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Jenseits von Gut und Böse

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Achtes Hauptstück:
Völker und Vaterländer

240

Ich hörte, wieder einmal zum ersten Male – Richard Wagner's Ouverture zu den Meistersingern: das ist eine prachtvolle, überladene, schwere und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständniss zwei Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen: – es ehrt die Deutschen, dass sich ein solcher Stolz nicht verrechnete! Was für Säfte und Kräfte, was für Jahreszeiten und Himmelsstriche sind hier nicht gemischt! Das muthet uns bald alterthümlich, bald fremd, herb und überjung an, das ist ebenso willkürlich als pomphaft-herkömmlich, das ist nicht selten schelmisch, noch öfter derb und grob, – das hat Feuer und Muth und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten, welche zu spät reif werden. Das strömt breit und voll: und plötzlich ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die zwischen Ursache und Wirkung aufspringt, ein Druck, der uns träumen macht, beinahe ein Alpdruck – , aber schon breitet und weitet sich wieder der alte Strom von Behagen aus, von vielfältigstem Behagen, von altem und neuem Glück, sehr eingerechnet das Glück des Künstlers an sich selber, dessen er nicht Hehl haben will, sein erstauntes glückliches Mitwissen um die Meisterschaft seiner hier verwendeten Mittel, neuer neuerworbener unausgeprobter Kunstmittel, wie er uns zu verrathen scheint. Alles in Allem keine Schönheit, kein Süden, Nichts von südlicher feiner Helligkeit des Himmels, Nichts von Grazie, kein Tanz, kaum ein Wille zur Logik; eine gewisse Plumpheit sogar, die noch unterstrichen wird, wie als ob der Künstler uns sagen wollte: "sie gehört zu meiner Absicht"; eine schwerfällige Gewandung, etwas Willkürlich-Barbarisches und Feierliches, ein Geflirr von gelehrten und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen; etwas Deutsches, im besten und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches; eine gewisse deutsche Mächtigkeit und Überfülle der Seele, welche keine Furcht hat, sich unter die Raffinements des Verfalls zu verstecken, – die sich dort vielleicht erst am wohlsten fühlt; ein rechtes ächtes Wahrzeichen der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den Deutschen halte: sie sind von Vorgestern und von Übermorgen, – sie haben noch kein Heute.

241

Wir "guten Europäer": auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten – ich gab eben eine Probe davon – , Stunden nationaler Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer alterthümlicher Gefühls-Überschwemmungen. Schwerfälligere Geister, als wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden, in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen, je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre "Stoffe wechseln". Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig hätten, um solche atavistische Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen zum "guten Europäerthum" zurückzukehren. Und indem ich über diese Möglichkeit ausschweife, begegnet mir's, dass ich Ohrenzeuge eines Gesprächs von zwei alten "Patrioten" werde, – sie hörten beide offenbar schlecht und sprachen darum um so lauter. "Der hält und weiss von Philosophie so viel als ein Bauer oder Corpsstudent – sagte der Eine – : der ist noch unschuldig. Aber was liegt heute daran! Es ist das Zeitalter der Massen: die liegen vor allem Massenhaften auf dem Bauche. Und so auch in politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen neuen Thurm von Babel, irgend ein Ungeheuer von Reich und Macht aufthürmt, heisst ihnen `gross`: – was liegt daran, dass wir Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen einstweilen noch nicht vom alten Glauben lassen, es sei allein der grosse Gedanke, der einer That und Sache Grösse giebt. Gesetzt, ein Staatsmann brächte sein Volk in die Lage, fürderhin `grosse Politik` treiben zu müssen, für welche es von Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist: so dass es nöthig hätte, einer neuen zweifelhaften Mittelmässigkeit zu Liebe seine alten und sicheren Tugenden zu opfern, – gesetzt, ein Staatsmann verurtheilte sein Volk zum `Politisiren` überhaupt, während dasselbe bisher Besseres zu thun und zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen vorsichtigen Ekel vor der Unruhe, Leere und lärmenden Zankteufelei der eigentlich politisirenden Völker nicht los wurde: – gesetzt, ein solcher Staatsmann stachle die eingeschlafnen Leidenschaften und Begehrlichkeiten seines Volkes auf, mache ihm aus seiner bisherigen Schüchternheit und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner Ausländerei und heimlichen Unendlichkeit eine Verschuldung, entwerthe ihm seine herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen Geist eng, seinen Geschmack `national`, – wie! ein Staatsmann, der dies Alles thäte, den sein Volk in alle Zukunft hinein, falls es Zukunft hat, abbüssen müsste, ein solcher Staatsmann wäre gross?" "Unzweifelhaft! antwortete ihm der andere alte Patriot heftig: sonst hätte er es nicht gekonnt! Es war toll vielleicht, so etwas zu wollen? Aber vielleicht war alles Grosse im Anfang nur toll!" – "Missbrauch der Worte! schrie sein Unterredner dagegen: – stark! stark! stark und toll! Nicht gross!" – Die alten Männer hatten sich ersichtlich erhitzt, als sie sich dergestalt ihre "Wahrheiten" in's Gesicht schrieen; ich aber, in meinem Glück und Jenseits, erwog, wie bald über den Starken ein Stärkerer Herr werden wird; auch dass es für die geistige Verflachung eines Volkes eine Ausgleichung giebt, nämlich durch die Vertiefung eines anderen. -

242

Nenne man es nun "Civilisation" oder "Vermenschlichung" oder "Fortschritt", worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die demokratische Bewegung Europa's: hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, – der Prozess einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, – also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und – kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt. Dieser Prozess des werdenden Europäers, welcher durch grosse Rückfälle im Tempo verzögert werden kann, aber vielleicht gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst – der jetzt noch wüthende Sturm und Drang des "National-Gefühls" gehört hierher, insgleichen der eben heraufkommende Anarchismus – : dieser Prozess läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven Beförderer und Lobredner, die Apostel der "modernen Ideen", am wenigsten rechnen möchten. Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen sich herausbilden wird – ein nützliches arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch – , sind im höchsten Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehend, eine neue Arbeit beginnt, die Mächtigkeit des Typus gar nicht möglich macht; während der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des täglichen Brodes; während also die Demokratisirung Europa's auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft: wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht jemals bisher gerathen ist, – Dank der Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske. Ich wollte sagen: die Demokratisirung Europa's ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen, – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten.

243

Ich höre mit Vergnügen, dass unsre Sonne in rascher Bewegung gegen das Sternbild des Herkules hin begriffen ist: und ich hoffe, dass der Mensch auf dieser Erde es darin der Sonne gleich thut. Und wir voran, wir guten Europäer! -

244

Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung "tief" zu nennen: jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen Deutschthums nach ganz andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe hat, vielleicht die "Schneidigkeit" vermisst, ist der Zweifel beinahe zeitgemäss und patriotisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht betrogen hat: genug, ob die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas Anderes und Schlimmeres ist – und Etwas, das man, Gott sei Dank, mit Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen wir also den Versuch, über die deutsche Tiefe umzulernen: man hat Nichts dazu nöthig, als ein wenig Vivisektion der deutschen Seele. – Die deutsche Seele ist vor Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt, als wirklich gebaut: das liegt an ihrer Herkunft. Ein Deutscher, der sich erdreisten wollte, zu behaupten "zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" würde sich an der Wahrheit arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen zurückbleiben. Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elementes, als "Volk der Mitte" in jedem Verstande, sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind: – sie entschlüpfen der Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen. Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage "was ist deutsch?" niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine Deutschen gewiss gut genug: "Wir sind erkannt" jubelten sie ihm zu, – aber auch Sand glaubte sie zu kennen. Jean Paul wusste, was er that, als er sich ergrimmt gegen Fichte's verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und Übertreibungen erklärte, – aber es ist wahrscheinlich, dass Goethe anders über die Deutschen dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in Betreff Fichtens Recht gab. Was Goethe eigentlich über die Deutschen gedacht hat? – Aber er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen: – wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu. Gewiss ist, dass es nicht "die Freiheitskriege" waren, die ihn freudiger aufblicken liessen, so wenig als die französische Revolution, – das Ereigniss, um dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem "Mensch" umgedacht hat, war das Erscheinen Napoleon's. Es giebt Worte Goethe's, in denen er, wie vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Härte über Das abspricht, was die Deutschen sich zu ihrem Stolze rechnen: das berühmte deutsche Gemüth definirt er einmal als "Nachsicht mit fremden und eignen Schwächen". Hat er damit Unrecht? – es kennzeichnet die Deutschen, dass man über sie selten völlig Unrecht hat. Die deutsche Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es giebt in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverliesse; ihre Unordnung hat viel vom Reize des Geheimnissvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos. Und wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der Deutsche die Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art fühlt er als "tief". Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er "entwickelt sich". "Entwicklung" ist deshalb der eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer Formeln: – ein regierender Begriff, der, im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen. Die Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln, die ihnen die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik gesetzt hat). "Gutmüthig und tückisch" – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben! Die Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle Götter das Fürchten gelernt haben. Will man die "deutsche Seele" ad oculos demonstrirt, so sehe man nur in den deutschen Geschmack, in deutsche Künste und Sitten hinein: welche bäurische Gleichgültigkeit gegen "Geschmack"! Wie steht da das Edelste und Gemeinste neben einander! Wie unordentlich und reich ist dieser ganze Seelen-Haushalt! Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an Allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit "fertig"; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde "Verdauung". Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker den Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die "Offenheit" und "Biederkeit": wie bequem ist es, offen und bieder zu sein! – Es ist heute vielleicht die gefährlichste und glücklichste Verkleidung, auf die sich der Deutsche versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkommende, die-Karten-Aufdeckende der deutschen Redlichkeit: sie ist seine eigentliche Mephistopheles-Kunst, mit ihr kann er es "noch weit bringen"! Der Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen leeren deutschen Augen – und sofort verwechselt das Ausland ihn mit seinem Schlafrocke! – Ich wollte sagen: mag die "deutsche Tiefe" sein, was sie will, – ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu lachen? – wir thun gut, ihren Anschein und guten Namen auch fürderhin in Ehren zu halten und unsern alten Ruf, als Volk der Tiefe, nicht zu billig gegen preussische "Schneidigkeit" und Berliner Witz und Sand zu veräussern. Es ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt, für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu machen, gelten zu lassen: es könnte sogar – tief sein! Zuletzt: man soll seinem Namen Ehre machen, – man heisst nicht umsonst das "tiusche" Volk, das Täusche-Volk…

 
245

Die "gute alte" Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen: – wie glücklich wir, dass zu uns sein Rokoko noch redet, dass seine "gute Gesellschaft", sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am Chinesischen und Geschnörkelten, seine Höflichkeit des Herzens, sein Verlangen nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein Glaube an den Süden noch an irgend einen Rest in uns appelliren darf! Ach, irgend wann wird es einmal damit vorbei sein! – aber wer darf zweifeln, dass es noch früher mit dem Verstehen und Schmecken Beethoven's vorbei sein wird! – der ja nur der Ausklang eines Stil-Übergangs und Stil-Bruchs war und nicht, wie Mozart, der Ausklang eines grossen Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks. Beethoven ist das Zwischen-Begebniss einer alten mürben Seele, die beständig zerbricht, und einer zukünftigen überjungen Seele, welche beständig kommt; auf seiner Musik liegt jenes Zwielicht von ewigem Verlieren und ewigem ausschweifendem Hoffen, – das selbe Licht, in welchem Europa gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um den Freiheitsbaum der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe angebetet hatte. Aber wie schnell verbleicht jetzt gerade dies Gefühl, wie schwer ist heute schon das Wissen um dies Gefühl, – wie fremd klingt die Sprache jener Rousseau, Schiller, Shelley, Byron an unser Ohr, in denen zusammen das selbe Schicksal Europa's den Weg zum Wort gefunden hat, das in Beethoven zu singen wusste! – Was von deutscher Musik nachher gekommen ist, gehört in die Romantik, das heisst in eine, historisch gerechnet, noch kürzere, noch flüchtigere, noch oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener Übergang Europa's von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der Demokratie war. Weber: aber was ist uns heute Freischütz und Oberon! Oder Marschner's Hans Heiling und Vampyr! Oder selbst noch Wagner's Tannhäuser! Das ist verklungene, wenn auch noch nicht vergessene Musik. Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten, als im Theater und vor der Menge; sie war von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wirklichen Musikern wenig in Betracht kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um seiner leichteren reineren beglückteren Seele willen schnell verehrt und ebenso schnell vergessen wurde: als der schöne Zwischenfall der deutschen Musik. Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer nahm und von Anfang an auch schwer genommen worden ist – es ist der Letzte, der eine Schule gegründet hat – : gilt es heute unter uns nicht als ein Glück, als ein Aufathmen, als eine Befreiung, dass gerade diese Schumann'sche Romantik überwunden ist? Schumann, in die "sächsische Schweiz" seiner Seele flüchtend, halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch geartet, gewiss nicht Beethovenisch! gewiss nicht Byronisch! – seine Manfred-Musik ist ein Missgriff und Missverständniss bis zum Unrechte – , Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig bei Seite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler Zärtling, der in lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art Mädchen und noli me tangere von Anbeginn: dieser Schumann war bereits nur noch ein deutsches Ereigniss in der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maasse, Mozart es gewesen ist, – mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste Gefahr, die Stimme für die Seele Europa's zu verlieren und zu einer blossen Vaterländerei herabzusinken. -

246

– Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein "Buch" genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher liest! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er! Wie viele Deutsche wissen es und fordern es von sich zu wissen, dass Kunst in jedem guten Satze steckt, – Kunst, die errathen sein will, sofern der Satz verstanden sein will! Ein Missverständniss über sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden! Dass man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen? Man hat zuletzt eben "das Ohr nicht dafür": und so werden die stärksten Gegensätze des Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben verschwendet. – Dies waren meine Gedanken, als ich merkte, wie man plump und ahnungslos zwei Meister in der Kunst der Prosa mit einander verwechselte, Einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie von der Decke einer feuchten Höhle – er rechnet auf ihren dumpfen Klang und Wiederklang – und einen Anderen, der seine Sprache wie einen biegsamen Degen handhabt und vom Arme bis zur Zehe hinab das gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt, welche beissen, zischen, schneiden will. -

247

Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun hat, zeigt die Thatsache, dass gerade unsre guten Musiker schlecht schreiben. Der Deutsche liest nicht laut, nicht für's Ohr, sondern bloss mit den Augen: er hat seine Ohren dabei in's Schubfach gelegt. Der antike Mensch las, wenn er las – es geschah selten genug – sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme; man wunderte sich, wenn jemand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter Stimme: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo's, an denen die antike öffentliche Welt ihre Freude hatte. Damals waren die Gesetze des Schrift-Stils die selben, wie die des Rede-Stils; und dessen Gesetze hiengen zum Theil von der erstaunlichen Ausbildung, den raffinirten Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern Theil von der Stärke, Dauer und Macht der antiken Lunge. Eine Periode ist, im Sinne der Alten, vor Allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von Einem Athem zusammengefasst wird. Solche Perioden, wie sie bei Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zwei Mal schwellend und zwei Mal absinkend und Alles innerhalb Eines Athemzugs: das sind Genüsse für antike Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schulung zu schätzen wussten: – wir haben eigentlich kein Recht auf die grosse Periode, wir Modernen, wir Kurzathmigen in jedem Sinne! Diese Alten waren ja insgesammt in der Rede selbst Dilettanten, folglich Kenner, folglich Kritiker, – damit trieben sie ihre Redner zum Äussersten; in gleicher Weise, wie im vorigen Jahrhundert, als alle Italiäner und Italiänerinnen zu singen verstanden, bei ihnen das Gesangs-Virtuosenthum (und damit auch die Kunst der Melodik – ) auf die Höhe kam. In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo eine Art Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen Schwingen regt) eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und ungefähr kunstmässiger Rede: das ist die von der Kanzel herab. Der Prediger allein wusste in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt, inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, läuft, ausläuft, er allein hatte Gewissen in seinen Ohren, oft genug ein böses Gewissen: denn es fehlt nicht an Gründen dafür, dass gerade von einem Deutschen Tüchtigkeit in der Rede selten, fast immer zu spät erreicht wird. Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das Meisterstück ihres grössten Predigers: die Bibel war bisher das beste deutsche Buch. Gegen Luther's Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur "Litteratur" – ein Ding, das nicht in Deutschland gewachsen ist und darum auch nicht in deutsche Herzen hinein wuchs und wächst: wie es die Bibel gethan hat.

 
248

Es giebt zwei Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und gebiert. Und ebenso giebt es unter den genialen Völkern solche, denen das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist – die Griechen zum Beispiel waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen – ; und andre, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen des Lebens werden, – gleich den Juden, den Römern und, in aller Bescheidenheit gefragt, den Deutschen? – Völker gequält und entzückt von unbekannten Fiebern und unwiderstehlich aus sich herausgedrängt, verliebt und lüstern nach fremden Rassen (nach solchen, welche sich "befruchten lassen" – ) und dabei herrschsüchtig wie Alles, was sich voller Zeugekräfte und folglich "von Gottes Gnaden" weiss. Diese zwei Arten des Genie's suchen sich, wie Mann und Weib; aber sie missverstehen auch einander, – wie Mann und Weib.

249

Jedes Volk hat seine eigne Tartüfferie, und heisst sie seine Tugenden.

– Das Beste, was man ist, kennt man nicht, – kann man nicht kennen.

250

Was Europa den Juden verdankt? – Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den grossen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten – und folglich gerade den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil jener Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar.

251

Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden will – , mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke und ihre dick verbundenen Köpfe an – ), und wie sie Alle heissen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum Beispiel über die Juden: man höre. – Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre; und so unbedingt auch die Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei von Seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber, sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit, insbesondere gegen den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck dieses unmässigen Gefühls, – darüber darf man sich nicht täuschen. Dass Deutschland reichlich genug Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Noth hat (und noch auf lange Noth haben wird), um auch nur mit diesem Quantum "Jude" fertig zu werden – so wie der Italiäner, der Franzose, der Engländer fertig geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung – : das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muss. "Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Östreich) zu die Thore zusperren!" also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, so dass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse ausgelöscht werden könnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen), vermöge irgend welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte, – Dank, vor Allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den "modernen Ideen" nicht zu schämen braucht; sie verändern sich, wenn sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist – : nämlich nach dem Grundsatze "so langsam als möglich!" Ein Denker, der die Zukunft Europa's auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte. Das, was heute in Europa "Nation" genannt wird und eigentlich mehr eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich sieht – ), ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein solches aere perennius, wie es die Juden-Art ist: diese "Nationen" sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen Concurrenz und Feindseligkeit sorgfältig in Acht nehmen! Dass die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen – , jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; dass sie nicht darauf hin arbeiten und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem "ewigen Juden" ein Ziel zu setzen – ; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen. Mit aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl; ungefähr so wie der englische Adel es thut. Es liegt auf der Hand, dass am unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschthums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt – ) hinzuthun, hinzuzüchten liesse. Doch hier ziemt es sich, meine heitere Deutschthümelei und Festrede abzubrechen: denn ich rühre bereits an meinen Ernst, an das "europäische Problem", wie ich es verstehe, an die Züchtung einer neuen über Europa, regierenden Kaste. -