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Jenseits von Gut und Böse

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261

Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit: er wird versucht sein, sie noch dort zu leugnen, wo eine andre Art Mensch sie mit beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken suchen, welche sie selbst von sich nicht haben – und also auch nicht "verdienen" – , und die doch hinterdrein an diese gute Meinung selber glauben. Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos und unehrerbietig vor sich selbst, zur andren Hälfte so barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit gern als Ausnahme fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr redet, anzweifelt. Er wird zum Beispiel sagen: "ich kann mich über meinen Werth irren und andererseits doch verlangen, dass mein Werth gerade so, wie ich ihn ansetze, auch von Andern anerkannt werde, – aber das ist keine Eitelkeit (sondern Dünkel oder, in den häufigeren Fällen, Das, was `Demuth`, auch `Bescheidenheit` genannt wird)." Oder auch: "ich kann mich aus vielen Gründen über die gute Meinung Anderer freuen, vielleicht weil ich sie ehre und liebe und mich an jeder ihrer Freuden erfreue, vielleicht auch weil ihre gute Meinung den Glauben an meine eigne gute Meinung bei mir unterschreibt und kräftigt, vielleicht weil die gute Meinung Anderer, selbst in Fällen, wo ich sie nicht theile, mir doch nützt oder Nutzen verspricht, – aber das ist Alles nicht Eitelkeit." Der vornehme Mensch muss es sich erst mit Zwang, namentlich mit Hülfe der Historie, vorstellig machen, dass, seit unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen Volksschichten der gemeine Mensch nur Das war, was er galt: – gar nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, mass er auch sich keinen andern Werth bei, als seine Herren ihm beimassen (es ist das eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen). Mag man es als die Folge eines ungeheuren Atavismus begreifen, dass der gewöhnliche Mensch auch jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich wartet und sich dann derselben instinktiv unterwirft: aber durchaus nicht bloss einer "guten" Meinung, sondern auch einer schlechten und unbilligen (man denke zum Beispiel an den grössten Theil der Selbstschätzungen und Selbstunterschätzungen, welche gläubige Frauen ihren Beichtvätern ablernen, und überhaupt der gläubige Christ seiner Kirche ablernt). Thatsächlich wird nun, gemäss dem langsamen Heraufkommen der demokratischen Ordnung der Dinge (und seiner Ursache, der Blutvermischung von Herren und Sklaven), der ursprünglich vornehme und seltne Drang, sich selbst von sich aus einen Werth zuzuschreiben und von sich "gut zu denken", mehr und mehr ermuthigt und ausgebreitet werden: aber er hat jeder Zeit einen älteren, breiteren und gründlicher einverleibten Hang gegen sich, – und im Phänomene der "Eitelkeit" wird dieser ältere Hang Herr über den jüngeren. Der Eitle freut sich über jede gute Meinung, die er über sich hört (ganz abseits von allen Gesichtspunkten ihrer Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von wahr und falsch), ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet: denn er unterwirft sich beiden, er fühlt sich ihnen unterworfen, aus jenem ältesten Instinkte der Unterwerfung, der an ihm ausbricht. – Es ist "der Sklave" im Blute des Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit des Sklaven – und wie viel "Sklave" ist zum Beispiel jetzt noch im Weibe rückständig! welcher zu guten Meinungen über sich zu verführen sucht; es ist ebenfalls der Sklave, der vor diesen Meinungen nachher sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie nicht hervorgerufen hätte. – Und nochmals gesagt: Eitelkeit ist ein Atavismus.

262

Eine Art entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen Kampfe mit wesentlich gleichen ungünstigen Bedingungen. Umgekehrt weiss man aus den Erfahrungen der Züchter, dass Arten, denen eine überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation des Typus neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an monströsen Lastern) sind. Nun sehe man einmal ein aristokratisches Gemeinwesen, etwa eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine, sei es freiwillige, sei es unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der Züchtung an: es sind da Menschen bei einander und auf sich angewiesen, welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens, weil sie sich durchsetzen müssen oder in furchtbarer Weise Gefahr laufen, ausgerottet zu werden. Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener Schutz, unter denen die Variation begünstigt ist; die Art hat sich als Art nöthig, als Etwas, das sich gerade vermöge seiner Härte, Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form überhaupt durchsetzen und dauerhaft machen kann, im beständigen Kampfe mit den Nachbarn oder mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten. Die mannichfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften vornehmlich sie es verdankt, dass sie, allen Göttern und Menschen zum Trotz, noch da ist, dass sie noch immer obgesiegt hat: diese Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet sie gross. Sie thut es mit Härte, ja sie will die Härte; jede aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend, in der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältnisse von Alt und jung, in den Strafgesetzen (welche allein die Abartenden in's Auge fassen): – sie rechnet die Unduldsamkeit selbst unter die Tugenden, unter dem Namen "Gerechtigkeit". Ein Typus mit wenigen, aber sehr starken Zügen, eine Art strenger kriegerischer klug-schweigsamer, geschlossener und verschlossener Menschen (und als solche vom feinsten Gefühle für die Zauber und nuances der Societät) wird auf diese Weise über den Wechsel der Geschlechter hinaus festgestellt; der beständige Kampf mit immer gleichen ungünstigen Bedingungen ist, wie gesagt, die Ursache davon, dass ein Typus fest und hart wird. Endlich aber entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt nach; es giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da. Mit Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht: sie fühlt sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend, – wollte sie fortbestehn, so könnte sie es nur als eine Form des Luxus, als archaisirender Geschmack. Die Variation, sei es als Abartung (in's Höhere, Feinere, Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität, ist plötzlich in der grössten Fülle und Pracht auf dem Schauplatz, der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen Wendepunkten der Geschichte zeigt sich neben einander und oft in einander verwickelt und verstrickt ein herrliches vielfaches urwaldhaftes Heraufwachsen und Emporstreben, eine Art tropisches Tempo im Wetteifer des Wachsthums und ein ungeheures Zugrundegehen und Sich-zu-Grunde-Richten, Dank den wild gegeneinander gewendeten, gleichsam explodirenden Egoismen, welche "um Sonne und Licht" mit einander ringen und keine Grenze, keine Zügelung, keine Schonung mehr aus der bisherigen Moral zu entnehmen wissen. Diese Moral selbst war es, welche die Kraft in's Ungeheure aufgehäuft, die den Bogen auf so bedrohliche Weise gespannt hat – jetzt ist, jetzt wird sie "überlebt". Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das "Individuum" steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu's, lauter neue Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnissvolles Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize und Schleier, die, der jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten Verderbniss zu eigen sind. Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in's Individuum verlegt, in den Nächsten und Freund, auf die Gasse, in's eigne Kind, in's eigne Herz, in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille: was werden jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese Zeit heraufkommen? Sie entdecken, diese scharfen Beobachter und Eckensteher, dass es schnell zum Ende geht, dass Alles um sie verdirbt und verderben macht, dass Nichts bis übermorgen steht, Eine Art Mensch ausgenommen, die unheilbar Mittelmässigen. Die Mittelmässigen allein haben Aussicht, sich fortzusetzen, sich fortzupflanzen, – sie sind die Menschen der Zukunft, die einzig überlebenden; "seid wie sie! werdet mittelmässig!" heisst nunmehr die alleinige Moral, die noch Sinn hat, die noch Ohren findet. – Aber sie ist schwer zu predigen, diese Moral der Mittelmässigkeit! – sie darf es ja niemals eingestehn, was sie ist und was sie will! sie muss von Maass und Würde und Pflicht und Nächstenliebe reden, – sie wird noth haben, die Ironie zu verbergen! -

263

Es giebt einen Instinkt für den Rang, welcher, mehr als Alles, schon das Anzeichen eines hohen Ranges ist; es giebt eine Lust an den Nuancen der Ehrfurcht, die auf vornehme Abkunft und Gewohnheiten rathen lässt. Die Feinheit, Güte und Höhe einer Seele wird gefährlich auf die Probe gestellt, wenn Etwas an ihr vorüber geht, das ersten Ranges ist, aber noch nicht von den Schaudern der Autorität vor zudringlichen Griffen und Plumpheiten gehütet wird: Etwas, das, unabgezeichnet, unentdeckt, versuchend, vielleicht willkürlich verhüllt und verkleidet, wie ein lebendiger Prüfstein seines Weges geht. Zu wessen Aufgabe und Übung es gehört, Seelen auszuforschen, der wird sich in mancherlei Formen gerade dieser Kunst bedienen, um den letzten Werth einer Seele, die unverrückbare eingeborne Rangordnung, zu der sie gehört, festzustellen: er wird sie auf ihren Instinkt der Ehrfurcht hin auf die Probe stellen. Différence engendre haine: die Gemeinheit mancher Natur sprützt plötzlich wie schmutziges Wasser hervor, wenn irgend ein heiliges Gefäss, irgend eine Kostbarkeit aus verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des grossen Schicksals vorübergetragen wird; und andrerseits giebt es ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stillewerden aller Gebärden, woran sich ausspricht, dass eine Seele die Nähe des Verehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im Ganzen bisher die Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christenthume verdankt: solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von Aussen kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahrtausende von Dauer zu gewinnen, welche nöthig sind, sie auszuschöpfen und auszurathen. Es ist Viel erreicht, wenn der grossen Menge (den Flachen und Geschwind-Därmen aller Art) jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, dass sie nicht an Alles rühren dürfe; dass es heilige Erlebnisse giebt, vor denen sie die Schuhe auszuziehn und die unsaubere Hand fern zu halten hat, – es ist beinahe ihre höchste Steigerung zur Menschlichkeit. Umgekehrt wirkt an den sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der "modernen Ideen", vielleicht Nichts so ekelerregend, als ihr Mangel an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von ihnen an Alles gerührt, geleckt, getastet wird; und es ist möglich, dass sich heut im Volke, im niedern Volke, namentlich unter Bauern, immer noch mehr relative Vornehmheit des Geschmacks und Takt der Ehrfurcht vorfindet, als bei der zeitunglesenden Halbwelt des Geistes, den Gebildeten.

 
264

Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine Vorfahren am liebsten und beständigsten gethan haben: ob sie etwa emsige Sparer waren und Zubehör eines Schreibtisches und Geldkastens, bescheiden und bürgerlich in ihren Begierden, bescheiden auch in ihren Tugenden; oder ob sie an's Befehlen von früh bis spät gewöhnt lebten, rauhen Vergnügungen hold und daneben vielleicht noch rauheren Pflichten und Verantwortungen; oder ob sie endlich alte Vorrechte der Geburt und des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz ihrem Glauben – ihrem "Gotte" – zu leben, als die Menschen eines unerbittlichen und zarten Gewissens, welches vor jeder Vermittlung erröthet. Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe habe: was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem der Rasse. Gesetzt, man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein Schluss auf das Kind erlaubt: irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, irgend ein Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei – wie diese Drei zusammen zu allen Zeiten den eigentlichen Pöbel-Typus ausgemacht haben – dergleichen muss auf das Kind so sicher übergehn, wie verderbtes Blut; und mit Hülfe der besten Erziehung und Bildung wird man eben nur erreichen, über eine solche Vererbung zu täuschen. – Und was will heute Erziehung und Bildung Anderes! In unsrem sehr volksthümlichen, will sagen pöbelhaften Zeitalter muss "Erziehung" und "Bildung" wesentlich die Kunst, zu täuschen, sein, – über die Herkunft, den vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen. Ein Erzieher, der heute vor Allem Wahrhaftigkeit predigte und seinen Züchtlingen beständig zuriefe "seid wahr! seid natürlich! gebt euch, wie ihr seid!" – selbst ein solcher tugendhafter und treuherziger Esel würde nach einiger Zeit zu jener furca des Horaz greifen lernen, um naturam expellere: mit welchem Erfolge? "Pöbel" usque recurret. -

265

Auf die Gefahr hin, unschuldige Ohren missvergnügt zu machen, stelle ich hin: der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine jenen unverrückbaren Glauben, dass einem Wesen, wie "wir sind", andre Wesen von Natur unterthan sein müssen und sich ihm zu opfern haben. Die vornehme Seele nimmt diesen Thatbestand ihres Egoismus ohne jedes Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl von Härte Zwang, Willkür darin, vielmehr wie Etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag: – suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen "es ist die Gerechtigkeit selbst". Sie gesteht sich, unter Umständen, die sie anfangs zögern lassen, zu, dass es mit ihr Gleichberechtigte giebt; sobald sie über diese Frage des Rangs im Reinen ist, bewegt sie sich unter diesen Gleichen und Gleichberechtigten mit der gleichen Sicherheit in Scham und zarter Ehrfurcht, welche sie im Verkehre mit sich selbst hat, – gemäss einer eingebornen himmlischen Mechanik, auf welche sich alle Sterne verstehn. Es ist ein Stück ihres Egoismus mehr, diese Feinheit und Selbstbeschränkung im Verkehre mit ihres Gleichen – jeder Stern ist ein solcher Egoist – : sie ehrt sich in ihnen und in den Rechten, welche sie an dieselben abgiebt, sie zweifelt nicht, dass der Austausch von Ehren und Rechten als Wesen alles Verkehrs ebenfalls zum naturgemässen Zustand der Dinge gehört. Die vornehme Seele giebt, wie sie nimmt, aus dem leidenschaftlichen und reizbaren Instinkte der Vergeltung heraus, welcher auf ihrem Grunde liegt. Der Begriff "Gnade" hat inter pares keinen Sinn und Wohlgeruch; es mag eine sublime Art geben, Geschenke von Oben her gleichsam über sich ergehen zu lassen und wie Tropfen durstig aufzutrinken: aber für diese Kunst und Gebärde hat die vornehme Seele kein Geschick. Ihr Egoismus hindert sie hier: sie blickt ungern überhaupt nach "Oben", – sondern entweder vor sich, horizontal und langsam, oder hinab: – sie weiss sich in der Höhe. -

266

"Wahrhaft hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst sucht". -

Goethe an Rath Schlosser.
267

Es giebt ein Sprüchwort bei den Chinesen, das die Mütter schon ihre Kinder lehren: siao-sin "mache dein Herz klein!" Dies ist der eigentliche Grundhang in späten Civilisationen: ich zweifle nicht, dass ein antiker Grieche auch an uns Europäern von Heute zuerst die Selbstverkleinerung herauserkennen würde, – damit allein schon giengen wir ihm "wider den Geschmack". -

268

Was ist zuletzt die Gemeinheit? – Worte sind Tonzeichen für Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, für Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben. Deshalb verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser unter einander, als Zugehörige verschiedener Völker, selbst wenn sie sich der gleichen Sprache bedienen; oder vielmehr, wenn Menschen lange unter ähnlichen Bedingungen (des Klima's, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfnisse, der Arbeit) zusammen gelebt haben, so entsteht daraus Etwas, das "sich versteht", ein Volk. In allen Seelen hat eine gleiche Anzahl oft wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand gewonnen über seltner kommende: auf sie hin versteht man sich, schnell und immer schneller – die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses – ; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man sich, enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit, um so grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth thut, übereinzukommen; sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das ist es, was die Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren können. Noch bei jeder Freundschaft oder Liebschaft macht man diese Probe: Nichts derart hat Dauer, sobald man dahinter kommt, dass Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt, meint, wittert, wünscht, fürchtet, als der Andere. (Die Furcht vor dem "ewigen Missverständniss": das ist jener wohlwollende Genius, der Personen verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Verbindungen abhält, zu denen Sinne und Herz rathen – und nicht irgend ein Schopenhauerischer "Genius der Gattung" – !) Welche Gruppen von Empfindungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden, das Wort ergreifen, den Befehl geben, das entscheidet über die gesammte Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel. Die Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Aufbau seiner Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth sieht. Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander angenähert hat, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich im Ganzen, dass die leichte Mittheilbarkeit der Noth, dass heisst im letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und gemeinen Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche über den Menschen bisher verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in's Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in's Gemeine! – zu kreuzen.

269

Je mehr ein Psycholog – ein geborner, ein unvermeidlicher Psycholog und Seelen-Errather – sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen zukehrt, um so grösser wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken: er hat Härte und Heiterkeit nöthig, mehr als ein andrer Mensch. Die Verderbniss, das Zugrundegehen der höheren Menschen, der fremder gearteten Seelen ist nämlich die Regel: es ist schrecklich, eine solche Regel immer vor Augen zu haben. Die vielfache Marter des Psychologen, der dieses Zugrundegehen entdeckt hat, der diese gesammte innere "Heillosigkeit" des höheren Menschen, dieses ewige "Zu spät!" in jedem Sinne, erst einmal und dann fast immer wieder entdeckt, durch die ganze Geschichte hindurch, – kann vielleicht eines Tages zur Ursache davon werden, dass er mit Erbitterung sich gegen sein eignes Loos wendet und einen Versuch der Selbst-Zerstörung macht, – dass er selbst "verdirbt". Man wird fast bei jedem Psychologen eine verrätherische Vorneigung und Lust am Umgange mit alltäglichen und wohlgeordneten Menschen wahrnehmen: daran verräth sich, dass er immer einer Heilung bedarf, dass er eine Art Flucht und Vergessen braucht, weg von dem, was ihm seine Einblicke und Einschnitte, was ihm sein "Handwerk" auf's Gewissen gelegt hat. Die Furcht vor seinem Gedächtniss ist ihm eigen. Er kommt vor dem Urtheile Anderer leicht zum Verstummen: er hört mit einem unbewegten Gesichte zu, wie dort verehrt, bewundert, geliebt, verklärt wird, wo er gesehen hat, – oder er verbirgt noch sein Verstummen, indem er irgend einer Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt. Vielleicht geht die Paradoxie seiner Lage so weit in's Schauerliche, dass die Menge, die Gebildeten, die Schwärmer gerade dort, wo er das grosse Mitleiden neben der grossen Verachtung gelernt hat, ihrerseits die grosse Verehrung lernen, – die Verehrung für "grosse Männer" und Wunderthiere, um derentwillen man das Vaterland, die Erde, die Würde der Menschheit, sich selber segnet und in Ehren hält, auf welche man die Jugend hinweist, hinerzieht… Und wer weiss, ob sich nicht bisher in allen grossen Fällen eben das Gleiche begab: dass die Menge einen Gott anbetete, – und dass der "Gott" nur ein armes Opferthier war! Der Erfolg war immer der grösste Lügner, und das "Werk" selbst ist ein Erfolg; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist in seine Schöpfungen verkleidet, bis in's Unerkennbare; das "Werk", das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die "grossen Männer", wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein; in der Welt der geschichtlichen Werthe herrscht die Falschmünzerei. Diese grossen Dichter zum Beispiel, diese Byron, Musset, Poe, Leopardi, Kleist, Gogol, – so wie sie nun einmal sind, vielleicht sein müssen: Menschen der Augenblicke, begeistert, sinnlich, kindsköpfisch, im Misstrauen und Vertrauen leichtfertig und plötzlich; mit Seelen, an denen gewöhnlich irgend ein Bruch verhehlt werden soll; oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit ihren Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss, oft in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt, bis sie den Irrlichtern um die Sümpfe herum gleich werden und sich zu Sternen verstellen – das Volk nennt sie dann wohl Idealisten – , oft mit einem langen Ekel kämpfend, mit einem wiederkehrenden Gespenst von Unglauben, der kalt macht und sie zwingt, nach gloria zu schmachten und den "Glauben an sich" aus den Händen berauschter Schmeichler zu fressen: – welche Marter sind diese grossen Künstler und überhaupt die höheren Menschen für Den, der sie einmal errathen hat! Es ist so begreiflich, dass sie gerade vom Weibe – welches hellseherisch ist in der Welt des Leidens und leider auch weit über seine Kräfte hinaus hülf- und rettungssüchtig – so leicht jene Ausbrüche unbegrenzten hingebendsten Mitleids erfahren, welche die Menge, vor Allem die verehrende Menge, nicht versteht und mit neugierigen und selbstgefälligen Deutungen überhäuft. Dieses Mitleiden täuscht sich regelmässig über seine Kraft; das Weib möchte glauben, dass Liebe Alles vermag, – es ist sein eigentlicher Glaube. Ach, der Wissende des Herzens erräth, wie arm, dumm, hülflos, anmaaslich, fehlgreifend, leichter zerstörend als rettend auch die beste tiefste Liebe ist! – Es ist möglich, dass unter der heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der schmerzlichsten Fälle vom Martyrium des Wissens um die Liebe verborgen liegt: das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebt-werden und Nichts ausserdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten; die Geschichte eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die Hölle erfinden musste, um Die dorthin zu schicken, welche ihn nicht lieben wollten, – und der endlich, wissend geworden über menschliche Liebe, einen Gott erfinden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben- können ist, – der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig, so unwissend ist! Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe weiss – , sucht den Tod. – Aber warum solchen schmerzlichen Dingen nachhängen? Gesetzt, dass man es nicht muss. -

 
270

Der geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat – es bestimmt beinahe die Rangordnung, wie tief Menschen leiden können – , seine schaudernde Gewissheit, von der er ganz durchtränkt und gefärbt ist, vermöge seines Leidens mehr zu wissen, als die Klügsten und Weisesten wissen können, in vielen fernen entsetzlichen Welten bekannt und einmal "zu Hause" gewesen zu sein, von denen "ihr nichts wisst!"… dieser geistige schweigende Hochmuth des Leidenden, dieser Stolz des Auserwählten der Erkenntniss, des "Eingeweihten", des beinahe Geopferten findet alle Formen von Verkleidung nöthig, um sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und überhaupt vor Allem, was nicht Seinesgleichen im Schmerz ist, zu schützen. Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt. Eine der feinsten Verkleidungs-Formen ist der Epicureismus und eine gewisse fürderhin zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden leichtfertig nimmt und sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehre setzt. Es giebt "heitere Menschen", welche sich der Heiterkeit bedienen, weil sie um ihretwillen missverstanden werden: – sie wollen missverstanden sein. Es giebt "wissenschaftliche Menschen", welche sich der Wissenschaft bedienen, weil dieselbe einen heiteren Anschein giebt, und weil Wissenschaftlichkeit darauf schliessen lässt, dass der Mensch oberflächlich ist: – sie wollen zu einem falschen Schlusse verführen. Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen sind; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen. – Woraus sich ergiebt, dass es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht "vor der Maske" zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.

271

Was am tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn und Grad der Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige Nützlichkeit, was hilft aller guter Wille für einander: zuletzt bleibt es dabei – sie "können sich nicht riechen!" Der höchste Instinkt der Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen: denn eben das ist Heiligkeit – die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes. Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig aus der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der "Trübsal", in's Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt – : eben so sehr als ein solcher Hang auszeichnet – es ist ein vornehmer Hang – , trennt er auch. – Das Mitleiden des Heiligen ist das Mitleiden mit dem Schmutz des Menschlichen, Allzumenschlichen. Und es giebt Grade und Höhen, wo das Mitleiden selbst von ihm als Verunreinigung, als Schmutz gefühlt wird…

272

Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu Pflichten für Jedermann herabzusetzen; die eigne Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen.

273

Ein Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und Hemmniss – oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthümliche hochgeartete Güte gegen Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf seiner Höhe ist und herrscht. Die Ungeduld und sein Bewusstsein, bis dahin immer zur Komödie verurtheilt zu sein – denn selbst der Krieg ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den Zweck verbirgt – , verdirbt ihm jeden Umgang: diese Art Mensch kennt die Einsamkeit und was sie vom Giftigsten an sich hat.

274

Das Problem der Wartenden. – Es sind Glücksfälle dazu nöthig und vielerlei Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung eines Problems schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt – "zum Ausbruch", wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich nicht, und in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen, in wiefern sie warten, noch weniger aber, dass sie umsonst warten. Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die "Erlaubniss" zum Handeln giebt, – dann, wenn bereits die beste Jugend und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist; und wie Mancher fand, eben als er "aufsprang", mit Schrecken seine Glieder eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer! "Es ist zu spät" – sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer unnütz. – Sollte, im Reiche des Genie's, der "Raffael ohne Hände", das Wort im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein? – Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten: aber die fünfhundert Hände, die es nöthig hat, um den kairós, "die rechte Zeit" – zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen!

275

Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt um so schärfer nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist – und verräth sich selbst damit.

276

Bei aller Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere Seele besser daran, als die vornehmere: die Gefahren der letzteren müssen grösser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer Lebensbedingungen, ungeheuer. – Bei einer Eidechse wächst ein Finger nach, der ihr verloren gieng: nicht so beim Menschen. -

277

– Schlimm genug! Wieder die alte Geschichte! Wenn man sich sein Haus fertig gebaut hat, merkt man, unversehens Etwas dabei gelernt zu haben, das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu bauen – anfieng. Das ewige leidige "Zu spät!" – Die Melancholie alles Fertigen!..