle im neu entstehenden Ölmarkt.

„Schon 1910 erklärte das US-Bergbauamt, die Erdölvorräte würden nur noch für 10 Jahre reichen.“32 1919 findet sich mit 20 Jahren eine nächste kurze Reichweitengabe und 1922 ermittelten US-Regierungsgeologen, dass die amerikanischen Quellen 1940 versiegt sein würden. Sogar der Begriff „Ölnot“ zirkulierte und wurde von ROCKEFELLER im Kampf um weltweit neue Erschließungsrechte politisch genutzt.33

In der Folge mehrten sich die Reichweiten-Prognosen für Kohle und Öl, die häufig nicht vergleichbar waren, da die Begriffe wechselten oder unscharf verwendet wurden. Schon länger unterscheidet man korrekt34

 Reserven (bestätigte Reserven): Teil des Gesamtpotentials, der mit großer Genauigkeit erfasst wurde und mit den jeweiligen technischen Möglichkeiten wirtschaftlich gewonnen werden kann.

 Ressourcen: Teil des Gesamtpotentials, der entweder nachgewiesen, aber derzeit nicht wirtschaftlich gewinnbar ist, oder geologisch noch nicht genau erfasst ist.

 Gesamtpotential: Die Summe aus Reserven und Ressourcen, also das verbleibende Potenzial für den zukünftigen Verbrauch.

 Statische Reichweite: Der Wert entspricht dem Verhältnis der jeweils bekannten Reserven zur Ölproduktion des jeweils abgelaufenen Jahres (engl. Reserve-to-Production-Ratio). Dass die statische Reichweite lediglich eine Momentaufnahme liefert und künftige Nachfrageänderungen in die Berechnung nicht einfließen, war zwar grundsätzlich bekannt, fand aber erst viel später Eingang in die offiziellen Statistiken.35

Mit den 1920er Jahren haben wir jedoch schon eine Epoche erreicht, in der ein neuer und letztlich bedrohlicherer Aspekt Beachtung fand: die ökologischen Folgen der Nutzung von Bodenschätzen und fossiler Energie. Zu Beginn des Jahrhunderts war erstmals ein Zusammenhang zwischen der Oberflächentemperatur der Erde und einem Anstieg des CO2 in der Atmosphäre durch die Industrialisierung thematisiert worden. Allerdings fehlten damals die Daten für einen Nachweis der These, s. Kap 4, Klimadiskussion: Treibhauseffekt.

Schon im 19.Jahrhundert hatte es bereits erste Schritte zum Naturschutz gegeben. 1872 beschloss der amerikanische Kongress die Einrichtung des Yellowstone National Park. Dies gab Anregung auch für andere Nationen, z.B. Schweden, das 1909 die ersten Nationalparks einrichtete. Einige der ersten internationalen Bemühungen um den Naturschutz waren dann36

 1911, erste internationale Konferenz für Vogelschutz in Paris,

 1913, erste internationale Konferenz für Naturschutz in Bern,

 1923, 1. Internationaler Kongress für Naturschutz in Paris,

 1925, 1. Deutscher Naturschutztag in München.

Bis zu internationalen Abkommen war es jedoch noch ein weiter Weg – erst mussten zwei Weltkriege geschlagen und überwunden werden.

Regenerative Energien und deren Nutzungsmöglichkeiten waren Anfang der 1930er Jahre durchaus bekannt. Ihre Entwicklung, insbesondere der Weg zu Solar- und Windenergie, wird in späteren Kapiteln beschrieben.

Der Ersatz von Kohle und Öl durch nachhaltige Quellen wurde jedoch erst langsam zum Thema. Einer der ersten war der Sachbuchautor H. GÜNTHER, der sich hier grundsätzliche Gedanken machte.37 Er propagierte im Hinblick auf die Endlichkeit der Kohlevorräte eine Welt ohne Kohle und eine Energieversorgung über Solarenergie, Wellenkraftwerke, Windtürme, etwaige Zyklonenergienutzung sowie Wärme aus tropischen Meeren und der Erde als Energiequellen.

Aufmerksamkeit erreichten solche Publikationen – Konsequenzen hatte sie jedoch lange nicht. Dies hatte mindestens vier Ursachen:

 In den 1930 bis 1950er Jahren war die Welt mit dem Phänomen des Nationalsozialismus, den Kriegsvorbereitungen Deutschlands, der Kriegsführung selbst und nicht zuletzt den Folgen des Krieges mehr als beschäftigt.

 1910 wurden die ersten Erdgasfunde in Deutschland bei Neuengamme nachgewiesen. Die erste „Deutsche Verordnung zur Suche nach Erdöl und Erdgas” aus dem Jahr 1934 machte sichtbar, dass die Nutzung von Erdöl und Erdgas inzwischen auf dem Weg zum Allgemeingut war. Die Verordnung regelte die Konzessionsvergabe und formulierte Sicherheitsvorgaben für Förderung und Verarbeitung. In den 1960er Jahren wurde Erdgas erstmals im großen Stil zum Beheizen von Häusern genutzt. Damit war eine weitere neue Energiequelle gefunden und für die Energieversorgung nutzbar.

 Im August 1955 begann in Genf auf der ersten Konferenz der Vereinten Nationen das Zeitalter der zivilen Nutzung der Kernenergie. Auf Präsident D. D. EISENHOWER geht die Initiative zurück, die friedliche Nutzung der Kernenergie auch für jene Staaten zu öffnen, die (noch) nicht im Besitz atomarer Waffen waren. Vor allem in der jungen Bundesrepublik war die Euphorie besonders groß. K. ADENAUER gründete im Oktober 1955 ein Bundesministerium für Atomfragen; zuständiger Minister wurde F. J. STRAUSS, der für Deutschland die Chance sah, sich mittels Kerntechnik in der „vordersten Reihe der Industrienationen“ zu behaupten.

 Die ursprünglich als begrenzt angesehenen Reserven und damit Reichweiten von Kohle und Erdöl, später auch von Erdgas vergrößerten sich entgegen den Erwartungen massiv.

Was den letzten Punkt der Reichweiten betrifft, begnügen wir uns hier mit der Sicht auf Bilanzen um die Jahrtausendwende. Hierzu gab und gibt es immer wieder neue Schätzungen, die es näher zu verfolgen nicht lohnt. Für die Kohle deutet sich in Abb. 2‑3 ein Phänomen an, das auch bei Öl und Gas wiederkehrt: die relative Konstanz der prognostizierten Reichweiten über die Erhebungsjahre, bei Öl und Gas sogar deren Anstieg, s. Abb. 2‑4 und Abb. 2‑5.

Abb. 2‑3:

Weltweite Kohleförderung, Preis und Vorräte in Verbrauchsjahren, Förderung in Mrd. Tonnen1888–1999, Preis pro Tonne in US-$ von 2000 und Vorräte in Verbrauchsjahren 1975–1999 in hundert Jahren; Quelle: B. Lomborg, Apocalypse No!, Abb. 70

Dass sich trotz steigenden Verbrauchs die Reserven bis zur Gegenwart konstant oder leicht ansteigend zeigen, hat nachvollziehbare Gründe:

 Die Exploration geschieht nur mit kurzem Vorlauf zu Verbrauch bzw. Nachfrage, nicht auf Vorrat – das wäre zu teuer. So werden immer neue Funde gemeldet.

 Die Ausbeutung der Ressourcen verbessert sich ständig. So werden Vorkommen interessant, deren Förderung bis dahin nicht lohnend erschien. Ein Beispiel sind die Ölsande in Nordamerika, speziell Kanada.

Abb. 2‑4:

Ölvorräte in Verbrauchsjahren, Ölreserven weltweit Im Vergleich zur Jahresproduktion, 1920–2000 (bis 1944 nur USA); Quelle: B. Lomborg, Apocalypse No!, Abb. 66

Abb. 2‑5:

Weltweite Erdgasförderung. Erdgaspreise, Vorräte in Verbrauchsjahren. Förderung in Exajoule 1925–1999, Preise 1949–2000 in US-$ von 2000 pro Gigajoule und Vorräte in Verbrauchsjahren 1975–1999; Quelle: B. Lomborg, Apocalypse No!, Abb. 69

Während sich also die Reichweitenproblematik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts relativierte, nahm die Wahrnehmung von Natur und Umwelt national und international zu, wie mehrere Abkommen und Bündnisse belegen:

 1946 KRW, Internationale Konvention zur Regelung des Walfangs,

 1948 Gründung der Welt-Naturschutzorganisation,

 1959 Antarktisvertrag,

 1961 Gründung der OECD, der Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,

 1968 Europäische Wassercharta.

Erste Regierungsverantwortung für den Umweltschutz in Deutschland übernahm im Herbst 1969 Innenminister GENSCHER in der sozialliberalen Koalition BRANDTS38. Er erkannte, welche Gestaltungsmöglichkeiten ihm der Themenstrauß in der neu übernommenen Abteilung „Gewässerschutz, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung“ bot. Er suchte als erstes nach einer Alternative zum sperrigen Namen der Abteilung und entschied sich für „Abteilung U“, mit U für den in Deutschland noch kaum bekannten Begriff „Umweltschutz“ (wohl vom englischen environmental protection). Bald stellte GENSCHER ein „Sofortprogramm zum Umweltschutz“ vor, 1971 folgte das erste Umweltprogramm einer deutschen Bundesregierung.39 Bis zu seinem Wechsel an die Spitze des Auswärtigen Amts im Jahr 1974 setzte GENSCHER ein ambitioniertes Reformprogramm um, für das es nicht nur in Deutschland kein Vorbild gab. Er legte u.a. das Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm, das Benzinbleigesetz, das Abfallbeseitigungsgesetz und das Bundesimmissionsschutzgesetz vor, schuf den Sachverständigenrat für Umweltfragen und gründete das Umweltbundesamt in Berlin. Zum Naturschutzbeauftragen der Bundesregierung machte er den international anerkannten Frankfurter Tierarzt und Verhaltensforscher B. GRZIMEK.

1972 wurde dann für den Umweltschutz zum Schlüsseljahr. Die UNO stellte sich diesem Thema und berief eine Weltkonferenz über die menschliche Umwelt mit dem Ziel einer Bestandsaufnahme aller Umweltgefahren ein (5.−16. Juni 1972 in Stockholm).

 Mit der Konferenz in Stockholm 1972 begann die internationale Umweltpolitik. Ihr kalendarischer Beginn, der 5. Juni, ist heute noch der „Internationale Tag der Umwelt“.

Im Abschlussdokument der Umweltschutzkonferenz, der „Deklaration von Stockholm”, bekennen sich die 122 Teilnehmerstaaten (ohne die Ost-Staaten) zur Grenzen überschreitenden Zusammenarbeit, zu 26 Prinzipien für Umwelt und Entwicklung und dazu, dass zwar jeder Staat seine eigenen Ressourcen heben kann, dabei aber anderen Staaten kein Schaden zugefügt werden darf.

Auf Vorschlag der Stockholmer Konferenz wurde im gleichen Jahr durch die UN-Vollver-sammlung das UN-Umweltprogramm (UNEP) mit Sitz in Nairobi/Kenia gegründet. Ins Leben gerufen wurde auch das Erdbeobachtungssystem „Earthwatch”, ein Aktionsplan zum Monitoring und zur Bewertung der globalen Umwelt.40